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Risiko und Nebenwirkung: Kriminalroman
Risiko und Nebenwirkung: Kriminalroman
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eBook344 Seiten4 Stunden

Risiko und Nebenwirkung: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Ein Mord in der Gegenwart. Lang zurückliegende, ungeklärte Todesfälle. Was hat der Apotheker, den man erschlagen im Wald fand, damit zu tun?
Um dies zu verstehen, ist das Ermittlerteam um Kriminalhauptkommissar Julius Emmeran gezwungen, tief in die Vergangenheit einzutauchen. Der Bogen, gespannt von den 1950-er Jahren bis heute, bringt erschütternde Details aus dem Leben des ermordeten Apothekers ans Licht - führt er die Polizei auch auf die richtige Spur?

G.C. Hüls v. Rathsberg verwebt meisterhaft eine dramatische Familiengeschichte mit einer spannenden Kriminalstory.

Die Autorin, deren bürgerlicher Name dem Verlag bekannt ist, verwendet, als Abgrenzung zu ihren bisher publizierten Genres Lyrik und Erzählungen, hier das Pseudonym G.C. Hüls v. Rathsberg. Der Urahn, dessen Namen sie geliehen hat, möge es ihr nachsehen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum10. März 2020
ISBN9783347018655
Risiko und Nebenwirkung: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Risiko und Nebenwirkung - G.C. Hüls v. Rathsberg

    1

    Er besuchte sie regelmäßig. Jeden Samstag. Es gab keine Ausnahme. Außer, es lagen wichtige Gründe vor, die ihn daran hinderten. Zum Beispiel, er hätte Dienstbereitschaft. Aber heute befand sich sein Name nicht auf dem Notdienstplan. Nichts stand seinem Besuch im Wege.

    Um dreizehn Uhr hatten die Mitarbeiterinnen die Apotheke verlassen. Er zählte die Einnahmen – wie jeden Samstag eher spärlich – und schloss das Geld im Tresor ein. Seit er außer einem Päckchen Ritalin keine Betäubungsmittel mehr lagerte, war dort wirklich genug Platz vorhanden. Es bestand kein Grund, die Tageseinnahmen noch in eine Geldbombe zu packen und zum Nachttresor zu bringen. Und außerdem hatte er auch keine Lust, selbst dorthin zu gehen oder überhaupt irgendwohin zu Fuß zu gehen, wenn er genauso gut am Montag das Lehrmädchen schicken konnte. Bevor er sich zu seinem regelmäßigen Besuch aufmachte, wollte er lieber noch ein wenig ruhen.

    Dann seine Utensilien, die für den Besuch unerlässlich waren, zusammenpacken. Dieses Mal steckte er auch Medizin für sie dazu. Allzu oft vergaß sie, sich selbst darum zu kümmern. Oder sie wollte einfach keine mehr nehmen und besorgte sich aus diesem Grund keine.

    Gegen neunzehn Uhr überzeugte er sich, dass die Apotheke ordentlich versperrt war, fuhr den Porsche aus der Garage und machte sich auf den Weg durch die Stadt. Es war den ganzen Tag drückend schwül gewesen, und hier inmitten der City staute sich die Hitze ganz besonders.

    Das Haus, in dem sie ihr Appartement hatte, lag am Stadtrand, nahe am Villenviertel. Aber doch nicht ganz dort, wo die wirklich wohlhabenden Bürger ihre protzigen Emporkömmlingshäuser errichtet hatten. Die meisten in den fünfziger Jahren und entsprechend geschmacklos. Ihr Appartement dagegen befand sich in einem der älteren, gut gepflegten und instand gehaltenen Jugendstilgebäude, das durch einen glücklichen Zufall von den Bomben des Zweiten Weltkrieges verschont worden war. Dort war die Luft weniger stickig. Es gab genügend hohe Bäume, die Sauerstoff produzierten. Er konnte dort freier atmen. Nicht nur wegen der Bäume.

