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Das Lachen der Yanomami
Das Lachen der Yanomami
Das Lachen der Yanomami
eBook362 Seiten4 Stunden

Das Lachen der Yanomami

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Über dieses E-Book

Als Helene stirbt, steht Andrea vor einem Scherbenhaufen. Sie hat nicht nur ihre Mutter verloren, sondern auch eine enge Freundin. Beim Ausräumen der Wohnung findet Andrea einen geheimnisvollen Brief, der einen Hinweis auf ihren unbekannten Vater enthält. Ihre Freundin Mareike bestärkt sie in ihrem Wunsch, ihren Vater kennenzulernen.
Doch wo ist er und wie soll sie ihn finden?

1993: Samuel unternimmt mit Jean eine Abenteuerreise in den Regenwald Amazoniens. Niemals hätte er erwartet, was ihm dort widerfährt. Er trifft nicht nur auf einen besonderen Menschen, sondern erkennt auch sein wahres Ich und fängt an, an seinem alten Leben zu zweifeln.
Was will er wirklich?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. Juni 2015
ISBN9783738031041
Das Lachen der Yanomami

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    Buchvorschau

    Das Lachen der Yanomami - Nina Hutzfeldt

    Anmerkung

    Samuel Bradford – Deckname, Jayden Garcĭa

    Jean Cassin – Deckname, Tomas Sánchez

    Clark Owen – Pseudonym, George Preston

    1

    Lübeck, 2014

    Stille.

    Eigentlich liebe ich die Ruhe. Sie breitet sich in meinem Körper aus und lässt meine Muskeln entspannen. Doch an diesem Tag machte mir die Stille Angst.

    Ich musste mich zwingen, die letzten Stufen zur Wohnungstür hinaufzusteigen. Auf dem Klingelschild stand immer noch der Name Helene Grewe. Ich nahm den Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Schlüsselloch. Wie damals, als ich noch ein kleines Mädchen war, musste ich mich gegen die Tür lehnen, um sie aufschließen zu können.

    Doch an diesem Tag war alles ganz anders. Mein Herz hatte sich zu einem nassen Schwamm zusammengezogen und meine Knie zitterten, als ich in den Flur trat. Auf der kleinen Kommode stand ein Foto von mir. Es war bei meiner Einschulung von einem hektisch umherlaufenden Schulfotografen aufgenommen worden. Auf dem Bild lächele ich fröhlich. Doch als ich in den Spiegel über der Kommode schaute, blickte ich in ein von Trauer gezeichnetes Gesicht. Meine wilden Locken waren elektrisch aufgeladen und standen in alle Himmelsrichtungen ab. Ich brauchte dringend Schlaf, doch daran war nicht zu denken.

    Mein Weg führte mich in die Küche, wo ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen neben der Arbeitsplatte stand. Der Aschenbecher mit drei Zigarettenstummeln stand noch auf dem Tisch. Ich atmete tief aus, bevor ich eine der Schubladen öffnete, eine Mülltüte abriss und den Aschenbecher leerte. Dabei füllten sich meine Augen mit Tränen. Jetzt begann die schlimme Zeit. Die Wohnung musste ausgeräumt werden, die nächsten Mieter standen schon mit einem Bein in der Tür.

    Als ich die Schränke öffnete und mir einen Überblick verschaffte, riss mich ein Läuten an der Tür aus meinen Gedanken. Ich legte den Müllbeutel auf den Tisch, wischte mir die Tränen weg und öffnete die Tür.

    »Du bist es«, sagte ich und legte mir die Hand aufs Herz.

    »Mit wem hast du denn gerechnet?«, fragte Mareike und sah mich durch ihre runden Brillengläser an.

    »Eigentlich mit niemanden«, gestand ich und atmete tief aus.

    »Okay. Du, ich habe Brot gebacken und einen Dip gemacht. Hast du Hunger?«

    Mareike und ich sind Kolleginnen in der Schule und wurden durch die Arbeit Freundinnen. Als sie eine Wohnung suchte, gab ich ihr den Tipp, sich für die freie Wohnung unter meiner Mutter zu bewerben, die sie auch bekam.

