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Im Schatten der Lady Cumberland
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eBook334 Seiten4 Stunden

Im Schatten der Lady Cumberland

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Über dieses E-Book

Die Friseurin Lara bekommt von einem Unbekannten Blumen und Tickets nach London geschenkt.
Der Kunde entpuppt sich als der junge Lord Daniel Cumberland von Somerset. Wird Lara die Reise in die unbekannte Welt antreten oder ist ihre Angst zu groß?
Die 14-jährige Emma und ihr Zwillingsbruder Henry kommen viele Jahre zuvor aus Amerika mit dem Schiff nach England. Im Herrenhaus von Somerset bekommen beide eine Anstellung. Doch schon bald spürt Emma, dass eine ungeheure Spannung unter den Angestellten herrscht, und schon bald erfährt sie mehr über die Geheimnisse des herrschaftlichen Anwesens.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum12. Juni 2014
ISBN9783847692942
Im Schatten der Lady Cumberland

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    Buchvorschau

    Im Schatten der Lady Cumberland - Nina Hutzfeldt

    Prolog

    South Dakota, 1941

    Die Sonne stand hoch am Himmel. Nicht die kleinste Wolke wollte sich ihr nähern, kein Tropfen Regen half den Menschen durch diesen öden, trockenen Sommer.

    Die Straße war brütend heiß, kein Auto war zu sehen. Niemand nahm bei diesem Wetter

    den langen Weg in die Stadt auf sich. Doch eine junge Frau wagte sich hinaus. Sie trug eine enge Bluse, einen knielangen Rock und einen Strohhut, wie ihn die Vogelscheuchen auf den Feldern immer auf dem Kopf hatten, der ihren Kopf vor den Sonnenstrahlen schützte. Sie hatte gerade die Schule beendet und wollte sich in der Stadt Arbeit suchen. Am liebsten als Sekretärin. Sie konnte gut mit Tinte umgehen und hatte eine schöne Schrift. Ihre Eltern brauchten dringend das Geld. Der Vater war arbeitslos und trank den ganzen Tag, während die Mutter sich um die jüngeren Geschwister kümmerte. Die Frau war schon eine ganze Weile unterwegs, als sie hinter sich ein Auto hörte. Der Motor knatterte und dann quietschten die Reifen. Sie drehte sich nicht um. Wahrscheinlich war es Willy mit seinen Kumpanen, dachte sie und ging ein wenig schneller. Willy war der Enkel des Dorfältesten und allein aus diesem Grund der Meinung, der Rest der Dorfbewohner müsse ihm zu Füßen liegen. Bei dem Gedanken daran schüttelte die junge Frau sich.

    Sie zog sich den Hut tiefer in die Stirn und drehte den Kopf etwas, als das Auto an ihr vorbeifuhr. Eine leichte Windböe ließ ihr schwarzes Haar von den Schultern auffliegen. Gleich würde sie dort sein. Die junge Frau konnte die Dächer der Stadt schon sehen, deren Häuser noch überwiegend aus Holz gebaut waren. Am Eingang stand Anthony mit seinem Auto. Einmal in der Woche brachte er Lebensmittel ins Reservat. Er war groß, hatte wunderschöne Augen und ein smartes Lächeln. Die junge Frau konnte ihn gut leiden und wenn sie an ihn dachte, huschte immer ein Lächeln über ihre Lippen. Vorsichtig ging sie dicht an der Häuserwand entlang, um vor der Sonne geschützt zu sein. Sie wollte so schnell wie möglich beim Postamt sein. Vielleicht gab es dort eine Stelle für sie. Die zweite Anlaufstelle wäre dann die Zeitung. Sie schrieb gerne Geschichten, besonders ihre eigenen. Sie hatte viel Phantasie und war entschlossen, daraus etwas zu machen.

    Die Tür war angelehnt, bei jeder Berührung jaulten die Scharniere. Im Postamt war eine Frau gerade dabei, den Boden zu schrubben. Am Schalter stand eine mittelalte Frau mit Brille und strenger Kurzhaarfrisur.

    »Guten Tag. Ich heiße Maria und möchte mich für die freie Stelle bewerben.«

    Die Frau schaute sie über ihre Brille hinweg an. Maria nahm ihren Hut ab und schüttelte ihr Haar.