    Ohne auf die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit zu achten, donnerte er über die Stadtautobahn. Wagen, die auf der linken Spur langsamer fuhren, drängelte er rücksichtslos ab. Fast unablässig bediente er die Lichthupe.

    Mit einem letzten satten Röhren des Motors bog er von der Stadtautobahn ab, fuhr mit angepasster Geschwindigkeit durch den Wohnbereich und stellte den Wagen auf dem Besucherparkplatz des Hauses ab. Er hätte ihn nicht absperren müssen, denn die Wagen der anwesenden Gäste wurden im allgemeinen gut bewacht. Tat es aber dennoch aus alter Gewohnheit. Und weil ihm sein Porsche doch sehr am Herzen lag.

    Nachdem er durch die kleine, parkähnlich angelegte Gartenanlage geschritten war, betrat er den Empfangsbereich des Hauses durch ein großes, zweiflügeliges Portal. Dass er sich beim Portier eintragen musste, gefiel ihm schon die ganzen Jahre nicht, seit er dieses Etablissement besuchte. Er hatte es aber mittlerweile als Formsache akzeptiert. Und da er seit langem ein regelmäßiger Stammgast war, reichte es dem Pförtner auch heute, dass er sein Namenszeichen unleserlich in die dafür vorgesehene Spalte des Gästebuches kritzelte.

    „Guten Abend, Herr Tillmann, grüßte der Portier höflich. „Die gnädige Frau erwartet sie schon. Ich habe bereits gekühlten Champagner hinaufbringen lassen. Darf ich sonst noch etwas für Sie tun?

    „Danke, Paul, ich schätze, ich werde auch ohne deine Hilfe gut zurechtkommen. Tillmann grinste anzüglich. „Oder warte, doch. Ich nehme gleich eine Flasche Dimples mit nach oben, den kannst du auf meine Rechnung setzen.

    „Sehr wohl, Herr Tillmann."

    „Und keine Störung für den Rest des Abends, ist das klar?"

    „So klar wie immer, Herr Tillmann. Übrigens, haben Sie vor, uns im Laufe der Nacht noch zu verlassen? Oder beabsichtigen Sie, ein wenig länger zu bleiben?"

    „Hat sie etwa noch Termine nach mir?"

    „Nein, nein, versicherte Paul eilig. „Die Dame steht bis morgen früh zu Ihrer Verfügung, ganz wie Sie es gewohnt sind. Er reichte ihm die kantige Whiskyflasche über den Tresen.

    „Dann ist es ja gut. Schönen Abend noch, Paul."

    „Ebenfalls, Herr Tillmann, ebenfalls! Und, wenn ich anfügen darf, viel Vergnügen."

    Obwohl er die letzte Bemerkung für überflüssig hielt, winkte er dem Pförtner freundlich zu. Er schritt an dem plätschernden Springbrunnen vorbei, der von mehreren nackten Marmornymphen umgeben war, die einem ebenfalls nackten Marmorfaun zu Füßen lagen. Er ging unter einem mächtigen Kristalllüster hinweg auf die geschwungene, breite Steintreppe zu, die nach oben zu den Appartements führte.

    Der weiche Orientteppich, über den wohl die meisten anderen Besucher gedankenlos gingen, weckte jedes Mal aufs Neue seine Bewunderung und gab ihm mit jedem Schritt ein angenehmes Gefühl von Luxus. Eines Luxus, der ihm gleichwohl zustand. Die Türen, die auf zwei Seiten des Eingangsbereiches abgingen, führten in die Fitnessräume des Hauses sowie in den Wohn- und Bürotrakt des Hausbesitzers.

    Er war noch nie durch eine dieser Türen gegangen. Fitness und Sauna waren für ihn nicht von Interesse, und mit den Geschäften des Besitzers hatte er nichts zu tun.

    Heidi erwartete ihn wie jeden Samstag in ihrem Appartement. Die halblangen blonden Haare zu einem losen Pferdeschwanz gebunden. Außer einer dünnen Silberkette und einem schmalen Armreif trug sie keinen Schmuck. Gekleidet in Jeans und T-Shirt, das Gesicht ungeschminkt. Lediglich die langen Fingernägel hatte sie in einem dunklen Rot lackiert.