    »Ja, etwas.«

    »Na, also. Komm erst mal mit mir runter, danach helfe ich dir beim Aufräumen. Außerdem siehst du scheiße aus.« Sie strich mir über die Wange.

    Ich presste die Lippen aufeinander, um die Tränen zurückzuhalten. »Können wir nachher essen? Bevor ich mich hinsetze, möchte ich wenigstens die Sachen geordnet haben.«

    Es war ohnehin schon schwer genug.

    »Okay.«

    »Wirklich?«

    »Ja, kein Problem. Soll ich dir jetzt helfen?« Sie zog die Ärmel ihres Pullovers hoch.

    »Das ist lieb.« Wie konnte ich ihr erklären, dass ich jetzt Zeit für mich brauchte, ohne sie zu verletzten?

    »Na, dann lass mich mal rein.« Mareike drängte sich an mir vorbei in den Flur.

    Sprachlos schloss ich die Tür. Ich tat, als würde es mich freuen, dass Mareike mir beim Aussortieren half.

    »Wo soll ich anfangen?« Sie klatschte in die Hände.

    Mareike hatte kein Feingefühl, sonst hätte sie gemerkt, dass es mir wirklich nicht gut ging. Meine Mutter hätte sich im Grab umgedreht, wenn sie gesehen hätte, was Mareike gerade in Begriff war zu tun. Sie war sehr eigen und hasste es, wenn fremde Leute, ihre Sachen anfassten.

    »Am besten in der Küche. Die Schränke müssen ausgeräumt werden. Ich glaube auf dem Dachboden sind noch einige Umzugskartons. Die hole ich nachher.«

    »Das kann ich auch machen. Gib mir mal den Schlüssel.«

    Ich dankte Mareike dafür, dass sie auf den Dachboden ging. So hatte ich für einige Minuten die Wohnung wieder für mich. Auch wenn ich Angst vor der Stille hatte, war ich noch nicht bereit für Mareikes Überschwänglichkeit. Wahrscheinlich meinte sie es gar nicht so, sondern wollte mich nur auf andere Gedanken bringen. Aber ich brauchte Zeit für mich, denn meine engste Verbündete, meine Mutter, war gestorben. Sie hatte die Welt verlassen und würde nie wiederkommen. Ich würde nie mehr ihre Stimme hören, nie mehr mit ihr Lachen können. Es waren die alltäglichen Dinge, die mir fehlen würden. Es würde keine Telefonate mehr geben, in denen ich die Sorgen einer Lehrerin mit ihr teilen oder sie mir von den Gerüchten in den Dörfern erzählen konnte.

    In Gedanken versunken räumte ich im Wohnzimmer die vielen Bücher aus den Regalen. Über die Jahre hatte sich so einiges angesammelt. Ich zuckte zusammen, als die Tür ins Schloss fiel.

    »Ich bin wieder da. Ich fange dann in der Küche an. Ich habe noch die Zeitungen aus den Briefkästen genommen. Damit können wir das Geschirr einpacken.«

    »Du hast sie einfach genommen, ohne zu fragen?« Ich zog die Stirn kraus.

    »Na, warum nicht?«

    »Du hättest sie lieber aus der Papiertonne nehmen sollen. Die sind schließlich schon ausgelesen.«

    »Mm, egal.« Mareike winkte ab und trabte in die Küche.

    Den Nachmittag über ließ Mareike mich die meiste Zeit in Ruhe. Sie hatte genug in der Küche zu tun.

    Das Wohnzimmer war so gut wie fertig, und ich ging ins Schlafzimmer. Mir wurde flau im Magen, als ich den Schrank öffnete und die Unterwäsche meiner Mutter inspizierte. Schnell schloss ich den Schrank wieder und hob mir »Schrank ausräumen« für später auf. Doch aufgeschoben war nicht aufgehoben. So oder so würde ich den Schrank ausräumen müssen.