    »Setzen Sie sich dort drüben hin, zu den anderen Bewerberinnen.« Sie deutete mit dem Kopf auf die Stühle an der Wand. Alle waren schon besetzt. Deswegen stellte Maria sich neben die anderen Frauen und blickte zu Boden. Die übrigen Bewerberinnen schauten der Putzfrau beim Reinigen des Bodens zu. Maria war sichtlich nervös und knetete ihren Strohhut. Sie konnte die Blicke der anderen auf der Haut spüren. Im Kopf hörte sie fast ihre Gedanken: »Was will die denn hier? Die wird doch nie einen Beruf finden. Solches Pack sollte man einsperren.« Maria fühlte sich unbehaglich, obwohl niemand etwas gesagt hatte. Die Blicke hatten ausgereicht. Marias größter Schwachpunkt war das Selbstbewusstsein.

    »Bist du auch wegen des Bewerbungsgespräches hier?«, fragte eins der Mädchen. Sie hatte blondes Haar und bleiche Haut. »Verstehst du unsere Sprache nicht?« Sie zog die Augenbrauen hoch und lächelte.

    »Doch«, murmelte Maria. Sie war die einzige in der Familie, die die Sprache der Weißen perfekt beherrschte. »Ich... Ich verstehe eure Sprache.« Eure Sprache? Warum sagte sie so etwas. Es war schließlich auch die Sprache der Ihren. Columbus war schließlich nach Amerika gekommen und hatte sein Volk hier angesiedelt. Marias Volk war schon lange Zeit vor ihnen hier gewesen. Am liebsten hätte sie es laut gesagt. Doch dann kamen die Erinnerungen. Was für ein Leben führte sie?

    »Ich glaube, du bist hier falsch. Gibt es nicht im Reservat eine Stelle für dich? Wer kommt denn schon und gibt Post ab, wenn ein Indianermädchen am Schalter sitzt«, sagte eine andere Bewerberin. Sie fing an zu lachen und die anderen Frauen stimmten mit ein. Maria hielt es nicht mehr aus und lief schnell zur Tür. Dabei hatte sie die Frau, die den Boden säuberte, völlig vergessen. Kurz bevor sie die Tür erreichte, rutschte sie aus, fiel hin und lag wie ein Käfer auf dem Rücken. Das schallende Gelächter übertönte die Türglocke. Maria kämpfte mit den Tränen. Sie tastete nach ihrem Hut.

    »Darf ich behilflich sein?«, fragte eine fremde Stimme. Maria wurde eine Hand gereicht, die sie dankend annahm. »Komm.« Der Fremde, der sich als Anthony entpuppte, hielt Maria die Tür auf und trat mit ihr auf die Straße. Die wenigen Menschen, die sich bei diesem Wetter nach draußen gewagt hatten, hielten ihre Trinkflaschen fest am Körper.

    »Mach dir nichts draus. Die doofen Hühner sind doch nur neidisch, dass du so wunderschöne Haut und ein nettes Lächeln hast.« Er legte seine Hand unter ihr Kinn, um ihr in die Augen sehen zu können. Maria spürte, wie ihr das Blut in die Wangen lief. Sie wollte sich abwenden, doch Anthony ließ sie nicht los.

    »Ja, vielleicht«, sagte sie zögerlich.

    »Du wirst schon einen richtigen Beruf finden. Ich weiß es.«

    »Ja, vielleicht.«

    »Kannst du auch etwas anderes sagen?« Anthony lächelte und kratzte sich am Hinterkopf.

    »Eigentlich schon.«

    »Schon besser. Pass auf, ich mach dir einen Vorschlag. Ich fahre gleich ins Reservat. Dort soll ich ein paar Geschenke abgeben. Irgendjemand hat wohl Geld bekommen und kann euch gut leiden.«

    Maria schluckte. Gut leiden? Das hörte sich an, als wäre ihr Volk ein Virus. »Jemand kann uns gut leiden?«

    »Nein, so meinte ich es nicht. Es gibt jemanden, der euch gerne hat und euch etwas Gutes tun möchte. Er hat etwas Geld für neue Schuluniformen, Schuhe und Röcke investiert.«

    »Wie nett von ihm.«

    »Ja, das ist es wirklich. So, nun müssen wir uns auf den Weg machen. Mein Vater hat mir das Auto nur für den Nachmittag gegeben.« Er klatschte in die Hände und ging zu einem dunkelgrünen Pickup. Maria blickte sich um, setzte ihren Hut auf und folgte Anthony ohne zu zögern. Die Ladefläche war voller Kisten. Als Maria sich setzte, ließ Anthony den Motor an. Das Auto fuhr langsam die Straße hinauf zum Reservat.

