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Tote schweigen für immer
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eBook348 Seiten4 Stunden

Tote schweigen für immer

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Über dieses E-Book

Das Unheil bricht über ein idyllisches Eifeldorf herein, als die Leiche einer jungen Frau gefunden wird. Zunächst wollen es die Einwohner nicht wahrhaben, aber der Mörder muss unter ihnen sein. Der vor kurzem zugezogene Marcus Junker trägt ebenfalls ein Geheimnis mit sich. Er war einst erfolgreicher Kommissar bei der Mordkommission in Köln, bis er einen folgenschweren Fehler beging. Psychisch angeschlagen quittierte er den Dienst und suchte einen anonymen Neuanfang. Doch nun holen ihn seine Albträume wieder ein. Als einzige Möglichkeit bleibt ihm, den Mord auf eigene Faust aufzuklären. Widerwillig macht er sich ans Werk, doch trifft er auf eine Mauer des Schweigens und des Misstrauens. Das Dorf birgt ein schreckliches Geheimnis.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum10. Dez. 2012
ISBN9783844242355
Tote schweigen für immer
Autor

Ingo Gach

Ingo Gach war als Redakteur für Printmedien und beim Fernsehen tätig, bevor er freier Journalist wurde. Schon immer hatte er großes Interesse an Geschichte, besonders für die seiner Heimatstadt Köln. So hat er bereits zwei historische Romane veröffentlicht, die zur Römerzeit in Colonia spielen. Ein weiterer Krimi aus der Eifel folgte. »Das Blutgericht von Köln« ist sein erster Mittelalter-Krimi.

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    Buchvorschau

    Tote schweigen für immer - Ingo Gach

    Impressum

    Tote schweigen für immer

    Autor: Ingo Gach

    Copyright © 2012 by Ingo Gach

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    Coverfoto: © Andrea Brenn

    ISBN 978-3-8442-4235-5

    Prolog

    Völlige Dunkelheit umgab sie. Es war nicht wie das diffuse Dämmerlicht, das außerhalb des Dorfs herrschte, wenn man die letzte Straßenlaterne hinter sich gelassen hatte. Das hier war einfach schwarz. Egal, ob ihre Augen offen oder geschlossen waren, sie konnte überhaupt nichts sehen.

    Eine erneute Panikattacke überrollte sie. Wie wahnsinnig zerrte sie an ihren Fesseln und spürte gar nicht mehr, wie der scharfkantige Kabelbinder weiter in ihre Handgelenke schnitt. Sie hatte schon vor Stunden begriffen, dass Befreiungsversuche zwecklos waren, dennoch wollte sie es nicht wahrhaben. Er hatte ihr nicht nur die Hände hinter dem Rücken gefesselt, sondern auch mit einem kurzen Strick an die Füße gebunden, so dass sie in unnatürlicher verkrümmter Haltung im Hohlkreuz lag. Es gab keine Chance, aufzustehen oder sich auch nur wegzurollen.

    Das Atmen fiel ihr schwer, das zähe Klebeband auf ihrem Mund ließ sich einfach nicht lösen, so sehr sie es auch versucht hatte. Schreien war ausgeschlossen. Und selbst wenn sie sich die Lunge aus dem Leib gebrüllt hätte, niemand hätte sie hier hören können. Es war ein fürchterlicher Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab.

    Ihr ganzer Körper schmerzte. Ihre Muskeln wurden immer wieder von Krämpfen geschüttelt und ihre Ellenbogen hatte sie sich auf dem harten Steinboden blutig geschlagen. Die Kälte kroch durch ihren Körper. Sie wollte weinen, hatte aber keine Tränen mehr. Warum, o Gott, warum?

    Erneut fiel in ihrer Nähe ein Wassertropfen. Sie hörte das zarte Platschen des Aufpralls. Wo kam er nur her, es hatte doch seit Tagen nicht mehr geregnet? Im gleichen Augenblick schüttelte sie den Gedanken ab. Wie konnte sie nur an so etwas Unwichtiges wie das Wetter denken? Sie verspürte Durst, schrecklichen Durst. Wann habe ich das letzte Mal etwas getrunken? Sie konnte sich nicht erinnern.