    Als ich die Matratze vom Bett genommen hatte, entdeckte ich unter dem Lattenrost einen Schuhkarton. Es war ein ganz gewöhnlicher Karton und wäre ich nicht im Flur mit Mareike zusammengestoßen, hätte ich ihn womöglich in den Müll gegeben. Er fiel mir aus der Hand und landete unsanft auf dem Teppich aus Schurwolle.

    »Was zum Teufel ist das?« Mareike bückte sich und hob einen Brief auf.

    »Ich weiß nicht.« Erschöpft rieb ich mir mit der Hand über den Mund. Ich hob den Karton auf und stellte ihn auf den Teppich. »Bitte gib mir den Brief. Ich tue ihn wieder zurück in den Karton.«

    »Aber schau doch mal. Deine Mutter hat einem Clark Owen geschrieben. Der Brief ist zurückgekommen, mit der Aufschrift Absender verzogen.«

    »Ich weiß nicht, wer das ist.« Ich zuckte mit den Achseln.

    Mareike öffnete den Brief.

    »Nein, bitte nicht. Du kannst doch nicht fremde Post öffnen.« Ich wollte nach dem Brief greifen, doch Mareike zog ihre Hand weg.

    »Lass mich doch mal. Da ist ein Foto drin.«

    »Lass mich sehen.« Ich nahm ihr das Foto ab.

    Das Bild zeigte meine Mutter als Teenager. Sie wurde von einem großen Jungen im Arm gehalten, der sicher einige Jahre älter war als sie. Verliebt himmelte sie ihn an.

    »Wer ist das?«, fragte ich und starrte das Foto wie in Trance an.

    »Wahrscheinlich dieser Clark. Komm, wir lesen den Brief, dann wissen wir mehr.« Mareike war ganz aus dem Häuschen und auch ich verdrängte für einige Minuten meine Traurigkeit.

    »Ich weiß nicht.«

    »Ach, nun sei nicht so. Ich mach das.« Mareike faltete den Brief auseinander und fuhr mit der Hand über das edle Papier. »Deine Mutter hatte wirklich eine schöne Schrift.«

    »Ja, Briefe schreiben war ein Hobby von ihr. Sie wollte kein Handy haben, obwohl ich es ihr so oft vorgeschlagen habe. Dann hätte sie SMS schreiben können.« Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als ich an das Gesicht meiner Mutter dachte.

    Liebster Clark, Lübeck, den 01.10.1963

    ich wollte dir zuerst nicht schreiben, doch ist es wichtig, dass du weißt, was ich dir zu sagen habe.

    Ich war sehr enttäuscht von dir, weil du bei meinem Abschiedsfest nicht da warst. Ich hatte mich so auf dich und einen letzten Abend mit dir gefreut.

    Weißt du noch, wie wir im Park gesessen und Kirschen gegessen haben? Die Sonne hatte uns aus dem Haus gelockt, aber die Angst, von deinen Eltern erwischt zu werden, war immer da. Aber etwas Verbotenes zu tun, ist auch aufregend!

    Leider ist unsere Liebelei nicht ohne Folgen geblieben. Ich habe eine Tochter bekommen. Sie heißt Andrea. Ja, sie ist deine Tochter. Ein Kind sollte nicht ohne Vater aufwachsen, also hoffe ich inständig auf eine Nachricht von dir.

    In Liebe,

    Helene

    Mareike gab mir den Brief. »Dein Vater hat endlich einen Namen.«

    »Ja, sieht wohl so aus.« Meine Mutter hat nie ein Wort über meinen Vater verloren. Wenn ich als Kind nachgefragt habe, winkte sie immer lächelnd ab. Nicht mal als Erwachsene hat sie mir etwas über ihn erzählt. Und ich habe schon über die Hälfte meines Lebens gelebt. Ich bin jetzt im einundfünfzigsten Lebensjahr.

    »Schau mal, Andrea. In der Kiste sind noch weitere Sachen. Ein Schlüsselanhänger und ein Ring.«

    »Ein Ring?« Ich faltete den Brief und steckte ihn zusammen mit dem Foto in den Umschlag zurück. Ich fühlte mich schlecht. In den persönlichen Sachen meiner Mutter zu wühlen fühlte sich an, als würde jemand in meinen Kindertagebüchern lesen.

