Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Schwanenkuss: Kriminalroman
Schwanenkuss: Kriminalroman
Schwanenkuss: Kriminalroman
eBook434 Seiten5 Stunden

Schwanenkuss: Kriminalroman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Carina träumt von der großen Idee, die sie zu Geld machen kann. Inspiriert vom romantischen Bild schnäbelnder Schwäne lässt sie sich die Wortmarke »Schwanenbussi« schützen. Ein Konditor und die Stadt Gmunden versuchen ihr die Marke abzujagen und ziehen sie in einen dunklen Strudel von Intrigen. Nach einem Treffen mit dem Konditor wacht sie mit einer Handverletzung und einer Erinnerungslücke auf. Ihr bester Freund ist spurlos verschwunden, der Konditor untergetaucht und die Polizei ist hinter ihr her …
SpracheDeutsch
HerausgeberGMEINER
Erscheinungsdatum17. Apr. 2019
ISBN9783839259283
Schwanenkuss: Kriminalroman
Autor

Lisa Grüner

Lisa Grüner wuchs in Linz/Oberösterreich auf und studierte Publizistik, Wirtschaft und Philosophie in Wien, wo sie nach dem Abschluss viele Jahre als Journalistin ihr schreiberisches Können, Rechercheskills und ihren Riecher für gute Stories unter Beweis stellte. Mit dem Wechsel als Beraterin in Kommunikations- und PR-Agenturen, fing sie an, zeitgenössische Kurzgeschichten zu schreiben. Grüner schreckt nicht davor zurück, Geschichten die andere am liebsten unter den Teppich gekehrt sehen, schwungvoll unter diesem hervorzuholen. In ihrem Romandebüt »Schwanenkuss« verarbeitet Grüner Themen wie Romantik, die Suche nach dem großen Glück, aber auch Existenzangst und Selbstüberwindung, verwoben mit aktuellem Zeitgeschehen in Wien und Gmunden.

Ähnlich wie Schwanenkuss

Titel in dieser Serie (1)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Schwanenkuss

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Schwanenkuss - Lisa Grüner

    Zum Buch

    Intrigenspiel am Traunsee Die junge Wiener Unternehmensberaterin Carina Senner träumt vom großen Geld. Als sie das Symbol des Schwanenkusses entdeckt, lässt sie sich die Wortmarke »Schwanenbussi« beim Patentamt schützen. Während der Entwicklung der Marke verfällt sie immer tiefer in einen dunklen Strudel von Albträumen und Streitereien. Als ein Gmundner Konditor widerrechtlich ihren Markennamen verwendet, wittert sie ihre Chance die Rechte teuer zu verkaufen. Carina fährt nach Gmunden um die Angelegenheit zu regeln. Doch als sie am nächsten Morgen mit einer Verletzung an ihrer Hand und einer Erinnerungslücke erwacht, wird sie verdächtigt drei Schwäne am Traunsee erschlagen zu haben. Ihr bester Freund ist spurlos verschwunden, der Konditor untergetaucht und die Gmundner Stadtverwaltung, die das »Schwanenbussi« an sich reißen will, beginnt die Wienerin mit allen Mitteln unter Druck zu setzen. Verzweifelt versucht Carina die letzte Nacht zu rekonstruieren. Als der Kampf um den Markennamen endgültig zu eskalieren droht, wird sie vor die schwerste Entscheidung ihres Lebens gestellt.

    Lisa Grüner wuchs in Linz/Oberösterreich auf und studierte Publizistik, Wirtschaft und Philosophie in Wien, wo sie nach dem Abschluss viele Jahre als Journalistin ihr schreiberisches Können, Rechercheskills und ihren Riecher für gute Storys unter Beweis stellte. Mit dem Wechsel als Beraterin in Kommunikations- und PR-Agenturen, fing sie an, zeitgenössische Kurzgeschichten zu schreiben. Grüner schreckt nicht davor zurück, Geschichten die andere am liebsten unter den Teppich gekehrt sehen, schwungvoll unter diesem hervorzuholen. In ihrem Romandebüt »Schwanenkuss« verarbeitet Grüner Themen wie Romantik, die Suche nach dem großen Glück, aber auch Existenzangst und Selbstüberwindung, verwoben mit aktuellem Zeitgeschehen in Wien und Gmunden. http://www.aktmalerin.at

    Impressum

    Immer informiert

    Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

    regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

    Gefällt mir!

    398105.png    Instagram_Logo_sw.psd    Twitter_Logo_sw.jpg

    Facebook: @Gmeiner.Verlag

    Instagram: @gmeinerverlag

    Twitter: @GmeinerVerlag

    Besuchen Sie uns im Internet:

    www.gmeiner-verlag.de

    © 2019 – Gmeiner-Verlag GmbH

    Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

    Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    1. Auflage 2019

    Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

    Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    unter Verwendung eines Fotos von: © AK-Media / shutterstock.com

    Druck: CPI books GmbH, Leck

    Printed in Germany

    ISBN 978-3-8392-5928-3

    Haftungsausschluss

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Kapitel 1

    Schuld war meine Mutter. Sie hatte mich in einen Lodenmantel und eine Pudelmütze gesteckt, obwohl die Sonne schien. Dennoch zitterte ich am ganzen Körper. »Ist dir kalt?«, fragte sie und kramte nach Handschuhen. Mir war nicht kalt. Im Gegenteil, ich schwitzte. Ich war fünfeinhalb Jahre alt und beim Anblick der Schwäne in ein Dilemma verfallen. Schuld daran war ebenfalls meine Mutter. Sie hatte mir am Abend das Märchen der Schwanenprinzessin vorgelesen. Und da waren sie: Lauter verzauberte Prinzessinnen schnatterten leibhaftig vor mir und sahen mich mit unglaublich traurigen Augen an. Verzweifelt starrte ich auf den kleinen Brotsack in meiner noch kleineren Hand. Wie sollte ich die alle satt bekommen?

