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Die Egomanin
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eBook374 Seiten5 Stunden

Die Egomanin

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Über dieses E-Book

Die Autorin schickt ihre Figuren in die 1946 zerstörte Stadt Hamburg, in der die Hauptfigur rücksichtslos mit dem Mut der Verzweiflung um ihr Leben kämpfend zur egozentrischen, neiderfüllten Person wird, die über Leichen geht und quasi alles erreicht, nur eines nicht: Ihre große Liebe.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum4. Dez. 2015
ISBN9783738051216
Die Egomanin

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    Buchvorschau

    Die Egomanin - Hannelore Wulff

    Prolog

    Der Mann stand auf der anderen Straßenseite gegenüber dem Haus, aus dem eine alte Frau mühselig die zirka zehn Treppenstufen eine nach der anderen hinunterhumpelte. Mit ihrer linken Hand, an der sie eine für sie verhältnismäßig große Tasche trug, hielt sie sich am Geländer fest. An ihrer rechten Hand hing eine Leine, an der ein kleiner Hund versuchte, sich loszureißen. Er zerrte knurrend mit aller Gewalt, so dass es aussah, als ob die Frau jeden Moment stolpern und die Treppe herunter fallen würde. Fast jeden Tag sah sich der Mann diese gefährliche Prozedur an und fast jeden Tag blieb er wie angewurzelt stehen, bis es der Frau gelang, heil die Stufen herunter zu kommen. Erst dann wollte er ruhig weitergehen. Doch fast jedes Mal musste er sich die von der Frau in voller Lautstärke über die Straße geschrienen Schimpfworte, die manchmal sogar unter der Gürtellinie gingen, anhören. „Hau bloß ab du Dreckskerl, du Spanner, meinst du, ich weiß nicht, dass du hinter mir her bist? Dass du mir auflauerst, nur um mit mir . . ." Das Weitere hörte sich der Mann gar nicht mehr an. Er machte, dass er schnell aus der Reichweite dieser Dame mit ihren lautstarken obszönen Äußerungen kam. Er wohnte schon etliche Jahre in dieser ´feinen` nur für die oberen Zehntausend gedachten Straße in Harvestehude. Und als er das erste Mal diese geschmacklos und billig aufgetakelte alte Dame aus dem gegenüberliegenden Haus kommen sah, musste er unwillkürlich stehen bleiben, weil jeder in solch einem bewusst auffälligen Outfit Aufsehen erregte und einfach nicht in diese vornehme Gegend passte. Später hatte er erfahren, dass sie im Hochparterre zur Miete wohnt und mit dem jetzigen Hausbesitzer bereits zehn Jahre im Clinch liegt, und man sagte ihm – die ganze Straße redete davon - dass sie in ihrem hohen Alter, sie mag ungefähr über neunzig sein, quasi Kündigungsschutz besäße, und es zeitaufreibend lange dauern würde, bis der Hauswirt dieses, sein sogenanntes Krebsgeschwür, aus dem Haus bekommt. Heute, und das sah der Mann erst jetzt, stützte sie sich auf eine Krücke und ging auffallend langsam zu der im Souterrain gelegenen Garage, in der ihr Oldtimer stand. Sie fuhr immer noch Auto. Mehr noch als waghalsig, denn wenn sie rückwärts auf die Straße lenkte, ging jedes Mal ein Hupkonzert der ihr entgegenkommenden Fahrzeuge los, das sie stur nach dem Motto ´die Straße gehört mir` schimpfend ignorierte. Immerhin war sie noch im Besitz ihres Führerscheins. Jeden Morgen zur gleichen Zeit, fuhr sie bei Wind und Wetter, bei Eis und Schnee bis zu dem kleinen Park an der Außenalster, um ihren Hund auszuführen. Es war schon beinahe Routine, doch wie lange würde es noch dauern? Wie lange würde sie noch fähig sein, diese Strapazen auf sich zu nehmen? Wenn jemand sie darauf ansprach, wurde er angeschnauzt: er solle sich um seinen eigenen Dreck kümmern. Nein, angenehm höflich war die Dame nicht. Und niemand in der Straße wollte etwas mit ihr zu tun haben. Die armen Hunde, ihre Tiere wurden bei ihr nicht alt, taten den Leuten leid. Man sagte, sie hätte Geld. Nur man wusste es nicht so genau. Früher, das heißt, noch vor nicht allzu langer Zeit, war sie einmal Maklerin gewesen. Sollte auch damit Erfolg gehabt haben, denn sonst hätte sie nicht die in diesem Viertel üblichen hohen Mieten für ihre Wohnung bezahlen können, wobei allerdings ihr Hauswirt ihre nach dem alten Mietvertrag gültige Miete nicht erhöhen kann, weil er damit sie als Mieterin anerkennen würde. Es hört sich alles ein bisschen kompliziert an, aber dafür hatte sie als Maklerin seinerzeit, als der Mietvertrag zwischen ihr und den alten Leuten, den Vorbesitzern, von ihr ausgeklügelt wurde, gesorgt. Zu der Wohnung im Hochparterre gehört laut Mietvertrag die beheizbare Einzelgarage, ein Kellerraum, ein geräumiger nach hinten gelegener Garten und eine große Sonnenterrasse. Die Wohnung selbst ist etwa 180 qm groß. Armer Hauswirt, er muss mit der bei weitem nicht so großzügigen oberen Etage und einer kleinen Dachwohnung auskommen und ist natürlich diesbezüglich stinksauer. Als das Haus zum Verkauf stand, wollte es wegen des ausgebufften Mietvertrages niemand haben. Der jetzige Besitzer dachte zuerst, er hätte ein Schnäppchen geschlagen, bis er dann einsehen musste, dass seine Mieterin quasi bis an ihr Lebensende laut Gerichtsbeschluss, denn Kauf bricht nicht Miete, unkündbar ist, und wenn er Pech hat, ihn sogar noch überleben wird.