    »Wie heißt du eigentlich? Ich habe dich schon ein paar Mal im Dorf gesehen, aber mich nie getraut dich anzusprechen.« Er berührte kurz ihren Arm. Seine Hand war kühl.

    »Ich heiße Maria.«

    »Nein. Ich meine den Namen der Lakota. Wie wirst du dort genannt?« Anthony blickte kurz zu ihr hinüber.

    »Ich heiße Ehawee. Das bedeutet lachendes Mädchen«, fügte Maria hinzu, als Anthony die Stirn runzelte. Als sie an eine Weggabelung kamen, bog Anthony links ab, obwohl es zum Reservat geradeaus gegangen wäre.

    »Wo fährst du hin? Ins Reservat geht es doch dort.« Maria zeigte in Richtung des Reservates.

    »Nur ein kleiner Umweg zu einem Freund. Ich muss ihm noch etwas bringen. Ich habe eine Wette verloren und schulde ihm etwas.« Der Pickup fuhr weiter.

    »Okay.« Maria wollte noch fragen was, er ihm schuldete, aber sie traute sich nicht und blieb ruhig sitzen.

    Eine ganze halbe Stunde später hielt Anthony den Wagen auf einem Hof an. »Wir sind da. Komm.« Er stieg aus und wartete bis Maria ebenfalls ausgestiegen war. Sie fuhr sich über die Stirn. »Wo ist denn dein Freund?«

    »In der Scheune. Nun komm schon. Er ist wirklich sehr nett.« Anthony öffnete das Scheunentor und schob Maria hinein.

    »Ich weiß nicht. Ich glaube, ich warte lieber draußen.«

    »Nun komm schon. Hab dich nicht so.« Anthony blickte sich kurz um, bevor er die Tür von innen ins Schloss und den Schlüssel in die Hosentasche gleiten ließ.

    Kapitel 1

    Flensburg, April 2012

    Die kühle Morgenluft kroch durch die Ritzen der Fenster und ließ Lara noch vor dem Weckerklingeln aufwachen. Sie zog sich die Bettdecke dicht um ihren Körper. Eigentlich wollte ihr Vermieter sich längst um die Renovierung des Hauses gekümmert haben, aber aus irgendeinem Grund schob er sie immer wieder auf. Lara hatte dafür kein Verständnis, schließlich wollte er die Miete ja auch immer pünktlich auf dem Konto haben. Am liebsten würde sie heute im Bett bleiben oder sich auf die Couch lümmeln und fernsehen. Doch die Arbeit rief, und ihre Chefin würde es nicht gutheißen, wenn sie zu spät käme – und die Kunden schon gar nicht. Deswegen schlug Lara kurzerhand die Decke weg, schlüpfte in ihre Hausschuhe, die sie im Ein-Euro-Shop günstig geschossen hatte, und trottete vom Schlafzimmer hinüber ins Bad. Das Badezimmer war so klein, dass sie über die Toilette steigen musste, um in die Dusche zu gelangen. Total blöde Konstruktion. Doch etwas Besseres konnte sie sich im Moment einfach nicht leisten. Das Gehalt einer gerade ausgelernten Friseurin ist nicht üppig genug, um in eine Stadtwohnung mit Blick auf die Förde ziehen zu können.