    Um alle vermeintlich verwunschenen Prinzessinnen im weißen Federkleid vor dem ebenso vermeintlichen Hungertod zu retten, brauchte ich einen Plan.

    Die Tür der Bäckerei war mit verschiedenen bunten Plakaten zugeklebt. Die Bäckerin wollte es jedem Plakatierer recht machen und klebte eine Ankündigung über die nächste, sodass von jeder zumindest ein Stück zu sehen war. Es war immer genug Zeit, einen Blick auf die Veranstaltungen zu werfen, während sich meine Mutter gegen die schwere Türe drückte, die sich nach der anfänglichen Schwerarbeit plötzlich einfach und einem vertrauten Klingeln öffnete. Der süßliche Duft von frischem Brot wehte uns entgegen. Je nach Jahreszeit mischten sich Duftnoten frischer Früchte oder saisonaler Mehlspeisen dazu. Ich betrat das Geschäft immer mit geschlossenen Augen und versuchte zu erraten, was die Bäckerin heute in ihrem wechselnden Sortiment hatte. Heute roch es nach Herausgebackenem. Gierig sog ich den Duft ein und öffnete die Augen. Meine Mutter packte bereits einen Laib Roggenbrot und einen Striezel in ihren Korb und zahlte.

    »Sag, verkaufst du bis zum Abend alles?« Mit prüfendem Blick musterte ich die Verkaufsvitrine der Bäckerei und deren unerschöpfliche Fülle an feilgebotenen Backwaren und Mehlspeisen. Neugierig betrachtete die Verkäuferin das hübsche Mädchen, dessen Nasenspitze kaum bis zu den Faschingskrapfen hochreichte.

    »Warum fragst du?«, wollte die rundliche Frau mit den hochgesteckten Haaren wissen und rückte ihre Brille zurecht. In ihrem weißen Kittel war sie für mich die Göttin in Weiß am Schalthebel der Macht über Leben und Tod.

    »Ich brauche altes Brot, um die Schwäne zu füttern«, weihte ich sie in meinen Plan ein. Durch meine wilden Gesten schwangen meine langen, geflochtenen Zöpfe aufgeregt auf und ab. »Meine Mutter isst immer auch das Harte und lässt nichts alt werden. Daher habe ich zu wenig für die vielen Vögel.« Meine Mutter versank vor Scham neben mir im Erdboden. »Brot-alt-werden-Lassen ist Lebensmittelverschwendung«, hatte sie mir eingetrichtert. Vor der Verkäuferin war ihr das allerdings mehr als peinlich.

    »Verstehe«, die Bäckerin überlegte kurz. »Weißt du was, ich lege dir während der Woche Altbackenes auf die Seite und du hilfst mir Samstagmittag nach Ladenschluss beim Aufräumen des Geschäfts. Was meinst du?« Ich war hellauf begeistert. Damit war der Handel beschlossen, und wir baten meine Mutter mit fragendem Blick um ihre Zustimmung. Da sie merkte, dass ein Nein nicht mehr zur Debatte stand, stimmte sie mit immer noch rotem Gesicht zu. Mit einem stolzen Grinsen verließ ich das Geschäft. Das säuerliche Gesicht meiner Mutter übersah ich. Als ihr beim Nachhauseweg klar wurde, dass sie ab jetzt samstags zwei freie Stunden hatte, in denen sie in Ruhe das Mittagessen zubereiten konnte, löste sich dieses in Wohlgefallen auf. Und so spazierten wir, jede mit einem kleinen Erfolg in der Tasche, triumphierend die Straße entlang.

    Eine Woche war mir bis jetzt immer kurz vorgekommen. Nicht so diese. Sie zog sich ins Unendliche. Sehnlichst wünschte ich mir den Moment herbei, mich gegen die schwere Tür der Bäckerei zu stemmen und den Boden kehren zu dürfen. Freitagabend konnte ich vor Aufregung kaum schlafen, Samstag wachte ich früher auf als sonst. Das hatte den Nachteil, dass sich die Stunden noch einmal ewig lange bis zehn Minuten vor 12 Uhr zogen. Als mir der Wecker endlich den Startschuss gab, zur Bäckerei zu laufen, wäre ich fast über meine eigenen Beine gefallen und dann noch einmal beinahe über die Stufen. Wie durch ein Wunder erreichte ich unfallfrei den Ort der unendlichen Brotreserven. Dort angekommen wischte und putzte ich völlig aufgedreht, als hinge mein Leben davon ab.