    Auch sie war nicht unsterblich

    Es war noch sehr früh an diesem Sonntagmorgen. Der wolkenlose Himmel versprach einen noch heißeren Tag, als der gestrige es war. Hans Hausschild, nur mit einem leichten T-Shirt und Shorts bekleidet, stand auf seinem Balkon und schaute in den unter ihm gelegenen Garten, der ihm zwar gehörte, doch zu dem er keinen Zutritt hatte. Und jedes Mal – nun schon seit Jahren – wenn er dieses schöne, leider so verwahrloste Fleckchen Erde sah, überkam ihm eine grenzenlose Wut. Der nach Wasser schreiende Rasen müsste gemäht, die Sträucher und Bäume beschnitten werden. Aber Madame, zu deren Mietvertrag der Garten gehörte, ließ alles verkommen, und er war machtlos. Gerne hätte er heute am Sonntag etwas länger geschlafen, doch das unaufhörliche Gebell eines Hundes ließ es nicht zu. Er schaute nach allen Richtungen, um zu erkunden, woher das Gekläff kam, doch nirgendwo war ein Hund zu erblicken. Seine Frau, die inzwischen auch aufgewacht war, richtete sich auf und rief: „Mein Gott noch mal, kann man denn hier nicht einmal in Ruhe ausschlafen? Muss man dabei immer die Fenster geschlossen halten? Hans, das geht zu weit. Du musst mit dieser Frau endlich Tacheles reden. Die kann doch nicht immer nur machen, was sie will."

    Ohne zu antworten bückte sich der Mann über das Geländer seines Balkons und sah, dass die Terrassentür der unteren Wohnung geöffnet war und der kleine Yorkshire zwischen der Tür und Terrasse bellend hin und her lief. „Ich werde gleich mal runter gehen und sehen, was los ist, irgendwas stimmt da nicht", sagte er zu seiner Frau, zog sich provisorisch eine Hose an und schlüpfte in seine Sandalen.

    „Meinst du nicht auch, dass es sich nicht lohnt? Von der kriegst du ja doch nur eine Abfuhr, die wird dir wieder die Tür vor der Nase zuschlagen, sagte die Frau und stand ärgerlich auf. Ihr Mann hörte erst gar nicht hin. Er war bereits im Treppenhaus, ging die Stufen runter und klingelte an der Tür der unteren Wohnung. Es rührte sich nichts. Er klingelte noch mal, diesmal Sturm. Wieder nichts, alles still, nur der Hund war bis zu der Wohnungstür gekommen und kratzte jaulend dagegen. Der Mann zögerte nicht lange, sondern schloss die Haustür auf und ging die Stufen zum hinteren Garten runter. Er ging über den Rasen, die kleine Treppe hoch auf die Terrasse und stand unmittelbar vor der offenstehenden Tür zum Schlafzimmer seiner Mieterin. „Hallo, rief er, „hallo Frau Bolle, sind Sie okay?" Nichts rührte sich, nur der Hund lief winselnd um ihn herum. Er versuchte, sich bemerkbar zu machen und wäre beinahe über einen Kleiderständer gestolpert, als er die Frau regungslos im Bett liegen sah. Er stand wie versteinert in unmittelbarer Nähe des Bettes und wusste, dass vor ihm eine Tote lag. Er zögerte nicht lange, drehte sich um und lief so schnell er konnte zurück um die Ecke ins Treppenhaus zu seiner Wohnung. Die Tür stand offen, seine Frau befand sich im Bad, als er tief Luft holte, in sein Arbeitszimmer ging, nach dem Telefon griff und 110 wählte.