    »Ich denke, wir sollten die Sachen wieder zurücklegen.«

    »Wieso denn?« Mareike blickte mich mit großen Augen an.

    »Das sind die Sachen meiner Mutter.«

    »Ja, sie ist aber gestorben. Mein Beileid, aber es sind jetzt deine Sachen.« Mareike zuckte mit den Achseln. Sie hatte wirklich kein Feingefühl, denn schon wieder stieß sie mir einen Dolch ins Herz. Meine Mutter hatte Mareike gemocht, mir aber immer zur Vorsicht geraten. Wie bei jeder Freundin. Ich schüttelte den Kopf.

    »Warum schüttelst du jetzt den Kopf? Es sind deine Sachen und dadurch, dass deine Mutter gestorben ist, besteht eine geringe Chance, deinen Vater zu finden.«

    »Geh bitte.« Mit dem Zeigefinger wies ich zur Wohnungstür.

    »Was, was ist denn jetzt los mit dir?« Mareike legte das Buch zurück und stand auf.

    »Ich möchte, dass du gehst. Ich brauche Zeit für mich.« Mit der Hand wischte ich mir die feuchten Augen trocken.

    »Du hast doch einen Knall! Ich wollte dir nur helfen.« Mareike verließ die Wohnung. Ich setzte mich von innen gegen die Tür und fing an, bitterlich zu weinen.

    Nachdem alle Tränen vergossen waren und ich mich wieder gefangen hatte, robbte ich zum Karton zurück.

    Es war schwer, die Sachen meiner Mutter zu durchwühlen. Ich atmete noch einmal tief aus. Kein Wunder, dass ich mir die Wohnung bis zum Schluss aufgespart hatte. Die Erinnerungen, die sich mit diesen Räumen verbanden, waren einfach zu stark und zu schmerzhaft. Ich stellte den Karton an die Wand und machte mich wieder an die Arbeit.

    Als sich der Tag dem Ende neigte, die Sonne sich verabschiedete und der Wind allmählich zunahm, suchte ich meine Sachen zusammen und verließ die Wohnung. Morgen würde ich noch einmal mit dem Vermieter Rücksprache halten und einen Termin für die Wohnungsbesichtigung ausmachen. Außerdem hatte ich mir eine Firma aus dem Internet herausgesucht, die Möbel, Hausrat und Bekleidung abholte, um sie für wenig Geld an hilfsbedürftige Menschen zu verkaufen.

    Natürlich hatte ich mir einige Erbstücke herausgesucht und einen kleinen Umzugskarton damit vollgepackt. Diesen aus dem zweiten Stock nach unten zu schleppen war schon ein ganz schönes Stück Arbeit und dann hatte ich noch nicht einmal einen Parkplatz vor der Tür. Ich stellte deshalb den kleinen Karton vorübergehend vor der Wohnungstür ab.

    Als ich den Karton später holte, blieb ich vor Mareikes Wohnungstür stehen. Ich biss mir auf die Unterlippe. Sollte ich mich entschuldigen oder ihr lieber nachher eine WhatsApp schreiben? Kurzentschlossen klopfte ich zweimal und wartete nervös. Wie immer schrie Mareike von innen, dass sie kein D-Zug sei und schlurfte zur Tür. Als sie mich sah, sagte sie nichts, sondern blickte mich nur erwartungsvoll an.

    »Hey«, sagte ich mit schlechtem Gewissen. Ich biss mir wieder auf die Unterlippe. Eine meiner schlechten Angewohnheiten.

    Mareike legte den Kopf schief.

    »Das vorhin, ich wollte das nicht, aber das ist alles noch so frisch, und ich weiß nicht, was ich machen soll.« Ich versuchte, die Tränen herunterzuschlucken, doch sie kamen unaufhörlich.

    »Ach, Schätzchen. Komm.« Mareike breitete ihre Arme aus, und ich ließ mich hineinfallen.

    Eine halbe Stunde später saß ich bei Mareike auf der Couch. Meine Hände um einen Becher heißen Kakao geschlungen und den Karton neben mir.