    Ein Geräusch! Ein leises Rascheln. Kam er wieder? Oder hatte sie es sich nur eingebildet? Sie wusste nicht, ob sie sich seine Wiederkehr herbei wünschen oder fürchten sollte. Was würde er mit ihr machen?

    Erneut ein leises Kratzen. War es ein Tier? Hoffentlich waren es keine Ratten. Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass Ratten nachts hilflose Gefangene annagen würden. Die Vorstellung beschleunigte ihren Herzschlag, und sie lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Doch es herrschte völlige Stille.

    Ihre Mutter würde schon längst nach ihr suchen lassen. Ganz bestimmt. Sicher war das gesamte Dorf auf den Beinen, um sie zu retten. Wir konnten uns doch immer aufeinander verlassen.

    Wie spät war es? Selbst am Tag konnte sie nur ein schwaches Zwielicht erkennen. Als die Nacht herein gebrochen war, wurde sie müde und konnte dennoch nicht schlafen. Die Angst hielt sie wach.

    Die Zeit hatte ihre Bedeutung verloren. Es gab nur noch warten und hoffen. So lange sie Hoffnung hatte, würde ihr Überlebenswillen nicht verlöschen.

    Kapitel 1

    Der Himmel war an diesem Morgen tiefblau und wolkenlos, als das Grauen ohne Vorwarnung über das Dorf hereinbrach.

    Eine Fliege setze sich auf mein Gesicht und weckte mich. Ich verscheuchte das lästige Insekt und wühlte mich schweißgebadet aus dem Bett. Vor meinem offenen Schlafzimmerfenster hing ein verrostetes Thermometer. Es zeigte mit 27 Grad um acht Uhr morgens einen neuen Rekord für diesen Sommer an.

    Ich trat an das Fenster und blinzelte nach draußen. Ein Schwall trockenheißer Luft traf meine Haut wie ein Fön. Das Gras in meinem immer noch verwilderten Garten hatte sich gelb verfärbt. Ich nahm mir erneut vor, endlich das Unkraut zu jäten und die Pflanzen rund um mein Haus zu wässern und hoffte, diesmal wirklich daran zu denken.

    Ein stabiles Hochdruckgebiet lag seit einer Woche über der Eifel, was selten vorkam. Zuerst hatten sich alle im Dorf darüber gefreut, aber nun jammerten bereits die Ersten über die Hitze und vor allem über die anhaltende Trockenheit. Das Getreide würde bald verdorren, wenn kein Regen käme. Selbst die Halster, die dem kleinen Ort seinen Namen gegeben hatte, führte nur noch die Hälfte des sonst üblichen Wassers.

    Das Schreckgespenst der Missernte schwebte drohend über dem Tal. Fast alle hier waren von der Landwirtschaft abhängig. Wenn die Einwohner des Dorfs jedoch gewusst hätten, was in den nächsten Tagen noch auf sie zukommen würde, hätten sie eine Dürre mit Freuden vorgezogen.

    Ich schleppte mich zum Kühlschrank, um eine halbe Flasche Wasser leer zu trinken. Es half nichts, ich hatte den Eindruck, als würde mein Körper die Flüssigkeit sofort wieder aus allen Poren herausdrücken. Selbst eine kalte Dusche wollte kaum Linderung bringen. Als ich danach in den Badezimmerspiegel sah, starrte mich ein Gesicht an, das bereits von den ersten Falten durchzogen war und dessen braune Augen leicht gerötet waren. Ich streckte mir die Zunge heraus.

    Den Versuch, meine dunklen Haare in so etwas wie eine Frisur zu bringen, gab ich bald auf. Es war mir egal, da ich annahm, dass mich heute ohnehin niemand sehen würde. Ich sollte mich gewaltig täuschen.