    „Hier spricht Hans Hausschild aus der Abteistraße. Bitte kommen Sie schnell. Ich habe meine Mieterin tot aufgefunden. Ich erwarte Sie vor der Hausnummer 28."

    Inzwischen war seine Frau aus dem Bad gekommen. Sie stand im Morgenmantel an der Tür gelehnt und starrte ihren Mann ungläubig an. Er war zuerst sprachlos. Dann stand er abrupt auf, ging auf sie zu, umarmte sie und sagte: „Ja, du hast richtig gehört. Sie ist tot. Endlich." Dann ging er ins Bad, putzte sich die Zähne, holte ein Hemd aus dem Schrank, zog es über und merkte erst jetzt, dass der Hund die ganze Zeit hinter ihm herlief.

    Seine Frau benahm sich, wie ein aufgescheuchtes Reh. Sie lief, ohne zu wissen, was sie eigentlich wollte, in der Wohnung hin und her, bis ihr Mann etwas ungehalten sagte:

    „Nun zieh dir etwas über, die Polizei wird gleich hier sein." Und schon hörte man von weitem die Sirenen der herankommenden Polizeifahrzeuge.

    Die Straße wurde nicht nur vom Bereitschaftsdienst der Polizei sondern auch noch von Einsatzwagen der Feuerwehr umstellt. Eine Notarzt-Ambulanz tauchte auch noch auf und verschaffte sich einen Weg auf dem Bürgersteig. Hans Hausschild fasste sich an den Kopf und sagte zu seiner Frau, die nun doch neugierig mit dem zitternden Hund auf den Arm mit runter kam: „Kannst du mir das erklären, was dieser ganze Aufwand soll? Ich habe doch nur die Polizei gerufen?" Er öffnete die Haustür, blieb auf der obersten Stufe der Treppe stehen und wartete auf die sich nähernden Beamten. Außer den beiden uniformierten von der Bereitschaft kamen ihm zwei Herren in Zivil entgegen:

    „Ich bin Kommissar Berger von der Kriminalpolizei, sagte der Ältere von beiden und zückte seinen Ausweis. Der hinter ihm stehende jüngere zeigte ebenfalls seinen Ausweis und fügte hinzu: „Und mein Name ist Pfeiffer, Kriminalassistent vom Kommissariat Wiesendamm, PK 33, und wer sind Sie?

    „Mein Name ist Hans Hausschild, und mit der Hand hinter sich zeigend „und das ist meine Frau Gerda. Wir sind die Besitzer dieses Hauses. Die Tote, Frau Bolle, ist, eh, war meine Mieterin der Wohnung im Hochparterre. Aber, ich weiß nicht, was es soll. Die Dame ist gestorben, sie war bereits über neunzig Jahre alt. Ich glaube nicht, dass die Kriminalpolizei dafür zuständig ist? Nun gut, folgen Sie mir bitte, wir müssen durch den Garten gehen.

    Inzwischen war auch der Notarzt mit seinen Helfern angekommen, die eine Trage mit sich führten. Sie folgten Hans Hausschild die Treppe zum Garten runter, über den Rasen zur Terrasse hoch, durch die offene Tür und standen unmittelbar im Schlafzimmer der Toten. Der Arzt war der erste, der eintrat und sich der Toten annahm. Routinegemäß fühlte er ihren Puls, leuchtete in die Augen, besah oberflächlich ihre Arme und Hände und sprach zu Kommissar Berger gewandt:

    „Tja, meines Erachtens ist die Dame ermordet worden. Vermutlich erstickt, und er zeigte auf das auf dem Boden liegende Kissen, „sie hat sich mit letzter Kraft noch gewehrt, wurde aber festgehalten, man kann die Abdrücke an ihren Schultern und Armen noch erkennen. Der Täter muss Handschuhe getragen haben. Der Tod ist so wie ich es sehe vor zirka drei Stunden eingetreten. Die genaue Zeit sowie Ursache erhalten Sie per Bericht.