    »Du bist echt fleißig«, wunderte sich die Bäckerin über meinen Einsatz. Natürlich wusste sie nichts von den verwunschenen Prinzessinnen, die ich zu retten gedachte. Großzügig steckte sie Brot und Semmeln, das sie bereits in schnabelgerechte Happen geschnitten hatte, in einen Papiersack und überreichte ihn mir feierlich. Glückselig schleppte ich meine Beute nach Hause und stellte sie neben der Wohnungstür ab.

    »Geh Hände waschen«, meinte meine Mutter und schielte auf meinen Sack.

    »Du nimmst da nichts raus«, unterband ich den Anflug der mütterlichen Idee, einige meiner Brotbröckerl in der Mittagssuppe zu versenken. Zappelig setzte ich mich zum Mittagstisch und hoffte, mein Vater würde schneller aufessen.

    »Mama, gehen wir dann?«, fragte ich ungeduldig. Ich konnte es kaum erwarten, meinen nunmehr prall gefüllten Brotsack an die Alte Donau zu tragen und nach hungrigen Schwänen Ausschau zu halten. Über Wochen hinweg war das Füttern der Schwäne meine Lieblingsbeschäftigung. Es schien, als würden die Schwäne schon auf das kleine Mädchen im Lodenmantel warten. Denn immer wenn ich mich dem Ufer der Alten Donau näherte, kamen sie laut schnatternd angeschwommen. Mein kindliches Herz hüpfte vor Freude. Schließlich fühlte ich mich verantwortlich, für die Prinzessinnen zu sorgen, bis sie erlöst wurden.

    »Du bekommst etwas, und du und du«, versuchte ich die Brothappen möglichst gerecht auf die Schwäne zu verteilen, die sich gierig darauf stürzten. Dennoch bevorzugte ich die hübschen zierlichen Schwäne, denn die Großen hatten meiner Meinung nach ohnehin genug zu fressen.

    »Und du nicht«, zischte ich streng einen besonders aggressiven Schwan an, der das meiste Futter für sich beanspruchte und auf die kleineren Schwäne hinpeckte. Ich nannte den bösen Schwan Heinz und warf das Futter möglichst so ins Wasser, dass er am wenigsten davon erwischte. Heinz gefiel das gar nicht. Ich hingegen fand es amüsant, ihn zu ärgern. Eines Samstags wurde er so wütend, dass er aus dem Wasser watschelte und auf mich und meinen Brotsack losging.

    »Krr-krr-krr«, fauchte er böse und schnappte mit seinem gelben Schnabel nach mir.

    »Verschwinde«, schrie ich ihn an und versuchte mit meinem Gummistiefel nach ihm zu treten. Heinz ließ sich davon nicht beeindrucken, biss in den braunen Papiersack und riss an. Mit aller Kraft hielt ich meinen Schatz fest und stemmte mich dagegen. Meine Mutter, die eben noch ein paar Fotos von der Schwanenidylle geschossen hatte, stieß einen gellenden Schrei aus, packte mich am Kragen und zog mich vom wütenden Schwan weg. Dabei platzte mein Brotsack auf. Sichtlich zufrieden fraß sich Heinz an den verstreuten Brotstücken satt und sah mich dabei hämisch an. Ohnmächtig musste ich mit ansehen, wie der Lohn meiner ganzen mühseligen Arbeit just in dem Magen verschwand, den ich am wenigsten füttern wollte. Damit war es mit meiner Schwanenliebe jäh vorbei.

    Ich stornierte meinen Deal mit der Bäckerin und wollte auch nicht mehr zum Schwänefüttern an die Donau. Übrig blieb die Erinnerung an diesen Moment, den meine Mutter in ihrem Schreck mehrfach mit ihrer Kamera festgehalten hatte.

    Trotz des Reinfalls mit den Schwänen zogen mich Märchen nach wie vor magisch an. »Geschichten sind etwas für Träumer«, erklärte mir meine Mutter, die wie meistens keine Lust hatte, mir etwas vorzulesen, »und selbst die wachen irgendwann in der Realität auf.« Dabei deutete sie missmutig auf die Nachrichten, die gerade im Hauptabendprogramm liefen. Möglicherweise lehnte meine Mutter jegliche Schwärmerei deswegen ab, weil sie bei der Suche nach ihrem Märchenprinzen kläglich versagt hatte.

    »Deine Mutter hat als kleines Mädchen davon geträumt, einen Arzt oder Rechtsanwalt zu heiraten und in eine schöne Villa mit Garten in einen noblen Bezirk zu ziehen«, verriet mir meine Großmutter. Geworden war es dann ein Versicherungsangestellter, nicht aus einem allzu großen Anfall an Romantik, sondern weil er sie geschwängert hatte. Mit einem Braten in der Röhre war das Rennen um einen besseren Ehemann gelaufen und alle Träume von Arzt, Anwalt und Villa platzten ebenso jäh, wie sie ausgemalt worden waren.