    Mein Frühstück bestand wie immer aus einer Tasse starken Kaffee, bevor ich mich meiner täglichen Arbeit zuwandte. Ich restaurierte alte Motorräder. Dieser Tätigkeit ging ich nun seit fast einem Jahr nach. Im Dorf dachten alle, dass ich schon immer Mechaniker gewesen sei. Ich ließ sie in dem Glauben. Was ich in meinem früheren Leben gemacht hatte, ging niemanden etwas an. Ich wollte nicht, dass es jemand erfährt.

    Zu meiner Arbeitsstätte hatte ich es nicht weit: Es war ein Holzschuppen in meinem Garten, der irgendwann einmal als Garage gedient hatte. Er war geräumig, so dass zwei Wagen bequem nebeneinander hätten stehen können. Doch ich hatte keine Autos in den Schuppen gestellt. Ich öffnete die quietschende Holztür und begab mich an die Reparatur eines vierzig Jahre alten Motorrads der Marke Triumph, das ich vor einigen Tagen in desolatem Zustand günstig gekauft hatte.

    An einer Wand hing ein billiger Kalender, der sich als Beilage in einer Motorradzeitschrift befunden hatte. Im Vorbeigehen registrierte ich, dass wir den dreizehnten August hatten. Ein Tag wie jeder andere, dachte ich flüchtig.

    Das musste ungefähr der Zeitpunkt gewesen sein, als Helmut Rodder verstört ins Dorf gestolpert kam. Ich erfuhr erst später im ‚Dorfkrug’, dass Rodder mit hochrotem Gesicht an einigen Leuten vorbei gerannt war, das Gewehr über der Schulter, und sein imposanter Bierbauch dabei wie wild tanzte. Die wenigen Dorfbewohner, die er traf, hatten ihm verwirrt nachgesehen, doch der Landwirt schien sie nicht einmal wahrgenommen zu haben. Schwitzend und keuchend hatte Rodder schließlich seine Haustür aufgestoßen.

    Sein Anblick hatte ausgereicht, um seine Ehefrau Helga sofort begreifen zu lassen, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, wie sie wenige Stunden darauf aufgeregt in der einzigen Gastwirtschaft des kleinen Orts erzählte. Der Großteil der Dorfbewohner war bei ihrem schluchzend vorgetragenen Bericht anwesend, einschließlich meiner Wenigkeit.

    „Vom Sporttreiben hat Helmut ja noch nie etwas gehalten, und dennoch ist er den ganzen Weg aus dem Wald bis zum Hof gerannt", sagte sie aufgelöst.

    Rodders Passion galt der Jagd, und er war bereits in der Morgendämmerung auf die Pirsch gegangen. Sein gepachtetes Revier grenzte unmittelbar an das Dorf, und bis zum Hochsitz waren es von seinem Bauernhof zwanzig Minuten Fußmarsch.

    Dass Rodder zunächst mit seiner Frau kein Wort gewechselt hatte, sondern an ihr vorbei in das Wohnzimmer gestürzt war, um sich einen Schnaps zu genehmigen, wunderte mich nicht. Es war auch kaum der Erwähnung wert gewesen, denn jeder im Ort wusste, dass Rodder in einer alten Destille hinter seiner Scheune Wacholderschnaps brannte. Schwarz natürlich, aber das störte niemand, schließlich verkaufte er den Schnaps günstig an das halbe Dorf. Er selbst war jedoch sein größter Abnehmer.

    „Helmuts Finger haben beim Einschenken gezittert wie Espenlaub", erzählte Helga und demonstrierte das Zittern mit ihren eigenen Händen.

    Ich saß nur zwei Tische weiter und beobachtete, wie sich ihre Augen langsam wieder mit Tränen füllten. Ihr Taschentuch war bereits völlig zerknüllt und durchnässt, dennoch betupfte sie sich erneut die Augenwinkel.

    „Er hatte die Hälfte des Schnapses auf dem Boden verschüttet, und hat deshalb noch ein zweites Glas hinuntergekippt hat. Erst dann war er in der Lage mir zu sagen, was passiert ist."

    Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als wage sie es kaum auszusprechen. „Eine Leiche liegt beim Hochsitz, hat Helmut schließlich geflüstert. Es war fürchterlich!"