    „Also sind wir doch zuständig, äußerte sich Kommissar Berger, dabei blickte er Hans Hausschild und seine Frau herausfordernd an. „Ich möchte Sie bitten, sich für ein vorläufiges Verhör bereitzuhalten. Ach ja, was ich vorerst wissen muss? Haben Sie beim Auffinden der Toten irgendetwas berührt? Sind Sie hier im Zimmer gewesen? Ans Bett gegangen? Und ehe Hausschild antworten konnte, wandte er sich an die Beamten der Bereitschaftspolizei und orderte: „Nehmen Sie bitte mit dem Revier Kontakt auf und sorgen dafür, dass alles weitere in die Wege geleitet wird. Spurensicherung, und so weiter! Und zum Notarzt gerichtet, sagte er: „Doktor, sorgen Sie bitte dafür, dass die Tote zur Untersuchung in die Pathologie nach Eppendorf des Gerichtsmedizinischen Instituts gebracht wird.

    Unterdessen hatte sich Pfeiffer in der Wohnung umgesehen. Gerda Hausschild folgte ihm neugierig und betrachtete die mit Nippes, Kunstblumen und anderen Kinkerlitzchen ausgestattete Behausung. Bisher hatte sie nie Gelegenheit gehabt, sich in dieser Etage umzusehen und war über so viel Geschmacklosigkeit erschrocken. Die Wohnung war total zugemüllt. In einer Ecke stapelten sich meterhohe Berge von alten Zeitschriften und Katalogen. Die Chintz-Sofa-Ecke mochte vielleicht einmal schön gewesen sein, jetzt jedoch waren über die kaputten und schmutzigen Stellen ausgefranste Deckchen gelegt. Von der abgetretenen Auslegeware, auf der mit Hundekot und Urin befleckte Teppiche und Brücken lagen, strömte ein undefinierbarer, ekelhafter Geruch in die Nase. In der Küche quoll der Mülleimer über mit in Plastik eingewickelten Essensreste und leeren Dosen. Und gleich an der Eingangstür standen Hundenäpfe mit vergammeltem Fleisch und stinkendem Wasser. Es war nicht auszuhalten, überall, wohin man auch sah, nur Dreck. Dabei hatte sie doch angeblich Putzfrauen, die sich zwar alle naselang abwechselten, aber immerhin, die mussten doch auch manchmal sauber gemacht haben, oder? Und wo sind die „wertvollen Antiquitäten", mit denen sie sich überall rühmte, geblieben? Denn was sie hier zu sehen bekam, war nichts als Sperrmüll. Gewiss, man mochte es auf ihr Alter zurückführen, aber noch gestern hatte man sie gesehen – aufgetakelt wie eine Jahrmarktsfigur – mit ihrem Hund in den Park oder sonst wo hinfahren. Also war sie noch gut drauf gewesen. Nun war sie tot. Jemand konnte es nicht abwarten und hatte ihr quasi den ´Hals umgedreht´. Nur, wo war das Motiv? Hier war doch nichts zu holen. Und plötzlich kam sie zu der erschreckenden Erkenntnis, dass in erster Linie sie, das heißt, sie beide, ihr Mann und sie, ein unausweichliches Motiv hätten und somit als Täter infrage kämen. Ihr schauderte. Es lief ihr kalt über den Rücken, als sie feststellen musste, dass Hans letzte Nacht eine Zeitlang nicht neben ihr im Bett gelegen hat. Wo war er gewesen?

    Und während sie über diese Möglichkeit nachdachte und es mit der Angst bekam, stand Pfeiffer hinter ihr und sagte: „Frau Hausschild, wissen Sie, ob Frau Bolle Verwandte hatte? Denn jemand wird nach den Ermittlungen für die Bestattung, Auflösung und behördlichen Wege zuständig sein müssen?"