    »Geht´s dir besser?« Mareike hatte es sich mir gegenüber auf einem Sessel bequem gemacht.

    »Ja, danke. Ich bin im Moment voll neben der Spur.«

    »Dann lass dich doch noch eine Woche krankschreiben. Du siehst auch nicht gut aus. Außerdem waren die Zeugniskonferenzen doch schon.« Mareike rückte ihre Brille auf der Nase zurecht.

    »Ich weiß nicht. Ich habe noch so viel vorzubereiten. Sicherlich wurde schon über mich geredet.«

    »Ich glaube, du hast Halluzinationen. Das stimmt nicht. Sie haben nach dir gefragt, aber das Lehrerkollegium hat Verständnis für deine Situation und wünscht dir alles Gute. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«

    »Ja, aber ich denke, dass mich die Schule etwas ablenkt. Ich muss für die Abschlussfahrt im August noch Vorbereitungen treffen. Eltern anrufen, mit dem Hotel in Northumberland telefonieren.«

    »Ach ja, du fährst ja mit deiner Klasse nach England.« Mareike lächelte und streckte die Arme nach dem Karton aus. »Darf ich?«

    »Ja.«

    Ich beobachtete, wie Mareike den Brief für Clark Owen aus dem Karton nahm und mir die Vorderseite zeigte.

    »Ja? Was ist denn?« Ich zog unwissend die Augenbrauen hoch.

    »Na, lies mal die Adresse.« Sie wedelte mit dem Umschlag.

    »Halt doch still, so kann ich gar nichts lesen.« Ich griff nach dem Kuvert.

    »Clark Owen, 21 A Soho Square, London W1D 4NR, United Kingdom«, las ich. »Und?« Was wollte sie von mir?

    »Na ja, dein Vater wohnt in England.« Erneute wedelte sie mit dem Umschlag herum.

    »Ja, das habe ich verstanden.« Langsam kam ich mir ein bisschen kindisch vor. Natürlich wusste ich, was Mareike mir damit sagen wollte.

    »Du könntest ihn im August besuchen.«

    »Natürlich. Er freut sich sicher sehr, mich zu sehen, wenn ich zwanzig Kinder im Schlepptau habe.« Ich musste schmunzeln. Langsam entspannte ich mich ein wenig.

    »Mm, er soll dich doch so kennenlernen, wie du bist.« Mareike legte den Brief auf den Tisch, der zwischen Couch und Sessel stand und setzte sich bequem in den Schneidersitz.

    »Nein, ich denke er möchte gar nichts von mir wissen. Außerdem ist der Brief zurückgekommen. Sicher ist dieser Clark weggezogen.«

    »Stimmt. Aber was ist, wenn nicht. Vielleicht wollte er es einfach nur nicht wahrhaben.« Mareike malte sich wieder eine Geschichte aus. Eigentlich komisch, dass sie Mathematik und Sport unterrichtete. Diese Schulfächer fielen gar nicht in ihr Gebiet. Wahrscheinlich erfand sie deshalb so gerne spannende Geschichten.

    »Mm, ich weiß nicht. Ich frage mich, wie sie ihn kennengelernt hat. Meine Mutter war noch nie in England.«

    »Vielleicht weißt du nur noch nichts davon. Stille Wasser sind tief und deine Mutter war ein stilles Wasser.« Mareike presste die Lippen zusammen.

    Ich spürte einen kurzen Stich in meiner Brust, als sie das Wort »war« benutzte.

    »Ich weiß nicht. Das hätte meine Mutter mir sicher erzählt.«

    »Das sehe ich anders. Irgendwas ist da im Busch. Wir müssen nur herausfinden, was es ist.«

    Ein wenig neugierig hatte mich die Vergangenheit meiner Mutter schon gemacht. Sehr bald würden die Ferien beginnen und ich würde sechs Wochen Zeit haben. Warum sollte ich also nicht nach England fliegen? Ich könnte in dem Hotel wohnen, das ich mit meiner Klasse für den August gebucht hatte, und eine Spritztour nach London wäre auch noch drin.