    Helga Rodder wurde für einige Sekunden von ihren Gefühlen übermannt und schluchzte haltlos. Roswitha Schuster, die neben ihre saß, drückte ihr mitfühlend die Hand.

    „Ich habe ihn gefragt, wer es sei, aber er hat erst ein drittes Glas gebraucht, ehe er mir sagen konnte, dass es Melanie ist."

    Alle Anwesenden hielten entsetzt den Atem an, obwohl sie es längst wussten. Aber die Schilderung von Helga Rodder machte ihnen erneut klar, dass das Böse Einzug in Halsterbach gehalten hatte.

    „Du musst zum Jupp, habe ich ihm natürlich sofort gesagt!", fügte Helga Rodder im inbrünstigen Ton noch hinzu, als hätte sie damit die einzig richtige Entscheidung getroffen.

    Weshalb Rodder zuerst Josef Schuster, den Bürgermeister des Dorfes, benachrichtigte, konnte er einige Stunden später der Polizei nicht plausibel erklären. Ich hingegen wusste es: Man misstraute jedem, der nicht von hier stammte. Wenn es ein Problem gab, hatten die Halsterbacher die Angewohnheit, sich immer erst an „Jupp" Schuster zu wenden. Auch wenn der Bürgermeister keine sonderlich große Leuchte war, so war er doch ungeheuer Pflicht bewusst. Tatsächlich war er der Einzige, der sich für das Amt, das er neben seinem Beruf als Landwirt ausübte, überhaupt zur Verfügung gestellt hatte. Er nahm es jedoch sehr ernst und gab sich stets Mühe, eine Lösung für ein ihm vorgetragenes Problem zu finden. Allerdings war seine Suche nicht immer von Erfolg gekrönt.

    Innerhalb des Dorfs verlief der Informationsfluss wie eh und je hervorragend. Es verblüffte mich regelmäßig, wie schnell sich Vorfälle, aber auch Gerüchte in Halsterbach verbreiteten. Als ob jemand mit einem Megaphon durch den Ort laufen würde.

    Helga Rodder hatte ihrem Mann das Telefon aus der Hand genommen, kaum dass er Jupp Schuster über die schreckliche Entdeckung in Kenntnis gesetzt hatte, und sie hatte Renate Kesseling angerufen. Diese führte zusammen mit ihrem Mann Klaus die einzige Bäckerei im Dorf, wo fast jeder Einwohner mindestens einmal am Tag auftauchte. Helga hatte ihrer Freundin Renate mit Entsetzen von der Neuigkeit erzählt. Innerhalb von einer Stunde wusste jeder im Ort, selbst die Bauern und Arbeiter, die auf den Äckern beschäftigt waren, dass Melanie Köhler tot im Wald lag.

    Ich war gerade dabei gewesen, die Vergaser der alten Triumph Bonneville auseinander zu nehmen, als jemand gegen das Tor klopfte, und ehe ich antworten konnte, stand auch schon Hannes im Raum.

    „Morgen, Marcus, alter Schrauber! Ich muss rüber in den Baumarkt, eine Ladung Holzlatten holen und könnte eine helfende Hand beim Einladen gebrauchen."

    Eigentlich hatte ich noch an diesem Vormittag mit den Vergasern fertig werden wollen, aber bei Hannes fiel es mir schwer abzulehnen. Er war es gewesen, der mir mein Leben in Halsterbach wesentlich erleichtert hatte. Am Anfang war ich gegenüber den Einwohnern noch sehr zurückhaltend gewesen, um es vorsichtig auszudrücken. Als ich vor zwölf Monaten hierher gezogen war, erschienen mir alle Kontakte suspekt, und ich versuchte sie weitestgehend zu vermeiden. Die Erfahrungen, die ich in den beiden Jahren zuvor gemacht hatte, waren einfach zu schmerzhaft gewesen. Doch inzwischen mochte ich Hannes mit seinem dröhnenden Lachen. Der riesige Kerl war ein herzlicher Mensch, dem Freundschaft noch etwas bedeutete. Er hatte mich sozusagen unter seine Fittiche genommen und im Dorf eingeführt.