    „Leider, nicht dass ich wüsste Herr Kommissar, das hat immer alles mein Mann erledigt, wenn was war. Ich bin heute zum ersten Mal in dieser Wohnung. Zuvor hat sie mich nie reingelassen. Aber in ihrem Schreibtisch wird man mit Sicherheit etwas Konkretes finden können. Doch jetzt entschuldigen Sie mich bitte, mir ist schon ganz schlecht geworden. Die Luft hier und alles auf nüchternen Magen."

    „Ich verstehe, sagte Pfeiffer und deutete nach hinten, „aber hier können Sie jetzt nicht raus. Sie müssen schon wieder durch den Garten zu Ihrer Wohnung gehen, denn hier muss erst die Spurensicherung alles durchsuchen und danach wird sowieso abgesperrt.

    Gerda Hausschild sah sich um und bemerkte: „Wo ist denn der Hund geblieben? Ich hatte ihn doch auf meinen Arm, als ich hierherkam. Und wer wird für das Tier aufkommen? Wir können ihn nicht nehmen, ich bin allergisch gegen Katzen- und auch Hundehaare."

    Pfeiffer folgte der Frau bis zur Terrasse, holte ein Tempo-Taschentuch aus seiner Jackentasche und tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn. Tief Luft holend krächzte er mehr zu sich selbst: „Die hat doch weiß Gott noch die Heizung laufen."

    Nachdem soweit alles aufgenommen wurde, löste sich allmählich alles auf. Die Tote wurde von den Helfern des Amtsarztes abtransportiert und nach Eppendorf in die Uniklinik gebracht. Hans und Gerda Hausschild gingen nach oben in ihre Wohnung und Berger und Pfeiffer begaben sich vorerst zu ihrem Fahrzeug, das in der Einfahrt des Hauses stand. Berger machte sich Notizen und sagte so nebenbei zu Pfeiffer, der mit langgestreckten Beinen auf dem Beifahrersitz saß und den inzwischen eingetrudelten Menschenauflauf beobachtete:

    „Wir müssen gleich noch mal hoch und uns den Schreibtisch der alten Dame vornehmen. Ich glaube, dass wir dort so manches vorfinden, das uns die Beweise für einen Mordmotiv liefert. Merkwürdig ist nur, dass der Täter nicht danach gesucht hat? Vielleicht wurde er gestört?"

    „Daran dachte ich auch schon, als ich mich am Schreibtisch flüchtig umsah. Wir werden jede Menge Arbeit haben, um nach etwas Brauchbarem fündig zu werden. Die Wohnung ist total zugemüllt. Nicht nur von allerhand Krimskrams, sondern auch von Unterlagen, Belegen und Quittungen jeglicher Art. Sie scheint nichts weggeschmissen zu haben. Da stehen allein drei dicke Ordner mit Prozessunterlagen über die Gerichtsverhandlungen mit dem Hauswirt Hausschild. Sie muss viel Geld gehabt haben, um all die Jahre prozessieren zu können. Anwälte kosten eine Menge Geld, und das wollen sie im Voraus haben. Ich meine: Wenn jemand einen Grund hat, sie zu töten, dann ist es Hausschild."

    Sie gingen durch den gepflegten Vordergarten, die Stufen hoch und diesmal von vorne in die Wohnung im Hochparterre. Berger hatte den Schlüssel in einer Plastiktüte steckend. Beide trugen Untersuchungshandschuhe, um möglichst keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.

    „Heute können wir sowieso nichts mehr machen. Es ist Sonntag, die Spurensicherung kommt erst morgen und bevor die antanzen, werden wir längst hier sein. Jetzt werden wir hier vorne und hinten zum Garten alles abschließen und ein Siegel anbringen. Und während er das sagte, sich noch mal umblickte, kroch unten vom Sofa verängstigt der Hund hervor. „Ja, wen haben wir denn da? beugte sich und hob das Tierchen hoch, „ ich denke, du bist oben bei Hausschilds, was sollen wir mit dir machen? Und zu Pfeiffer gewandt: „Ich denke die Hausschild hat ihn mitgenommen, wir können ihn doch nicht hier alleine lassen.

    Sie war Westfälin

    Ella Bolle war keine Hamburgerin. Sie war Westfälin und in Dortmund geboren. Nach Hamburg kam sie kurz nach dem Krieg, als die Stadt noch in Schutt und Asche lag. Dortmund musste sie Hals über Kopf verlassen, weil sie Dreck am Stecken hatte. Niemand wusste warum. Wie gesagt, es war kurz nach dem Krieg, und schwer zu ermitteln, ob jemand kriminell oder auch nicht war. Jedenfalls munkelte man im Nachhinein, dass sie ihren aus der Kriegsgefangenschaft kommenden Mann, der durch einen Kopfschuss schwer verwundet und deshalb unzurechnungsfähig war, umgebracht hat.