    Lara knotete ihr langes Haar auf dem Kopf zusammen und ließ die Duschbrause über ihren Körper gleiten. Das Wasser war morgens auch ungenießbar, denn von den Bewohnern aller zwölf Mietparteien war Lara die einzige, die so früh aufstand und duschte, und das Wasser brauchte ewig, um warm zu werden. Innerlich sah Lara die Euros nur so von ihrem Konto fliegen. »Oh mein Gott, wann tut der Bastard endlich was?«, fluchte sie und rubbelte sich nach der Dusche mit dem viel zu harten Handtuch über den Rücken. Aus dem Spiegel im Bad blickten sie zwei müde Augen an. »Guten Morgen, Lara. Wie geht es dir?« Sie kniff sich in die Wangen. In manchen Nächten war die Kälte so beißend, dass Lara kaum Schlaf fand. Der doofe Vermieter musste doch endlich mal etwas unternehmen. Die Idee einer Unterschriftensammlung für die Renovierung ging ihr im Kopf herum. Doch etwas hielt sie davon ab, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Was wäre, wenn sie ihren Vermieter wütend machte und er ihr vielleicht mit Kündigung drohte? Das könnte sie sicher nicht gebrauchen. Sie würde auf der Straße sitzen. Ihre nächste Adresse wäre dann wohl: »Unter der Brücke 3«.

    Als sie sich ihr Top über den Kopf zog, wäre es beinahe an der Kette hängengeblieben. Es war die Kette, die Marcel ihr zu ihrem zweijährigen Jahrestag geschenkt hatte. Es war damals Liebe auf den ersten Blick gewesen. Lara hatte mit ihrer Arbeitskollegin Christin und deren großer Schwester Janet in der Brauerei am Wasser gesessen und ein Feierabendbier getrunken, als Marcel mit seinen Kumpels an ihnen vorbeiging. Sein schiefes Lächeln fiel ihr sofort auf und beschleunigte ihren Puls. Fast, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen. Als die Kellnerin mit einem weiteren Bier an den Tisch kam und ihr erklärte, dass es von dem jungen Mann drei Tische hinter ihr kam, ging ihr das Herz auf. Lara hatte immer geglaubt, dass es so etwas Romantisches nur im Kino gab. Und jetzt geschah es wirklich

    , vor ihren Augen. Ein Bier, das ihr ein junger Mann spendierte. Auf dem Untersetzer stand eine Handynummer. Natürlich schrieb Lara ihm sofort eine SMS, obwohl Christin und Janet ihr davon abrieten. Seine Kumpels verschwanden und auch Christin und Janet machten sich auf den Heimweg, schließlich mussten sie morgen wieder arbeiten. Aber Lara wäre jetzt noch nicht in der Lage gewesen zu schlafen. Sie sah Marcel noch auf seinem Platz sitzen, so schüchtern und nett lächelnd, dass sie schließlich ihr Herz in die Hand nahm, auf ihn zu ging und es vor ihn auf den Tisch legte. Von da an waren sie ein Paar.

    Doch die Zeit hatte vieles verändert. Vor fünf Monaten, kurz vor Weihnachten – Lara hatte einen Adventskalender gebastelt und alle Geschenke für den Heiligen Abend gekauft – kam Marcel zu ihr. Sie lächelte und freute sich, denn sie mochte Überraschungen und Marcel konnte Überraschungen weiß Gott wie gut für sich behalten, gestalten und verschenken. Aber er sprach mit monotoner Stimme und da wusste Lara, dass etwas nicht stimme. Sie legte den Kopf schief, so wie Marcel es immer gemocht hatte, und wartete. Das Sprechen fiel ihm schwer, immer wieder musste er den Kloß im Hals herunterschlucken. Es war, als würde ein Sprinter immer wieder über seine eigenen Beine stolpern.

    »Was ist denn los?«, hatte Lara gefragt und ihm behutsam eine Hand aufs Bein gelegt. Er nahm ihre Hand in die seine und zog sie an sich heran. Sie schliefen miteinander.

    Als Lara aufwachte, war das Bett neben ihr leer. Nach dem Sex mussten sie eingeschlafen sein, denn die Sonne begann schon aufzugehen und sich dem neuen Tag entgegenzustrecken. Wie ein Fischer sein Netz warf sie ihre Strahlen über die eisige Oberfläche der Ostsee und ließ sie in die Tiefe gleiten.

    Lara sprang auf und suchte Marcel, doch es war, als hätte er nie existiert.

    Verschwommen erinnerte sie sich daran, dass er gesagt hatte, sie klammere zu stark und er brauche eine Auszeit. Mit dem Versprechen, sie in den nächsten Tagen anzurufen, hatte sie ihn gehen lassen. Das war gestern gewesen, nachdem er ein letztes Mal mit ihr geschlafen hatte.