    Ich legte den Schraubenschlüssel auf die Werkbank und versuchte vergeblich, mir die öligen Finger an einem ebenso verschmierten Tuch abzuwischen.

    „In Ordnung, nickte ich, „aber ich möchte mittags wieder hier sein, um die Triumph zusammenzubauen.

    „Wenn der Schrotthaufen seit zehn Jahren nicht mehr gelaufen ist, wird er es auch noch einen halben Tag länger aushalten", erklärte Hannes bestimmt und schob mich aus dem Schuppen.

    Es gab nur eine Durchgangsstraße in Halsterbach. Um zu dem zwanzig Kilometer entfernten Baumarkt zu gelangen, mussten wir zunächst das Dorf durchqueren. Ich saß auf dem Beifahrersitz des alten Mitsubishi Pajeros von Hannes. Er erklärte mir gerade, wie er seinen Dachstuhl weiter ausbauen wollte, als Oliver Barweiler, der Wirt des ‚Dorfkrug’, wild winkend auf uns zu gerannt kam. Hannes musste hart bremsen, um ihn nicht anzufahren. Er ließ das Seitenfenster runtersurren. Keuchend und mit geweiteten Augen stützte sich Barweiler am Dach des Geländewagens ab.

    „Was ist los, Olli?, fragte Hannes grinsend. „Habe ich meinen Deckel gestern Abend nicht bezahlt?

    Barweiler ignorierte die Frage. „Hast du es schon gehört? Die Melanie liegt tot im Wald."

    Wir sahen den immer noch schnaufenden Wirt fassungslos an.

    „Sind Sie sicher?", fragte ich.

    „Ja, nein. Also, ich habe sie noch nicht gesehen."

    „Von wem wissen Sie es?"

    „Helmut hat sie gefunden, sie liegt direkt neben seinem Hochsitz."

    „Scheiße!", fluchte Hannes und drückte das Gaspedal durch, so dass der Wirt einen Satz rückwärts machte. Mich schmiss es gegen die Rückenlehne.

    „Was hast du vor?", fragte ich.

    „Wir müssen sofort hin, vielleicht lebt sie noch! Helmut genehmigt sich auf seinem Hochsitz gerne mal ein paar Schnäpse, da würde ich mich nicht auf sein Urteilsvermögen verlassen, ob jemand wirklich tot ist."

    Ich brachte keinen Ton heraus. Es war genau das, wovor ich geflohen war. Ich fühlte, wie eine eisige Kälte mein Rückgrat entlang kroch. Doch ich hatte keine Wahl, wir fuhren zum Fundort einer Leiche.

    Mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit jagte Hannes den Geländewagen aus dem Dorf hinaus und bog nach hundert Metern in einen schmalen Waldweg ein, der eigentlich für Fahrzeuge gesperrt war. Es schüttelte uns heftig durch, da der Untergrund von Löchern übersät war, aber Hannes ging nicht einen Millimeter von Gas. Ich befürchtete schon, dass die bereits von reichlich Rost gezierte Karosserie einfach auseinander brechen würde.

    Viermal bog er ab, ehe sich nach wenigen Minuten eine Lichtung von etwa dreißig Metern Durchmesser vor uns öffnete. Sie war umgeben von dichtem Laubwald und wuchernden Brombeerbüschen. Am Waldrand stand ein verwitterter Hochstand. Wenige Schritte davon entfernt lag eine leblose Gestalt im Gras. Die Halme standen gut zwanzig Zentimeter hoch und es war aus der Distanz nicht zu sagen, ob es sich um einen Mann oder Frau handelte.

    Hannes machte eine Vollbremsung. Wir sprangen gleichzeitig aus dem Wagen und rannten zu dem regloser Körper. Melanie lag auf der Seite, so dass nur ihre linke Gesichtshälfte zu sehen war. Ihr glasiges Auge starrte in unendliche Ferne.