    Hochschwanger stand sie an einem Sonntagmittag im April 1946 auf dem nur teilweise betriebsfähigen Hamburger Hauptbahnhof mit einem kleinen schäbig wirkenden Koffer in der Hand und wusste nicht wohin. Ihr war speiübel. Den ganzen Tag über hatte sie nichts gegessen. Es hätte nicht viel gefehlt und sie wäre ohnmächtig geworden, wenn sie nicht zufällig an einem Bretterverschlag die in großen Lettern handschriftliche Anzeige „Bahnhofsmission" gesehen hätte. Mühsam, den kleinen Koffer hinter sich schleppend, machte sie sich auf den Weg dorthin. Die Helfer in der provisorisch eingerichteten Mission erkannten sofort die Dringlichkeit und riefen die Ambulanz aus dem nächstgelegenen Krankenhaus St. Georg. Und gleich, als sie in der Notaufnahme angekommen war, setzten die Wehen ein. Sie schrie wie am Spieß. Und auch jetzt hatte sie Glück. Der behandelnde Arzt, der längst hätte im Ruhestand sein müssen, sah die verkrüppelte Wirbelsäule der jungen Frau und diagnostizierte, dass es keine normale Geburt sein würde. Sie kam schnellstens in den Kreißsaal, wurde mit Äther narkotisiert und das Kind kam per Kaiserschnitt zur Welt.

    Nach vierzehn Tagen wurde sie entlassen. Das Kind behielt man noch in der Klinik. Ihr war es recht so, denn sie wusste selbst alleine nicht wohin, und mit dem Kind? Sie kannte sich in Hamburg nicht aus und so steuerte sie – noch ziemlich wackelig auf den Beinen – wieder den Bahnhof an. Ihre Lage war alles andere als gut, eher ziemlich brenzlig. Ohne Geld, ohne Zuhause und noch halbkrank setzte sie sich auf eine Bank. Eigentlich sah sie nicht schlecht aus. Sie war ziemlich klein geraten, nicht mal 1,40 m groß, hatte ein niedliches, rundes Puppengesicht, das von blonden Naturlöckchen eingerahmt war und wäre für so manch einen Mann die richtige Wellenlänge. Wenn nur nicht das deformierte Rückgrat wäre. Früher sagte man Buckel dazu. In der Schule, in ihrer Umgebung, in der Familie wurde sie nur „die Bucklige" genannt. Sogar von ihrem eigenen Vater als sie noch ein kleines Kind war. Von ihm bekam sie dazu noch brutale Schläge, die ihre Verkrümmung austreiben sollten. Sie konnte sich nicht wehren. Nicht körperlich. Dafür aber mit ihrem Mundwerk. Bereits als Kleinstkind, kaum dass sie laufen konnte, hatte sie sich den Hinterhofjargon ihrer Spielkameraden angeeignet. Nein, auf den Mund war sie nicht gefallen.

    Es war noch früh am Morgen. Im Krankenhaus forderte man sie auf, das Bett frei zu machen, weil andere, dringende Fälle untergebracht werden mussten. Der Bahnhof war voll. Voller Menschen, die keine Bleibe hatten oder sogenannter ´Nachtschwärmer´, die immer noch, meistens ziemlich angetrunken, einem Abenteuer hinterherjagten. Sie wurde beobachtet. Der Mann kam aus der Bahnhofskneipe, die rund um die Uhr geöffnet hatte und in der er, wie jeden Morgen, einen `Ab-Seiler´ nahm. Max Becker war Nachtclubbesitzer, oder besser gesagt: Bordellbesitzer, in dem größtenteils Schwarzmarktschieber verkehrten. In seinem Etablissement konnte man alles von Waffen bis Penizillin gegen entsprechende harte Währung oder andere wertvolle Tauschmittel erstehen. Sein Bordell würde sich nicht Club nennen dürfen, wenn nicht auch eine Bar dabei wäre. Nur mit der Bedienung dieser Bar hatte er bisher nicht besonders viel Glück. Anfangs wurden die Gäste von einem Barmixer bedient, der, wie sich später herausstellte, schwul war und somit wie ein Magnet Homosexuelle und Lesben anzog, so dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sein Lokal als Schwulenkneipe bekannt geworden wäre. Also musste er ihn, obwohl er gut war, schweren Herzens entlassen. Dann wurde die Bar zunächst von seinen `Damen´ geführt, das aber auch nicht so hinhaute, weil sie immer öfter in die eigene Tasche wirtschafteten. Außerdem wollte er auch nicht jemanden hinter dem Tresen stehen haben, die nicht abgeneigt war für einen Quickie mal schnell zu verschwinden. Jetzt dachte er nur noch an Schlaf und ging in Richtung Kirchenallee, um sich nach etwas Fahrbarem umzuschauen.