    War das eine Art Abschiedsgeschenk gewesen?

    Auf einen Anruf wartete Lara bis heute. Innerlich wusste sie, dass die Beziehung keine Chance mehr hatte und dass Marcel sich nie mehr bei ihr melden würde. Aber die Hoffnung hält die Menschen am Leben. Ohne Hoffnung kein Überleben. Sie hatte ihn noch nicht aus ihrer Freundesliste bei Facebook entfernt, denn das würde die Trennung so real machen und ihr wie ein Strick um den Hals die Luft abschnüren. Aber die vielen Bilder, die er postete, von Partynächten mit fremden Mädchen in seinen Armen, raubten ihr den Schlaf. Vielleicht war es gar nicht die Kälte, die sie nicht schlafen ließ, sondern der andauernde Schmerz?

    Mit weißer Bluse und schwarzer Hose verließ sie das Haus. Die Aprilstürme waren in diesem Jahr besonders stark und Lara hatte Mühe, ihre Haare zu bändigen.

    »Bringst du mir ein Brötchen vom Bäcker mit?«, plapperte Christin fröhlich ins Handy, als Lara auf dem Weg zur Arbeit war. Auf ihrem Arbeitsweg gab es einen kleiner Bäcker mit den leckersten Brötchen der Stadt. Es war ein Familienbetrieb. Jeden Morgen stand die Tochter im Laden, was bedeutete, dass man immer zehn Minuten mehr einplanen musste, denn sie redete wie ein Wasserfall. Meistens über Belangloses, aber montags erzählte sie von ihren spannenden Wochenendtrips, bei denen man gar nicht anders konnte, als gebannt zuzuhören.

    »Ja, kann ich machen, dann komme ich aber später.« Lara hielt ihren Regenschirm fester, denn der Wind kroch wie ein Angreifer vorbei, der ihn nutzlos machen wollte. »Ach, das macht nichts. Frau Schnick kommt heute sowieso etwas später.«

    »Das blöde Aprilwetter«, fluchte Lara und versuchte, ihren umgeklappten Schirm zu bändigen. Jetzt war es doch passiert. Der April machte einfach, was er will. »Ich muss auflegen.«

    Beim Bäcker herrschte reges Treiben. Annika stand hinter der Theke, tat ein Brötchen nach dem anderen in die Tüten und kassierte ab. Heute sagte sie nur, was gesagt werden musste. »Guten Morgen was kann ich für Sie tun? - Der Nächste bitte.« Alles total normal, bis Lara in ihr Blickfeld trat. »Huhu, Lara, wie geht es dir? Das Übliche?«

    Die Menschen in der Schlange folgten Annikas Blick und starrten die junge Friseurin an.

    Prompt fing die Bäckereifachverkäuferin an, ihr den neuesten Tratsch zu erzählen. »Endlich ein bekanntes Gesicht. Ich konnte heute morgen noch gar nicht richtig aus mir herauskommen. Irgendwie schlägt den Menschen das Wetter wohl tief in die Magengrube.« Zögerlich lächelte Annika. Ihr zotteliges Haar hing wie ein Vogelnest auf ihrem Kopf, während sie mit einer Zange die zwei größten Schokocroissants aus der Theke nahm. »Hast du das gehört? Ein Siebzehnjähriger wurde freigelassen, weil ein anderer Junge den Mord an dem jungen Mädchen gestanden hat.«

    »Ja, ich weiß. Das habe ich in den Nachrichten gehört.« Lara warf einen prüfenden Blick auf die Wanduhr über der Tür mit der Aufschrift »Privat«.

    »Ist das nicht unmöglich, dass sie den jungen Mann erst wie einen Schwerverbrecher in Gewahrsam genommen und ihn dann mit einer kleinen Entschädigung entlassen haben? Ich meine, wo leben wir denn hier? Er hat Morddrohungen bekommen, sein Name und der seiner Familie sind in den Schmutz gezogen worden. Also ich finde, das ist eine absolute Frechheit.«

    »Ja, stimmt.« Lara wippte auf den Fußballen auf und ab, um Annika zu signalisieren, dass sie eigentlich gar keine Zeit hatte, doch das junge Mädel bemerkte es nicht und schmiss weiterhin mit Nachrichten um sich.