    Mit der Eheschließung war es amtlich, das erträumte weiße Ross war ein leicht rostiger schwarzer Mercedes und das Märchenschloss eine kleine Gemeindewohnung im dritten Bezirk ohne Lift. Das Leben ließ meiner Mutter ohnehin nicht viel Platz für Schwärmerei. Sie musste sich um den Haushalt kümmern, Hemden bügeln, meinem Vater ein warmes Abendessen hinstellen, mich großziehen und sich zusätzlich um die kränkelnden Schwiegereltern kümmern. Jedenfalls nahm sie ihre Mehrfachbelastung gerne als Grund, um sich als die ärmste Ehefrau Wiens zu fühlen.

    »Als Anwaltsgattin müsste ich all das nicht machen«, bemitleidete sie sich selbst und war damit genauso realitätsfremd wie die Prinzessinnen meiner Märchen.

    »Na gib schon her«, seufzte meine Mutter, als ich wieder einmal mit meinem Buch vor ihr stand. Mein Vater war ein paar Tage auf Weiterbildung in Kärnten und der Zeitpunkt daher günstig. Die Stimme meiner Mutter ließ mich mit Rapunzel, Dornröschen und Aschenputtel in eine zauberhafte Welt eintauchen, nur die Schwanenprinzessin wollte ich nicht mehr hören.

    Mit einem Mal klappte meine Mutter das Buch zu und sah mich durchdringend an. Ich schreckte hoch. »Schatz, warte nie auf einen Prinzen, der dich rettet«, fing sie an. »Er kommt nicht. Und falls doch, dann passiert die Verwandlung rückwärts: vom Prinzen in den Frosch. Retten wird er dich definitiv nicht.« In diesem Moment fragte ich mich, wovor genau mich denn so ein Prinz retten sollte, schließlich wurden Mädchen heutzutage weder in Türme gesperrt, noch von bösen Drachen oder egozentrischen Hexen bedroht. Bevor ich meine Frage stellen konnte, fuhr meine Mutter mit ihren Ausführungen weiter fort.

    »Für deine Träume bist nur du zuständig. Lern fleißig, such dir einen vernünftigen Job, verdien dein eigenes Geld und bleib unabhängig.«

    Warum, so fragte ich mich, sollte das so viel besser sein als die Verhältnisse, in denen ich aufwuchs? Mein Vater ging arbeiten, meine Mutter war zu Hause und alles hatte seine Ordnung. Natürlich verstand ich die Hintergründe nicht und meine Mutter war auch nicht willens, sie mir zu erklären.

    »Es ist wichtig, dass du deinen Traum findest, etwas, das für dich besonders ist. Und wenn du ihn gefunden hast, dann verfolge ihn, setz ihn um und verdiene damit viel Geld. Dann brauchst du nie wieder arbeiten.«

    Diese Logik widersprach sich.

    »Also ist arbeiten doch nicht so toll?«, fragte ich unschuldig. Irgendwie standen der gute Job und das Finden der tollen, mich reich machenden Idee, um eben nicht arbeiten zu müssen, in jähem Gegensatz zueinander. Doch meine Mutter blieb mir die Antwort schuldig.

    Mir jedenfalls gefiel der Teil mit dem Traum. Und so sinnierte ich von der tollen Idee (dem Prinzen), die ich einmal haben würde und die mich dann retten könnte (vor dem guten Job) und mir mein Märchenschloss (Wohnung, Haus) und vielleicht sogar ein Pferd (Auto) ermöglichen würde. Dass Letzteres ein rotes Cabrio sein musste, wusste ich schon als Kind. In unserer Straße parkte des Öfteren eines, das mir so gut gefiel, dass ich immer sanft mit den Fingern über den Lack strich.

    Gelegentlich träumte ich davon, Prinzessin zu sein. Leider entsprach ich nicht dem Idealbild der blondgelockten, wunderschönen Maid. Ich war eher der Ronja-Räubertochter-Typ. Dunkelhaarig und drahtig, aber nicht einmal ansatzweise so mutig wie sie. Meine Introvertiertheit machte mein Leben nicht gerade einfach, vor allem erschwerte es das Finden von Freunden. In der Schule fand ich mich daher schnell in der Rolle der zurückgezogenen Außenseiterin wieder. Eine Rolle, vor der ich mich in Träume geflüchtet hätte, wäre nicht plötzlich jemand aufgetaucht, mit dem das Leben auch in der Realität durchaus Spaß machte.

    Am Spielplatz herrschten eiserne Gesetze, die nur zu Schulanfang neu ausgefochten wurden. Hatte man sich ein Recht erkämpft, wurde es ein Jahr lang nicht mehr in Frage gestellt. Stefan und ich besetzten zur gleichen Zeit die gleiche Bank. Er von links, ich von rechts. Es war die Einzige, die vor einem Holztisch stand, und daher war sie besonders begehrt. Wir kannten einander vom Sehen, da wir die Unterstufe der gleichen Schule besuchten, hatten aber nie miteinander geredet. Nun saßen wir auf der Bank und sahen uns feindselig in die Augen. Nach wenigen Sekunden war klar, dass keiner von uns weichen würde, und wir arrangierten uns mit der Lage.