    Ella war nicht zu überhören. Neben ihr auf der Bank saß ein nicht gerade attraktiver, heruntergekommener Typ, der im Begriff war, sie anzumachen. „Wenn du Penner, du besoffenes Schwein nicht bald deine dreckigen Pfoten von meinem Koffer nimmst, dann hau´ ich dir deinen eigenen Schwanz um die Ohren, und deine Eier kannst du nur noch in der Gosse suchen, schrie sie in einem Ton, der die Umherstehenden amüsiert aufhorchen ließ. Auch Max Becker kam nicht drum herum sich dieses Spektakel anzusehen. Zuerst sah er nur übergroße Füße, die an zu kurzen Beinen baumelten und die überhaupt nicht zu diesem Zwergwuchs passten. Dann bemerkte er den Höcker auf ihren Rücken und sah in das von blonden Löckchen umrahmte Puppengesicht. ´Mein Gott´, dachte er, ´wie kann man nur so aussehen, das ist ja die reinste Jahrmarktsfigur´? Und plötzlich hatte er eine Idee. Er ging auf Ella zu, schob den Penner zur Seite und fragte: „Was hat dich denn hierher verschlagen? „Was geht dich das an, du Arschloch, hau´ ab! Er überhörte es und sagte in einem ruhigen beinahe flüsternden Ton: „Suchst du Arbeit? Ella, von der leisen, dominierenden Art des Fremden überrascht, antwortete: „Ja, aber nicht als Klofrau. „Dann komm´ heute Abend ab acht ins „Chez Nous, erhob sich und ging. Sie wollte noch fragen „wo", aber er war nicht mehr zu sehen, also stand auch sie auf und begab sich zur Bahnhofsmission, um eventuell einen Teller Suppe zu ergattern.

    Der Tag verging langsam, und es wurde auch wieder ziemlich kalt. Den kleinen Koffer hatte sie bei der Gepäckaufbewahrung gelassen, als sie kurz vor acht vor dem noch nicht geöffneten „Chez Nous" stand und nicht wusste wo der Eingang für Personal und Lieferanten war. Sie wollte schon umdrehen, als sie hinter sich eine Stimme hörte: „Der Chef wartet auf dich, komm." Schaudernd stellte sie fest, dass der Mann mindestens zwei Meter groß war und sie leicht in seine Jackentasche hätte stecken können. Respekt, Respekt, dachte sie und verkniff sich eine entsprechende Bemerkung.

    Das Lokal war noch geschlossen. Der Mann führte sie durch ein Tor zum hinteren Eingang. Wie sich später herausstellte, war es der Türsteher des Etablissements „Chez Nous". Er war derjenige, der dafür sorgte, dass nur auserlesene Gäste Einlass fanden. Und außerdem gehörte er zu den engsten Vertrauten des Chefs. Er öffnete die Tür, schaltete Licht an und ließ Ella die steile Treppe zum Büro hochgehen. Auch wenn sie sich einbildete, nie Angst zu haben, war es ihr doch nicht so ganz wohl dabei. Sie spürte diesen Übermenschen hinter sich und war ihm, was immer auch geschah, quasi ausgeliefert. Zumal er ihr, auf ihre Fragen, wohin es gehen sollte, keine Antwort gab, und es ihr vorkam, als ob die Stufen dieser Treppe nie ein Ende fanden.