    Kapitel 2

    Es war nun schon ein Jahr her, dass ich mit meinem betagten VW Bus in Halsterbach angekommen war, einem winzigen Dorf in der Eifel. Eingerahmt von dicht bewaldeten Bergrücken durch deren Tal sich ein kleiner Fluss schlängelte, der dem Zweihundert-Seelen-Ort seinen Namen gegeben hatte. Um das Dorf dehnten sich einige Äcker und Wiesen aus. Selbst für die dünn besiedelte Eifel lag Halsterbach abseits und einsam. Nur eine schmale, kurvige Landstraße, deren Asphaltbelag schon seit Jahrzehnten verfiel, führte in das Dorf hinein und auf der anderen Seite schnell wieder hinaus.

    Es gab hier nichts, was dem zufällig Durchreisenden aufgefallen, geschweige denn gehalten hätte. Der Ort bestand aus ein paar Dutzend Häusern und einer Hand voll Bauernhöfen. Die meisten davon waren alt, verwittert und unscheinbar. Ein Dunst nach Vieh und Ställen lag an windstillen Tagen in der Luft. Die Traktoren malten Lehm verschmierte Spuren auf die Straße, und die Kühe hinterließen auf ihrem täglichen Weg zu den Weiden noch mehr Dreck. Es kümmerte niemand, denn es war immer so gewesen.

    Die aus dunkelroten Backsteinen erbaute Kirche mit ihrem gedrungenen Glockenturm war das einzige größere Gebäude in Halsterbach. Sie war von einem fantasielosen Architekten vor einem halben Jahrhundert entworfen worden, nachdem die alte Kirche abgebrannt war. Der Neubau hatte möglichst wenig Kosten verursachen sollen, was man ihm auch ansah.

    Das Zentrum des Dorfes bildete eine Kreuzung, die die Einwohner ironisch als ihren ‚Marktplatz’ bezeichneten. Dabei war hier noch nie ein Markt abgehalten worden. Lediglich die einzige Wirtschaft mit Namen ‚Zum Dorfkrug’, die direkt an der Kreuzung lag, sorgte dafür, dass dort allabendlich und natürlich nach der Sonntagsmesse die Einwohner zusammenkamen. Eine andere Möglichkeit der Freizeitgestaltung gab es in Halsterbach nicht. Noch nicht einmal ein Fußballplatz existierte, die Dorfjugend kickte notgedrungen auf einer Kuhweide.

    Die Einwohner trugen ihre Arbeitskleidung oft auch nach Feierabend, es legte hier niemand Wert auf schickes Aussehen. Abgesehen davon hätten die meisten es sich auch nicht leisten können. Lediglich die Frauen des Dorfs gaben sich Mühe, falls sie abends ihre Männer in den ‚Dorfkrug’ begleiteten. Sie legten in dilettantischen Versuchen Make-up auf und trugen Frisuren, die schon seit langem aus der Mode waren. Doch die rissige Haut und die Schwielen an den Händen zeugten davon, dass auch sie hart arbeiteten.

    Die Gespräche kreisten immer um die gleichen Themen: die Ernte, die Viehzucht, Fußball und darum, dass die Böschung der Halster endlich befestigt werden sollte, damit der Fluss nach starken Regenfällen nicht mehr über die Ufer treten und die Straße überschwemmen konnte. Doch dafür brauchte man Geld und die Gemeinde war arm, was in Halsterbach überall ersichtlich war. Von der Kreisverwaltung oder gar Landesregierung konnte man – da waren sich alle einige – sowieso keine Unterstützung erwarten.

    Die Bewohner von Halsterbach hatten im Lauf der Geschichte ihres Ortes viele schlechte Erfahrungen mit Fremden gemacht, die sich für ihre Belange nicht interessierten. Weil von außerhalb noch nie etwas Gutes gekommen war, musste die Dorfgemeinschaft zusammenhalten, um sich gegen die restliche Welt behaupten zu können, lautete die einhellige Meinung.

    Am Ortsende stand abseits am Waldrand ein altes, unbewohntes Fachwerkhaus. Das Dach hatte Löcher, der Putz bröckelte von den Wänden, einige Fensterscheiben waren zerbrochen und der Garten völlig verwildert. Um das Grundstück zog sich ein uralter Baumbestand und wuchernde Hecken, weshalb es von außen nicht einsehbar war. Nur ein holpriger Weg aus Lehm und Kies führte über rund fünfzig Meter zu dem niedrigen Tor im Gartenzaun, an dem einige Latten fehlten. Unmittelbar hinter dem Areal plätscherte die Halster entlang.