    Unsere Eltern wollten, dass wir etwas an der frischen Luft unternahmen, also nahmen wir die Bank konsequent jeden Nachmittag in Beschlag. Damit ersaßen wir unser Recht und niemand traute sich, es uns streitig zu machen. Es erwies sich als Vorteil, zu zweit auf ein Recht pochen zu können. Wer von uns beiden zuerst kam, hielt die Bank frei. Stefan saß immer auf der linken, ich auf der rechten Seite. Dazwischen war viel Abstand. Ich spielte mit meinem Gameboy und beanspruchte nicht viel Platz. Stefan lernte Mathe und achtete akribisch darauf, dass er mit seinen Büchern und Heften nicht mehr als die Hälfte des Tisches in Beschlag nahm. Mit seinen Jeans, zu denen er ein Hemd trug, war er für sein Alter viel zu konservativ gekleidet. Seine kurz geschorenen blonden Haare passten zum Image eines Strebers. Gelegentlich sah er von seinen Berechnungen auf, grinste mich mit seinen blitz-grünen Augen schüchtern an, sagte dann aber nichts. Damit gewann er sofort meine Sympathie. Ich mochte Ruhe, fand sie aber in Gesellschaft wesentlich angenehmer.

    Nach ein paar Tagen gewann die Neugierde über die Schüchternheit und ich versuchte eine erste direkte Kontaktanbahnung, indem ich eine geöffnete Packung Mannerschnitten über den Tisch schob. Er lächelte, nahm ein Stück und schob die Schnitten wieder in meine Richtung. Es vergingen noch drei Tage, bis wir uns über die erste Konversation wagten.

    »Was spielst du da?«, machte Stefan den Anfang. Nervös scharrte er mit seinen Schuhen im lockeren Kies.

    »Tetris«, antwortete ich, und da ich keinen Kies unter den Füßen hatte, zappelte ich aufgeregt mit den Zehen. Dann starrte Stefan wieder auf sein Heft und ich auf meinen Gameboy.

    »Was lernst du denn?«, versuchte ich das Gespräch fortzuführen.

    »Mathe.« Stefan sah mich kurz an und deutete mit seinem Bleistift auf ein paar Gleichungen, die für mich wie Hieroglyphen aussahen, in die sich zufälligerweise ein paar Zahlen verirrt hatten.

    »Hmm«, brummte ich. Die rund um uns spielenden Kinder kamen mir extrem laut vor. Ich überlegte, was ich als Nächstes sagen könnte, doch mir wollte nichts Vernünftiges einfallen.

    »In Mathe bin ich nicht so gut«, outete ich mich und setzte damit ein Statement, was ich von dieser Wissenschaft hielt. Stefan missverstand mich.

    »Du kannst ja mitlernen«, bot er eifrig an.

    Dankend lehnte ich sein Angebot ab und wendete mich mit rollenden Augen wieder meinem Spiel zu. Dennoch freute ich mich, wenn wir uns sahen und gemeinsam die Parkbank belagerten. Ein Fleck auf die Matheschularbeit, gefolgt von einem vernichtenden Wutausbruch meiner Mutter, änderte schlagartig meine Meinung, was das gemeinsame Lernen anbelangte. Den Tag darauf tauschte ich den Gameboy gegen mein Matheheft und legte eine Packung Mannerschnitten auf den Tisch.

    »Kannst du mir da helfen?«, fragte ich mit leicht verzweifelter Stimme. »Ich hab die Schularbeit verhauen.« Vorsichtig näherte sich Stefan an, und auch ich rutschte ein Stück weiter nach links. Schulter an Schulter saßen wir da und starrten auf mein Heft.

    »Das Einzige im Leben, das gerecht ist, ist Mathe«, fing er an. »Es kommt für alle das gleiche Ergebnis heraus. Zumindest, wenn man richtig rechnet.« Ich musste lachen, und das Eis war gebrochen. Stefan konnte Mathe so erklären, dass es zu mir durchdrang. Weil ich vor ihm nicht als dumm dastehen wollte, gab ich mir Mühe, und zur großen Verblüffung aller schrieb ich auf die nächste Schularbeit eine Eins.

    »Das geht nicht mit rechten Dingen zu«, unterstellte mir meine Lehrerin, dass ich geschummelt hatte. Doch ich blieb in Mathe konstant gut. Hauptsächlich wegen Stefans Hartnäckigkeit, mit mir zu lernen und weil er manchmal mit meinem Gameboy spielen wollte, während er mich mit Rechnungen beschäftigte.

    Eines Tages erzählte ich Stefan von meiner Suche nach der großen Idee, die durch das Feuer der Inspiration bei mir für einen Geistesblitz sorgen sollte. Stefan nahm das zur Kenntnis, nicht ohne sich zu fragen, wo denn dieser herkommen sollte. Doch wie so oft, kommentierte er es nicht. Leider waren meine Startvoraussetzungen für eine große Erfinderin denkbar schlecht: Meine Eltern waren nicht besonders gebildet. Mir standen weder eine Garage noch ein Labor für die etwaige Umsetzung umwerfender Ideen zur Verfügung, und in meinem Umfeld waren keine experimentierfreudigen Menschen, an denen ich mir hätte ein Beispiel nehmen können. So traurig es war, ich war Kind einer gänzlich normalen, langweiligen Mittelschichtfamilie.