    Der Leibwächter, oder wie er sich auch immer nannte, führte sie in einen Raum, in dem nur ein Schreibtisch und ein paar Regale für die Ablage standen. Der Chef, sie nahm an, dass es der Chef war, denn es war der Mann, von dem sie heute Morgen angesprochen wurde, saß hinter dem Schreibtisch auf einen Ledersessel und rauchte. Sie waren alleine. Der Übermensch war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt, aber durch die Tür, durch die sie hier reingekommen waren, ist er nicht rausgegangen. Merkwürdig, dachte sie und wollte dazu etwas sagen, doch durch den Lichtstrahl einer Leselampe wurde sie dermaßen geblendet, so dass sie es instinktiv vorzog, sich nicht zu äußern. Max Becker ließ sie absichtlich im Unklaren, und während er darüber nachdachte, ob sie für die Zwecke, die ihm vorschwebten, geeignet wäre, begutachtete er sie von Kopf bis Fuß. „Setz dich, befahl er und sie war froh, sich endlich auf den einzigen Stuhl im Raum niederlassen zu können. „Hast du Papiere, wollte er wissen und ließ sie nicht aus den Augen. Nun doch etwas eingeschüchtert, nestelte sie an sich herum und holte aus dem Innern ihrer Jacke versteckt ein kleines Täschchen hervor. Sie öffnete es und zog einen von der englischen Besatzungsmacht provisorisch ausgestellten Ausweis hervor. „Woher soll ich wissen, dass du es bist? Woher hast du dieses Stück Papier? Bist du vorbestraft? Warst du im Knast? „Nein, antwortete sie, doch dann überlegte sie, dass es nicht angebracht wäre, um den Brei herum zu reden und fuhr fort: „Das heißt, man hat mich bei einer Razzia aufgegriffen. Ich war aber nur eine Nacht in der Zelle, dann wurde ich freigelassen, meinen deutschen Ausweis hat man dabehalten und stattdessen dieses Papier gegeben. „Hm murmelte er, und hielt immer noch das in Englisch verfasste Blatt Papier in den Händen. Allmählich wurde es ihr zu bunt und ohne seine weiteren Fragen abzuwarten setzte sie sich in Pose, obwohl sie gerade dadurch lächerlich wirkte, stampfte ungeduldig mit ihren viel zu großen Füßen auf und sagte: „Hören Sie, was soll der Scheiß? Ich bin hierhergekommen, weil ich annahm, Sie hätten Arbeit für mich. Entweder Sie sagen mir, was Sie wollen, oder ich haue wieder ab, verstanden? Dabei langte sie so gut sie konnte über den Schreibtisch und riss ihm das Papier förmlich aus den Händen. „Nun werde mal nicht frech, mein Fräulein, wenn ich dich bei mir einstellen . . . Sofort unterbrach sie ihn: „Als was? Als Nutte bin ich wohl kaum geeignet, oder? „ . . . also, wenn ich dich bei mir einstellen will, dann muss ich wissen, wer du bist, woher du kommst, was du bisher gemacht hast und was du gedenkst in Hamburg zu tun, verstanden? Sie sah ein, dass es in ihrer jetzigen Lage nicht angebracht ist großkotzig zu sein und gab klein bei: „Nun gut, ich heiße Ella Bolle, komme aus Dortmund und suche Arbeit, und dass ich nicht für jede Arbeit geeignet bin, das sieht man ja. „Wie alt bist du denn? Und was hast du bisher getan? „Ich bin 25 Jahre alt, habe eine Banklehre gemacht und wurde später gegen Ende des Krieges in die Munitionsfabrik eingezogen. „Hast du schon mal hinter dem Tresen gestanden? „Nein, leider nicht. Und schon sah sie sich wieder auf der Straße stehen, zum Bahnhof gehen und dort in die Mission. Aber „bitte, bitte sagen kam für sie nicht infrage. Lieber würde sie sich ein Hausflur zum Übernachten suchen. Vom Stuhl war sie schon aufgesprungen, und damit er nicht ihr enttäuschtes Gesicht, ihre sich mit Tränen füllenden Augen sah, drehte sie sich um und wollte nur noch zur Tür hinaus. Doch in letzter Sekunde schoss es ihr durch den Kopf, dass sie es sich nicht leisten konnte, hier die Hochmütige zu spielen. Sie musste nach jedem Strohhalm, den dieser Mann ihr reichte, greifen. Sie brauchte ein Dach über den Kopf. Und so wie sie vom Aussehen her gehandikapt war, konnte sie noch nicht einmal unter die Decke eines Kerls kriechen.

    Max Becker hatte wohl

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