    »Was denkst du gerade?«, fragte Mareike.

    »Ich überlege, ob ich nicht doch nach England fliege. Ich könnte in das Hotel einchecken, in dem ich mit meiner Klasse wohnen werde. So könnte ich es vorab testen.« Ich schmunzelte. »Und natürlich würde ich die Adresse aufsuchen.«

    »Wow, das hört sich gut an. Ich glaube, du brauchst die Zeit auch der Trauer wegen. Einfach raus aus dem öden Alltag. Das tut dir sicher gut.«

    2

    Irgendwo über dem Atlantik, 1993

    Der Wind peitschte gegen das Flugzeug.

    Als die Stewardess die Passagiere bat, sich anzuschnallen, krallte Samuel sich in seinen Sitz. Er war noch nie geflogen. Nur weil er sein Versprechen seinem Vater gegenüber nicht brechen wollte, war er in das Flugzeug eingestiegen.

    Neben dem unruhigen Samuel döste Jean Cassin friedlich im Sitz. Er war müde vom langen Flug und wollte fit sein, wenn die Maschine in Boa Vista landete.

    »Jean, Jean, bist du wach?«, fragte Samuel.

    »Mm«, brummte dieser.

    »Wie lange dauert es noch?«

    »Was denn?«, fragte Jean mit seinem starken französischen Akzent.

    »Der Flug. Ich glaube, ich bin für das Fliegen einfach nicht gemacht.«

    Jean öffnete die Augen und drehte sich zu Samuel. »Dein Vater hatte Recht.«

    Samuel zog die Stirn in Falten. »Womit?«

    »Damit, dass du ein Weichei bist.« Jean lächelte und ließ sich wieder in seinen Sitz sinken.

    Samuel atmete tief aus. Warum hatte sein Vater so etwas über ihn gedacht? Vielleicht, weil Samuel lieber gemalt und mit Puppen gespielt hatte. Aber das machte ihn noch lange nicht zum Weichei.

    Samuel blickte aus dem runden Fenster hinaus auf die weiße Wolkendecke, die sich wie Watte an das Flugzeug schmiegte. Wann würden sie endlich landen? Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er musste einfach zur Ruhe kommen, dann würde die Angst sicher bald verschwinden.

    Jean öffnete die Augen und musterte Samuel. Er dachte darüber nach, dass es nun Samuel war, mit dem er nach Boa Vista flog. Eigentlich hatte Jean den Ausflug mit Samuels Vater, Joseph, machen wollen. Jean hatte Joseph im Zweiten Weltkrieg kennengelernt, doch sein Freund hatte diesen nicht überlebt.

    Das Flugzeug begann zu sinken und schon bald konnte Jean aus dem Fenster Land erkennen. Vorsichtig klopfte er Samuel auf die Schulter. »Hey, aufwachen. Wir sind gleich da«, flüsterte er.

    »Mm.« Samuel streckte die Arme in die Luft und gähnte. »Wie lange habe ich geschlafen?« Er rieb sich die Augen.

    »Eine ganze Weile. Du, ich hab nochmal über das nachgedacht, was ich gesagt habe. Du bist kein Weichei. Es ist nur so, dass dein Vater...«

    »Ist schon gut.« Samuel hob die Hand. »Ich weiß, dass mein Vater nach außen manchmal ziemlich herzlos wirkte, aber er hatte ein Herz.«

    »Du bist sein einziger Sohn und er war stolz auf dich.« Jean starrte auf seine Füße. »Das waren seine letzten Worte.«

    Beide schwiegen, bis das Flugzeug den Boden erreichte.

    Boa Vista liegt im südlichen Teil des Berglandes Guayana. Es ist die Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Roraima. Die Stadt liegt am rechten Ufer des Rio Branco. Das wusste Samuel, als er aus dem Flugzeug stieg und die Hand an die Stirn legte. Die Sonne stand hoch am Himmel und verstreute ihre heißen Strahlen in alle Himmelsrichtungen.