    Ich werde den Augenblick nie vergessen, als ich zum ersten Mal davor stand. Niemand würde sich hierhin verirren. Mein neues Zuhause. Es kam mir vor wie das Paradies.

    Nachdem ich aus dem Wagen gestiegen war, erschien mir die Stille so unwirklich, dass ich für einen Moment den Eindruck hatte, mit meinen Ohren würde etwas nicht stimmen. Wenn man sein Leben in einer Großstadt wie Köln verbracht hatte, kannte man im Freien das Fehlen der typischen Hintergrundgeräusche von Stimmen, Verkehr und plärrenden Lautsprechern einfach nicht.

    Ich hatte das Haus im Internet bei irgendeinem windigen Immobilienmakler gefunden. Er pries es als „Perle in der Ruhe der Natur und „absolutes Schnäppchen an. Dass er einen überzogenen Preis verlangte, war mir klar, als ich ihm nach der Besichtigung zwanzig Prozent weniger bot und er trotzdem sofort einverstanden war. Aber da der Makler zusicherte, den Verkauf schnell abzuwickeln und innerhalb einer Woche einen Notartermin organisieren zu können, feilschte ich nicht weiter, sondern willigte ein.

    Der Kerl musste mich für einen Idioten gehalten haben, weil ich die schier unverkäufliche Bruchbude genommen hatte. Er hatte sich danach garantiert vergnügt die Hände gerieben, so leicht jemanden ausgenommen zu haben. Es war mir egal.

    Der Makler konnte nicht ahnen, dass es für mich um Leben und Tod ging und es mir einerlei war, wo ich versuchen würde zu überleben. Ich wollte nur weg und alles hinter mir lassen, bevor ich daran zugrunde ging.

    Um mir das Haus leisten zu können, kratzte ich einen Großteil meiner Ersparnisse zusammen, nahm einen Bankkredit auf und verkaufte die Hälfte dessen, was ich besaß. Vor allem die Sachen, die mich an mein früheres Leben erinnerten. Manches entsorgte ich sogar kurz entschlossen auf der Müllkippe. Ich wollte es nicht mehr sehen.

    „Renovierungsbedürftig", wie es in dem Inserat geheißen hatte, war noch eine gnadenlose Untertreibung für den Zustand des Hauses. Es war schon über hundert Jahre alt, und die letzte Besitzerin war im hohen Alter kinderlos gestorben. Eine entfernte Verwandte, die das Haus geerbt hatte und im Ausland lebte, wollte es einfach nur loswerden. Es hatte viele Jahre leer gestanden und niemand hatte die Ruine kaufen wollen. Bis ich kam.

    Andere hätten das marode Gemäuer wahrscheinlich komplett abgerissen. Aber ich hatte Zeit, viel Zeit und kaum eine Vorstellung, was ich damit anfangen sollte. Da kam mir die Aufgabe, mein eigenes Heim instand zu setzen, beinahe wie ein Geschenk vor.

    Ich räumte meine Sachen in das einzige Zimmer, das sich im halbwegs bewohnbaren Zustand befand. Es war nicht viel, was ich aus meinen Wagen laden musste.

    Am nächsten Tag kam der erste neugierige Dorfbewohner, um den Deppen zu sehen, der die alte Ruine gekauft hatte. Er fand mich voller Eifer vor, wie ich versuchte, ein Fenster, das nicht mehr schloss, zu reparieren. Es sah dilettantisch aus und war es auch. Aber ich tat etwas Sinnvolles und allein das Gefühl ließ mich aufblühen.