    »Und weißt du, dass die Queen ihr sechzigjähriges Thronjubiläum hat? Ist das nicht aufregend? Ich habe mir schon Urlaub genommen, um auf die Grüne Insel zu fliegen. Dort werde ich mir die Adeligen mit eigenen Augen ansehen. Bestimmt kommen auch Prinzen aus fernen Ländern … Oh, ich bin ja so aufgeregt.« Annika klatschte in die Hände.

    »Das ist ja schön. Mach dann mal schön viele Fotos. Wie viel schulde ich dir?« Sie klaubte das Portemonnaie aus der Tasche und ließ zwei Zwei-Euro-Stücke in Annikas Hand fallen.

    »Wenn ich wiederkomme, müssen wir uns unbedingt zum Kaffee oder von mir aus auch zum Tee treffen, damit ich dir in aller Ruhe die Fotos zeigen kann.«

    »Ja, das machen wir.« Schnell eilte Lara mit zwei Tüten in der Hand hinaus. Eine gefüllt mit Croissants, die andere mit Tratsch.

    Kapitel 2

    Als Lara patschnass im Laden ankam, stand Christin schon hinter dem Stuhl und ließ ihren Kamm durch das Silberhaar einer alten Dame gleiten.

    Der Salon war rot gestrichen, hatte helle Deckenleuchten und dunkelbraune Möbel. Frau Schnick liebte es, den Laden zu schmücken. Sie tat alles dafür, dass die Leute auf den Gehwegen stehenblieben und in das Schaufenster blickten. Es sollte den Passanten den Atem rauben, sie unwiderstehlich in den Salon ziehen, damit sie sich dort einen neuen, bezahlbaren Haarschnitt gönnten. Lara ging in den Aufenthaltsraum, legte die Brötchentüte auf den Tisch und nahm sich ein Handtuch. Vorsichtig tupfte sie sich die regennasse Stirn trocken.

    »Guten Morgen, ihr Hübschen«, rief Frau Schnick und trat in den Salon. »Hattet ihr ein schönes Wochenende?« Lara konnte ihre Schuhe auf dem blank polierten Laminat klappern hören. »Oh. Hallo, Lara. Ist deine Kundin noch gar nicht da?« Frau Schnick legte den Kopf schief.

    »Nein, sie muss immer mit dem Bus fahren. Und da die heute doch streiken.« Lara zuckte mit den Schultern.

    »Wirklich? Davon habe ich gar nichts mitbekommen.«

    »Das hat Verdi auch kurzfristig festgelegt.«

    »Ach so.« Frau Schnick rümpfte die Nase, als hätte jemand einen stinkenden Pups gelassen. »Und sonst. Wie geht es dir?« Sie ordnete ihre kurzen blonden Haare mit den braunen Strähnen.

    »Ganz gut.« Was war mit ihrer Chefin los? Frau Schnick hatte sich noch nie um das Privatleben ihrer Mitarbeiter geschert.

    »Ich finde, du bist im Moment nicht sehr aufmerksam.« Sie setzte sich auf einen der Stühle. Die Hände auf dem Tisch, ineinander verschränkt.

    »Wie darf ich das verstehen?« Lara legte das Handtuch zur Seite und lehnte sich gegen die Tür.

    »Na ja, du machst deine Arbeit gut. Aber irgendwie bist du anders. Das haben mir mehrere deiner Kunden erzählt. Sie meinten, du hättest dein Lächeln verloren. Stimmt irgendwas in deiner Familie nicht?«