    Dennoch, so schnappte ich irgendwo auf, waren es oft die Quereinsteiger, die die besten Ideen hatten. Vor allem in Feldern, von denen sie keine Ahnung hatten, landeten sie per Zufall einen Volltreffer. Irgendwann später fand ich heraus, dass ich mich im »oft« getäuscht hatte, es war eher in »seltenen Fällen« so. Die meisten Erfindungen wurden gar nicht erst umgesetzt, und mit ihnen Geld zu verdienen war noch mal schwieriger. Dennoch, meine Mutter hatte es irgendwie geschafft, mir nachhaltig im Unterbewusstsein zu verankern, dass es im Leben um das Finden des einen Traumes ging, der mich zum großen Reichtum führen sollte. Und ich beschloss nicht aufzugeben, bis ich mein Ziel erreicht hatte.

    Eines Tages fiel mein Blick auf mein altes Märchenbuch im Schrank. Ich zog es heraus und blätterte darin.

    »Vielleicht hat von diesem alten Wissen irgendetwas das Zeug zur großen Idee?«, dachte ich und versuchte dem Buch versteckte Weisheiten zu entziehen. Mein Blick fiel auf die Geschichte der Schwanenprinzessin. »Mit dem Gelübde der Liebe ist der Zauber zu brechen«, las ich halblaut. Damit ließen sich also Schwäne in Prinzessinnen zurückverwandeln. Ich lehnte mich an die Wand und dachte nach.

    »Eigentlich«, schoss es mir durch den Kopf, »geht es immer um Liebe.« Ob sich mit dieser Erkenntnis Geld verdienen ließ?

    »Die Liebe ist doch mit steter Qual verbunden«, sinnierte ich weiter. »Zumindest lernt man das so in der Schule.« Je mehr Leiden und Dramatik à la Romeo und Julia, desto wahrhaftiger das Gefühl. So hartnäckig sich dieses Bild über die wahre Liebe in der Literatur hielt, genauso gegensätzlich zeigte sie sich in der Realität. Denn dort schwelgte sie meist gänzlich unspektakulär im stillen Kämmerchen des Lebens vor sich hin. Nur, woher sollte man das als Laie wissen?

    Dennoch hoffte ich, dass ich trotz meines mangelhaften Wissens über Liebe und Romantik über eine megageniale Produktidee stolpern würde, die genau damit zu tun hatte. Nun, nach genau dieser Idee suchte ich seit meiner Kindheit.

    Die Erfahrung der letzten Jahre zeigte jedoch: Zwischen Theorie und Praxis lagen nicht nur Welten, sondern unüberwindbare Galaxien, mit tiefen Schluchten und fehlendem Vorkommen von Sauerstoff und Wasser. Während meine ersten Ideen nicht einmal die Startrampe verließen, zerschellten die nächsten an silbrig schimmernden Meteoriten, kollidierten mit Weltallschrott, verirrten sich in fremden Galaxien, erstickten oder verhungerten.

    Saß ich dann trotzdem wieder mal dem Glauben auf, das Ei des Columbus entdeckt zu haben, kam irgendein Erwachsener und trampelte so lange drauf herum, bis sich die geniale Idee als Niete entpuppte. Und so landete eine vermeintlich grandiose Idee nach der anderen im großen Topf des Misserfolgs. Kurzum, der Traum von der schnellen Marie platzte wie die großen Seifenblasen arbeitsloser Straßenkünstler, die glaubten, mit ihrem reisetauglichen Seifeneimer finanziell über die Runden zu kommen.

    Mangels einer Idee, die das Geld beim Fenster hereinschneien ließ, musste ich mir Gedanken über meine Zukunft machen. Ich war 15 und hatte meine neun Jahre Schulpflicht fast fertig abgesessen.

    »Entweder du heiratest oder machst eine Lehre«, meinte mein Vater. Meine Mutter verzog beim Wort heiraten säuerlich das Gesicht und schüttelte vehement den Kopf.

    »Heiraten kann sie später auch noch«, zischte sie. »Zuerst lernt sie etwas.« Damit schied das Konzept Ehe erstmal aus den Überlegungen aus.

    Bei der Diskussion über mein Leben kam heraus, dass meine Eltern eine gänzlich andere Ansicht von guter Ausbildung und tollem Job hatten als ich. Mein Vater hatte den Lehrberuf des Versicherungskaufmannes abgeschlossen, meine Mutter eine Handelsschule. Unter einem guten Job, da waren sie sich einig, stellten sich beide eine Karriere bei der Versicherung vor.

    »Ich bringe dich in meinem Unternehmen unter«, brummte mein Vater nicht ohne Stolz, schließlich ging er seit knapp 30 Jahren jeden Morgen in das gleiche Büro. »Irgendwann übernimmst du dann meinen Kundenstock und führst ein gutes Leben.« Mir graute allein bei dem Gedanken.

    Bisher hatte mich niemand gefragt, wie ich mir mein Leben vorstellte. Es wurde Zeit, etwas zu sagen. Also stand ich auf und räusperte mich.