    Samuel stellte schnell fest, dass hier alles etwas lockerer zuging als in England. Von der in England unvermeidlichen Hektik, war hier nichts zu spüren. Am Laufband standen sie gemütlich an, sicherlich hätten sie ein bis zwei Kaffee trinken können, bis ihr Gepäck zu sehen war.

    »Ich hätte nicht gedacht, dass es hier so heiß ist«, sagte Samuel, als er seinen Rucksack schulterte.

    »Das hatte ich dir gesagt.«

    »Du hast etwas von einer anderen Wärme gesagt. Puh!«

    »Komm, wir rufen ein Taxi und lassen uns in die Innenstadt fahren. Dort treffen wir uns mit den anderen Männern der Gruppe.«

    Samuel war bei diesem Gedanken gar nicht wohl. In einem fremden Land nach Gold zu graben, schien ihm verkehrt. Aber Jean hatte alles bis aufs Kleinste geplant, was ihn ein wenig ruhiger stimmte. Er vermisste seine Frau Molly und die beiden Kinder Skye und Faith. Auch wenn es in seiner Ehe mehr schlechte als gute Zeiten gab, war seine Familie sein ganzer Stolz.

    Jean hingegen hatte keine Familie mehr. Seine nahen Angehörigen waren im Zweiten Weltkrieg umgekommen. Zu dieser Zeit hatten sich Joseph und Jean kennengelernt. Sie waren schnell Freunde geworden und hatten Pläne für die Zukunft geschmiedet, wenn sie sich in brenzligen Situationen befanden. Einer dieser Pläne war die Goldsuche hier in Südamerika.

    »Danke, dass du mit mir zusammen hier bist. Es bedeutet mir sehr viel«, sagte Jean, als auf das Taxi warteten.

    »Du musst dich nicht bedanken. Das tue ich gerne.«

    Ein silberner Opel Meriva parkte in der Haltezone und hupte.

    »Wir kommen«, rief Jean auf Französisch und hob dabei die Hand.

    Der Taxifahrer war so klein, dass er gerade über das Lenkrad blicken konnte. Samuel lächelte.

    Die Autofahrt war rasant und schnell zu Ende. Gut für das Portemonnaie, dachte Samuel und tastete nach seiner Gesäßtasche. »Hier. Ich gebe dir etwas dazu.« Er zog einen Schein Cruzeiro aus der Geldbörse und reichte ihn Jean.

    Eigentlich wollte dieser das Geld nicht annehmen, aber Samuel bestand darauf.

    Der Taxifahrer faltete seine Hände zum Gebet und beugte sich nach vorne. Jean hatte ihm viel mehr gegeben, als er musste.

    »Komm, los jetzt. Wir treffen uns in einem Pub hier irgendwo um die Ecke.« Jean holte seine Karte aus der Hosentasche und faltete sie auseinander. Mit dem Finger fuhr er die Strecke nach, die das Taxi vom Flughafen zurückgelegt hatte.

    »Na dann komm. Worauf wartest du?« Samuel schulterte seinen Rucksack, den er aus dem Kofferraum geholt hatte und war im Begriff loszugehen.

    »Okay, dann los.« Jean zögerte, irgendetwas bedrückte ihn.

    Die beiden Männer stiegen drei Stufen hinab und standen dann in einer zwielichtigen Kneipe. Jean nickte dem Wirt zu, als sie an den Tresen gingen. Jean sagte etwas auf Französisch und dann folgten sie dem Wirt bis zu einer Hintertür. Jean und Samuel traten in einen Raum, der nur von nackten Glühbirnen beleuchtet wurde.

    »Hallo«, sagte Samuel.

    »Bonjour.« Jean nickte den Männern am Tisch zu.

    Dieser Raum wurde sonst sicher für illegale Pokerspiele genutzt, vermutete Samuel.

    Acht gut gebaute Männer saßen am Tisch und blickten die beiden Frischlinge an.

    »Ihr müsst Jean und Samuel sein?«, fragte der Größte von ihnen in schlechtem Englisch.