    »Nein, es ist alles in Ordnung.« Lara griff nach ihrer Kette. Natürlich war gar nichts in Ordnung. Marcel hatte sie verlassen, ihre Schwester Janet hatte sie schon seit Monaten nicht mehr gesehen – und ihre Mutter. An die mochte sie gar nicht denken. Es hatte immer wieder verzwickte Situationen gegeben, in denen sie einfach nicht zueinanderfanden. Laras Familie hatte es schwer gehabt. Irgendwann war damals das Jugendamt gerufen worden und Lara wurde ihrer Mutter weggenommen. Und das nur, weil ihre ältere Schwester beim Schließen der Wohnungstür geschlampt hatte. Die Tür war nicht richtig verriegelt und sprang auf. Wie der Teufel es wollte, kam gerade die Hausmeisterfrau vorbei und schickte ihren neugierigen Blick auf Wanderschaft. Überall in der kleinen Wohnung türmten sich Berge von Müll. Essensreste, Zeitungen und ungewaschene Kleider versperrten den Durchgang. Lara war mal wieder frech gewesen und wurde gerade von ihrer Mutter auf das Übelste beschimpft. Die Hausmeisterfrau blickte sich mit einem Ich-weiß-was-was-du-nicht-weißt-Blick um und rief sofort die Polizei. Und da war es geschehen. Der erste Dominostein war gefallen und er nahm viele weitere mit sich. Das Jugendamt, die Männer in den weißen Kitteln und Laras Erzeuger, der auch der Vater ihrer Schwester war, wurde gerufen. Da ihm nicht viel an seinen Kindern lag, ließ er die beiden Teenager in einem Heim unterbringen. Von dort aus hatte Lara sich ihren Weg selbst erkämpft und war zu einer guten Friseurin geworden.

    »Deine Kundin ist da.« Christin riss sie aus ihrer Trance. Zum Glück, dachte Lara. So konnte sie sich aus dem Gespräch mit Frau Schnick stehlen, ohne sich eine Notlüge ausdenken zu müssen.

    »Hallo Frau Meinert. Wie geht es Ihnen heute?« Lara trat zu einer älteren Dame, die sie mit dicken Brillengläsern musterte. Vorsichtig nahm die junge Friseurin Frau Meinert die Jacke ab und hängte sie an die Garderobe. »Kommen Sie, setzen Sie sich. Darf ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte Lara und lächelte gezwungen.

    »Ja, einen schwarzen Kaffee und ein Glas Leitungswasser, bitte.«

    »Sehr gerne.« Im Rücken spürte Lara den Blick ihrer Chefin. Sie hasste es, beobachtet zu werden, aber gab sich alle Mühe, sich zusammenzureißen.

    »Bitte sehr.« Lara stellte den Kaffee und das Wasser auf die Ablage. Sofort nahm Frau Meinert das Leitungswasser und lächelte Lara zufrieden an. »Was darf ich denn heute für Sie tun?«

    »Ich möchte ein bisschen Farbe in meinem Haar. Es sieht so trostlos aus.« Frau Meinert griff sich ins Haar, als würde sie eine Prise Salz in den Kochtopf tun.

    »An was haben Sie denn gedacht?«

    »Beraten Sie mich. Was würde mir stehen? Im Supermarkt gibt es einen neuen Fleischer der wirklich nett aussieht.« Lara schmunzelte und begann Farbpaletten auszubreiten. Dabei plapperte Frau Meinert fröhlich, während Lara geduldig zuhörte. Ab und zu beteiligte sie sich am Gespräch, widmete sich ansonsten ihrer Arbeit.

    Kurz bevor Frau Meinert fröhlich den Laden verließ, steckte sie Lara einen Zehn-Euro-Schein zu.

    »Danke.«

    »Kaufen Sie sich etwas Schönes. Ich sehe einfach wundervoll aus.« Sie tastete vorsichtig ihr frisch frisiertes Haar.

    »Ja, Sie sehen schick aus. Bestimmt wird der Fleischer ein Auge auf Sie werfen.« Lara lächelte. Sie hielt ihrer Kundin noch die Tür auf, spannte der älteren Frau den Schirm auf und winkte ihr zum Abschied zu. Danach räumte Lara den Stuhl auf und fegte die Haare zusammen. Frau Schnick war gerade mit einer schwierigen Kundin im Gespräch und Christin kassierte ihre Kundin ab, als die Türglocke läutete. Zwei junge Männer traten ein und blickten sich um. Ohne Weiteres traten sie auf Lara zu, obwohl Christin viel näher bei ihnen stand.

    »Guten Tag. Haben Sie Zeit, meinem Freund die Haare zu schneiden?«

    »Aber natürlich.« Der Freund, dessen Namen Lara nicht kannte, lächelte. Seine Hände hatte er in den Taschen vergraben. »Setzen Sie sich doch bitte.« Lara zeigte auf den Stuhl neben dem, auf dem Frau Meinert gesessen hatte. Der Kunde setzte sich, nachdem sein Begleiter

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