    »Ich mache die Oberstufe weiter und dann die Matura«, postulierte ich. Mit diesem einen Satz warf ich das ausgeklügelte Konzept meiner Eltern, wie mein Leben auszusehen hatte, über den Haufen.

    »Du willst was?«, meine Eltern trauten ihren Ohren nicht. Niemand in unserer Familie war auch nur in die Nähe einer Matura gekommen. Fassungslos starrten sich meine Eltern an und dann mich. Hätten sie nicht bereits auf der Couch gesessen, so hätte es sie spätestens jetzt auf den Hintern gesetzt.

    »Mein Zeugnis ist gut und meine Lehrer befürworten es«, beharrte ich stur auf dem Floh, den mir Stefan ins Ohr gesetzt hatte. Meine Eltern waren so baff, dass sie sich nicht gegen mein Vorhaben stellten, und am nächsten Tag wusste bereits die ganze Nachbarschaft, dass die Senner-Tochter Matura machte. Zu diesem Zeitpunkt konnte niemand ahnen, dass ich schlussendlich sogar an einer Universität landen würde. Weder ich, noch meine Eltern und noch viel weniger die Nachbarn.

    Mit einem Maturazeugnis in der Tasche sollte mir die Welt offen stehen. Hypothetisch zumindest. Paradoxerweise tat mir die Welt diesen Gefallen nicht, und ich fand mich planlos vor die Wahl gestellt, etwas mit meinem Leben anfangen zu müssen. Für Stefan war nichts logischer, als studieren zu gehen. Für mich war nur eines klar: Dass mein Vater mich bei seiner Versicherung unterbringen würde, sollte ich nicht bald eine Entscheidung treffen. Das genügte als Antrieb, mich mit unterschiedlichen Studienrichtungen auseinanderzusetzen, denn etwas Besseres als das Gleiche zu machen wie Stefan wollte mir in diesem Augenblick nicht einfallen.

    »Wie wäre es mit Physik, Chemie oder Informatik?«, zog mich mein Freund auf.

    »Noch mehr Mathe? Damit hast du mich acht Jahre lange gequält«, zischte ich. »Sicher nicht.«

    »Medizin?« Stefan lachte. Er wusste, wie sehr mir vor Blut und Exkrementen ekelte. Während er sich vor Lachen bog, sah ich ihn strafend an.

    »Dann bleiben noch Kommunikationswissenschaften, Rechtswissenschaften und Wirtschaft«, zählte Stefan auf. »Oder Versicherung.«

    »Wir streichen das Erste und das Letzte«, seufzte ich. »Also, was nehmen wir? Wähle!« So versuchte ich mich weiter vor der Entscheidung zu drücken und doch eine herbeizuführen.

    Schlussendlich warfen wir eine Münze. Kopf war Wirtschaft, Zahl war Recht. Ich glaube, Stefan wollte lieber Wirtschaft studieren, denn im Regelfall warf er öfter Kopf. Vielleicht wollte er sich auch nur vor der Argumentation drücken, warum er Wirtschaft besser fand als Rechtswissenschaften. Oder er wusste es selbst nicht so genau. Also entschied die Münze. Und die war eindeutig für Wirtschaft. Beim Einschreiben auf der Uni hielten wir uns nicht lange mit der Auswahl irgendwelcher Spezialstudien wie internationale Betriebswirtschaft, Handelswissenschaften, Finanzwirtschaft, Sozioökonomie oder Wirtschaftspädagogik auf. Wir nahmen, was alle machten: Betriebswirtschaft.

    Kapitel 2

    Am Betriebswirtschaftsstudium faszinierte mich genau gar nichts. Als ich in den langweiligsten Vorlesungen des gesamten Universums saß, wurde mir bewusst, dass nicht jede schnelle Entscheidung auch eine gute war. So gesehen hätte ich auch gleich Chemie oder Physik studieren können.

    »Diese Vorlesungen sind zum Einschlafen oder Davonlaufen«, seufzte ich und spürte, wie mir die Augen zufielen.

    »Du tust weder das eine noch das andere«, zischte Stefan und verhinderte konsequent, dass ich weder dem einen noch dem anderen Impuls nachgab.

    »Nach der Vorlesung treffen wir uns im Studierraum im dritten Stock.« Stefan war auch dahinter, dass wir nach den Seminaren unsere Aufgaben erledigten. Zu zweit war das Arbeiten leichter erträglich. Danach war ich meist so erledigt, dass ich nach Hause fuhr und ins Bett fiel. Dabei wäre ich viel lieber ausgegangen und hätte Spaß gehabt. Einmal jedoch kam mir diesbezüglich der Zufall zu Hilfe.

    Die Universität sperrte pünktlich um 22 Uhr. Sicherheitshalber verließen alle Studenten das Gebäude ein paar Minuten vorher, denn es kursierten Gerüchte, dass der Hausmeister schon öfter Zuspätkommende eingeschlossen hatte. Kurz vor zehn packten wir unsere Sachen und fanden uns plötzlich im Trubel des jährlichen Universitätsfestes wieder. Die Universität war großräumig abgesperrt, mehrere Bars waren aufgebaut und ein DJ beschallte die Aula. Die Ankündigungen des Events waren spurlos an uns vorübergegangen. Es wäre dumm gewesen, nicht zu bleiben. »Hey, wir haben uns das Geld für den Eintritt gespart«, grinste ich von einem Ohr zum anderen. Stefan starrte fassungslos auf die wilde Partymeute. »Feste sind dazu da, um sie zu feiern, wie sie fallen«, erstickte ich Stefans mögliche Versuche, die Party sofort zu verlassen, im Keim. Ich wusste, dass er sagen würde, dass wir morgen früh zwei wichtige Präsentationen hatten. Aber sie waren fertig und warum nicht ein bisschen bleiben?