    »Ja, das ist Samuel und ich bin Jean.«

    »Gut, dann kommt. Setzt euch.«

    »Ich bin Diego. Mit den anderen könnt ihr euch nachher bekannt machen.« Er zeigte in die Runde. »Seid ihr durstig? Ich lasse euch etwas zu trinken bringen.«

    »Ja, gerne.« Samuel legte seine Hände auf den Tisch. Sein dunkelbraunes Haar klebte ihm auf der Stirn.

    Diego hob die Hand und einer der Männer stand auf. »Kommen wir zum geschäftlichen Teil.«

    Auf dem Tisch lagen mehrere Pässe, was Samuel stutzig machte. Er blickte Jean an, der ihm auswich.

    »Hier sind eure Pässe. Die Fotos sehen euch ziemlich ähnlich. Benutzt sie nur im äußersten Notfall. Einen Hubschrauber haben wir organisiert, und wenn wir erst einmal die Funai passiert haben, kann uns nichts mehr passieren.«

    Samuel nahm einen der Pässe entgegen. »Jayden Garcĭa«, murmelte er. Eigentlich wollte er fragen, warum er einen neuen Pass brauchte, aber er traute sich nicht. Die Männer waren ihm unheimlich.

    Die Getränke wurden auf den Tisch gestellt. Es gab Bier, was Samuel überhaupt nicht mochte. Vielleicht war er doch ein wenig verweichlicht, dachte er, während er an seinem Glas nippte.

    »Morgen früh werden wir aufbrechen.«

    »Dann sollten wir uns gleich hinlegen, damit der Jetlag uns nicht umhaut«, scherzte Samuel, doch niemand lachte.

    Über der Kneipe befand sich eine kleine Pension. Samuel und Jean hatten ein Zimmer mit zwei Betten. Samuel stellte seinen Koffer neben einem der Betten ab und setzte sich. Vorsichtig strich er sich die Schuhe ab und krabbelte gleich unter die Bettdecke. Am liebsten hätte er jetzt mit Molly gesprochen, aber in England war es jetzt Nacht und Molly schlief sicher schon.

    Als Jean aus dem Gemeinschaftsbad zurück ins Zimmer kam, sah er Samuel nicht an. »Hast du nicht ein paar Fragen?«, sagte er.

    »Vielleicht solltest du mir erzählen, was hier vor sich geht.« Samuel drehte sich zu Jean. Natürlich schwirrten ihm gerade tausend Fragen durch den Kopf.

    »Früher oder später würdest du es ja sowieso erfahren. Also, das Goldsuchen ist in diesem Gebiet verboten. Deshalb haben wir die gefälschten Pässe bekommen.«

    »Wie interessant. Schön, dass mir das auch mal jemand erzählt.«

    »Hätte ich dir das vor dem Flug erzählt, wärst du doch gar nicht mitgekommen.«

    »Stimmt, da hast du recht. Warum sollte ich etwas tun, wenn es verboten ist?«

    »Dein Vater liebte den Nervenkitzel. Ich dachte, er hätte etwas davon an dich weitergegeben.«

    »Wahrscheinlich nicht«, grummelte Samuel. Er war enttäuscht von Jean. Warum hatte er ihn nicht eingeweiht?

    Die Stille hing wie ein durchsichtiger Vorhang zwischen ihnen.

    »Ich denke, du wirst dann morgen wieder zurückfliegen?«, setzte Jean irgendwann an.

    »Ich weiß nicht.« Samuel hatte seine Hände ineinander verschränkt und ließ seine Daumen in der Luft kreisen. Eine innere Stimme drang an sein Ohr. Sie sagte ihm, dass er Jean nicht enttäuschen durfte. Es musste die Stimme seines Vaters sein.

    »Okay, ich bleibe. Aber unter einer Bedingung.« Samuel wandte sich Jean zu.

    »Und die wäre?«

    »Ab jetzt möchte ich in jede Kleinigkeit eingeweiht werden.«

    Jean schluckte.

    Samuel ahnte, dass er noch mehr zu verbergen hatte.

    »Sicher«, sagte Jean schließlich zögernd.

    »Gut. Sag mal, können wir Diego vertrauen?

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