    Mit einer Bassstimme stellte er sich als Hannes Overich vor und zerquetschte mir beinah die Hand. Er war fast zwei Meter groß mit Pranken wie Bratpfannen. Ich schätze ihn auf mein Alter, Mitte dreißig. Sein verschmitzter Gesichtsausdruck mit den schelmisch blitzenden Augen fiel mir sofort auf. Er erklärte, dass er den Bauernhof ein paar hundert Meter weiter bewirtschafte und ihm jemand aus dem Dorf erzählt habe, dass gestern Nachmittag ein voll bepackter VW Bus mit Kölner Kennzeichen hier angekommen sei. Es war das erste Mal, dass ich erfuhr, wie schnell sich Neuigkeiten in einem kleinen Dorf herumsprechen und jeder über jeden Bescheid wusste.

    Zu meiner Überraschung bot mir Hannes sogar seine Hilfe bei den Reparaturen am Haus an, die ich aber dankend ablehnte. Mit einem Blick auf die massenhafte Arbeit, die mir noch bevorstand, zuckte er nur grinsend die Achseln und meinte, ich könne es mir ja noch überlegen.

    Seitdem arbeitete ich nicht nur an dem Haus, sondern auch an meinem Verhältnis zu den Dorfbewohnern. Dank Hannes verspürte ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder so etwas wie Optimismus.

    Ich renovierte mein neues Heim grundlegend. Sicher fehlte mir für viele Arbeiten die Erfahrung. Ich hatte weder vom Dachdecken, noch vom Verputzen, Heizung reparieren oder vom Fliesen legen viel Ahnung, aber nach und nach begriff ich, worauf es ankam. Als die wichtigsten Reparaturen nach etlichen Wochen schließlich abgeschlossen waren, war ich auch ein bisschen stolz auf mich. Die meisten meiner Werke waren zwar weit entfernt von der Perfektion, aber wenigstens funktionsfähig und manches sogar durchaus ansehnlich.

    Langsam kam ich innerlich wieder zur Ruhe. Hatte ich mich in den Monaten vor meinem Umzug permanent angespannt und ausgebrannt gefühlt, verspürte ich mittlerweile eine gewisse Ausgeglichenheit. Die Tage verliefen beschaulich. Ich konzentrierte mich auf die Reparaturen an meinem Haus und versuchte, mir einen bestimmten Tagesrythmus anzueignen.

    Ich genoss die Stille. Nur hin und wieder hörte ich in der Ferne die Kühe oder das Rattern eines Traktors. Ich musste keinen Menschen sehen, wenn ich nicht wollte, kein Telefon klingelte. Manchmal ließ ich das Werkzeug einfach fallen und durchstreifte stundenlang den Wald. Es hatte etwas Meditatives. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal jemand werden würde, der sich für die Natur begeistern könnte. Es erfüllte mich mit einem bisher unbekannten Gefühl von Frieden.

    Diverse Gerüchte kursierten über mich in Halsterbach, wie ich von Hannes erfuhr. Manche waren amüsant, wie etwa, ich wäre ein abgedrehter Künstler auf der Suche nach Inspiration. Anderen erschien ich eher verdächtig, und sie behaupteten, ich würde mich vor Gläubigern verstecken.

    Es war mir gleichgültig, ich hatte von vorneherein beabsichtigt, meine Berührungspunkte mit den Dörflern auf ein notwendiges Minimum zu beschränken. Meine Introvertiertheit kam den Einwohnern entgegen, denn sie hegten die gleiche Absicht mir gegenüber. Wenn ich während der ersten Wochen durch den Ort ging, folgten mir häufig neugierige Augenpaare. Manche heimlich hinter den Gardinen, andere ganz offen auf der Straße. Nur ein Gespräch wollte niemand mit mir beginnen. Mir was das recht so. Lediglich beim Bäcker und in dem winzigen Laden, der sich hochtrabend ‚Supermarkt’ nannte, war ich gezwungen, Konversation zu betreiben. Man begegnete mir dort höflich, aber wortkarg.

    Trotzdem interessierte alle brennend, wer ich war und was ich machte. Die einzige verlässliche Informationsquelle für sie war Hannes, und der äußerte sich lobend über mich. Nur die Frage, warum ich nach Halsterbach gezogen war, konnte auch er nicht zufrieden stellend beantworten. Ich hatte ihm

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