    Stefan suchte nach seinem Spindschlüssel in den Tiefen seiner Aktentasche, konnte ihn aber nicht finden.

    »Gib her«, grinste ich ihn an. »Ich sperre dein Zeug in meinen Spind.« Schnell schloss ich seine Lernunterlagen ein und zog ihn an die Bar. Ein paar Bier später tanzten wir wie wild. Also ich tanzte. Stefan stand ungläubig an der Bar. So unbändig hatte er mich noch nie gesehen. Und tanzend noch viel weniger.

    »Wir sollten uns etwas zu essen holen«, erinnerte mich Stefan daran, dass wir seit Mittag nichts gegessen hatten. Damit versuchte er zu retten, was ohnehin nicht mehr zu retten war. Die Rhythmen wurden immer heißer, der Alkohol fuhr ein und ich fühlte mich großartig.

    »Es ist Happy Hour«, sagte der DJ durch. »Schlagt zu, günstiger werden die Drinks heute nicht mehr.« Übermütig bestellte ich einen Meter Cola Rum. Stefan war nicht mehr zu sehen.

    »Vielleicht hat er sich etwas zu essen geholt«, dachte ich und schaute auf die hübschen, auf einer Holzplatte in einer Reihe drapierten Drinks. »Trink ich sie halt alleine.« Da stand ein junger dunkelhäutiger Austauschstudent neben mir und grinste mich an. »Ich bin Carlos«, stellte sich der gut aussehende Machotyp vor. »Hast du Lust zu tanzen?«

    Ich hatte und kippte die letzten vier Drinks hinunter. Dann schwang ich meine Hüften. Nicht sonderlich im Takt, nicht sonderlich damenhaft, vermutlich auch nicht besonders sexy. Es war heiß, wir schwitzten, die Cola Rum stiegen mir in den Kopf. Ich war nicht mehr zu bremsen. Nichts konnte mich mehr erschüttern. Auch nicht die Tatsache, dass ich am nächsten Tag um 8 Uhr früh auf der Uni sein sollte.

    Es gab kein penetranteres Geräusch als den Klingelton meines Handys. Genervt tastete ich nach meiner Handtasche und kramte das Telefon heraus, um es abzustellen. Versehentlich hob ich dabei das Telefonat ab.

    »Wo bist du?«, Stefans Stimme hatte einen scharfen Unterton.

    »Ich weiß nicht«, stammelte ich verwirrt von der Uhrzeit. Mein Kopf dröhnte und ich bekam kaum die Augen auf. Neben mir lag ein Typ. Genauer gesagt lag ich neben einem Kerl, in einem fremden Bett, in einer mir unbekannten Wohnung. Ich hielt mit meinem Finger das Mikrofon meines Smartphones zu und gab dem Mann neben mir einen Tritt.

    »Wer bist du?«

    »Carlos.« Der Typ drehte sich um, zog die Bettdecke zu sich und schlief weiter. Ich trat ihn noch mal.

    »Wo bin ich?«

    »Bei mir«, stöhnte Carlos schlaftrunken. »Lass mich schlafen.«

    »Großer Gott«, entfuhr es mir. Verzweifelt drückte ich auf die GPS-Taste und aktivierte Google Maps. Das rote Symbol markierte eine Straße. »Ich bin am anderen Ende der Stadt«, flüsterte ich schockiert. »Bei einem braun gebrannten Typen namens Carlos. In seinem Bett. Und das nackt.«

    »Was ist denn überhaupt?«, stammelte ich ins Telefon und massierte mir die Schläfen, um die pochenden Kopfschmerzen zu lindern.

    »Ich bin auf der Uni und stehe vor deinem Spind, in dem die Sachen für meinen heutigen Vortrag eingeschlossen sind. Und die für deinen Vortrag übrigens auch«, Stefans Stimme klang gereizt. Ungewöhnlich gereizt. Es dämmerte mir. Party, Spind, Stefan, Rum, Carlos.

    »Mist«, presste ich kläglich hervor. »Den Schlüssel für meinen Spind, den habe ich.« Meine Gedanken erfassten die Situation in Zeitlupe. Stefan hatte seinen Vortrag um 8 Uhr. Es war zehn Minuten vor acht. Stefan war sauer, ich fühlte mich elend.

    »Es tut mir leid«, stammelte ich.

    »Wo auch immer du bist, beweg dich auf die Uni.« Das klang nicht nach dem Stefan, den ich kannte. Ich war letzte Nacht auch nicht die Carina, die ich kannte. Das schlechte Gewissen, das mich jetzt plagte, war schlimmer als der Kater, der meinen Kopf fast zum Zerspringen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1