    Aus dem Lautsprecher des CD-Players drang leise seine Lieblingsmusik. Das Wiegenlied von Johannes Brahms, gespielt in einer Instrumentalfassung. Diese CD würde nun den ganzen Abend und, wenn er so wollte, auch die ganze lange Nacht laufen. So sehr ihr dieses Lied auch auf den Geist ging, es war sein Wunsch. Der Kunde war König, auch hier. Es gehörte zu dem samstäglichen Ritual ebenso wie alles andere.

    Eigentlich war sie ganz froh darüber, dass heute Samstag war und damit Rudolf Tillmann ihr Gast, denn sie hatte die Woche über wirklich viel gearbeitet. Auch mit schwierigen Kunden hatte sie zurechtkommen müssen. Mit Kunden, die teils äußerst merkwürdige bis perverse Wünsche hatten. Und weil dieses Appartement teuer war und sie reichlich Geld für ihren Lebensstil benötigte, den sie mit ihrem Einkommen als Bibliotheksassistentin seit Jahren nicht mehr finanzieren konnte, richtete sie sich, so gut es eben ging, nach den Wünschen ihrer Besucher. Mit wenigen Ausnahmen. Es gab Dinge, die sie prinzipiell zu tun nicht bereit war. Praktiken, die mit Gewalt zu tun hatten, oder der in letzter Zeit wieder häufiger geäußerte Wunsch, auf das Kondom zu verzichten.Bei aller Liebe! So blöd war sie denn doch nicht. Sie war nicht überängstlich, was ihre körperliche Unversehrtheit anging. Doch hatte sie Angst, sich mit HIV zu infizieren.

    Sie hatte in ihrem Beruf ein gewisses Ansehen erreicht und konnte es sich leisten, ihre Kundschaft auszuwählen. Uneinsichtige Freier schickte sie weg. Gelegentlich musste sie Paul über das Handy anrufen und ihn um Hilfe bitten. Der brachte es meist nur durch gutes Zureden fertig, derartige Herren ohne großes Aufsehen hinaus zu komplimentieren. Er konnte aber auch kräftig zulangen, wenn sich einer dieser Kerle sträubte oder handgreiflich wurde. Solche flogen gegebenenfalls auf recht schmerzhafte Weise nicht nur aus Heidis Bett, sondern auch gleich die prächtige Treppe hinunter und aus dem Haus. Und nur ganz ganz selten kam daraufhin eine Anzeige wegen Körperverletzung.

    Im übrigen war Heidi stolz darauf, dass man ihr nachsagte, sie beherrsche jede oder zumindest beinahe jede Stellung des Kamasutra. Was natürlich beileibe nicht zutraf; vom Testosteron gesteuerten Männern konnte man schließlich jedes Märchen auftischen. Das brachte ihr die anspruchsvollsten Kunden ein. Anspruchsvolle Herren waren auch bereit, großzügige Geschenke zu machen. Dadurch verfügte sie nicht nur über ausreichend Bargeld, um ihre täglichen Kosten zu bestreiten (und wenn man darauf achtete, dass man gute Ware bekam, war der Stoff, den sie konsumierte, nicht gerade billig), sondern darüber hinaus besaß sie mehrere Pelze und hatte in einem Banksafe teuren Schmuck deponiert – das war ihre Altersversorgung. Denn sie war sich darüber im Klaren, dass ihr nur noch wenige Jahre blieben, in denen sie arbeiten konnte.

    In wenigen Jahren würde sie sich zu Ruhe setzen. Die Vorstellung, eine ältliche, abgehalfterte Hure zu sein und nicht mehr die gefeierte Diva unter den Freudenmädchen, erschreckte sie. Aber so weit würde es nicht kommen. Das Geheimnis lag nur darin, rechtzeitig Schluss zu machen. Wie bei den meisten anderen Dingen.

    Jetzt allerdings war angesagt, Rudolfs Wünsche zu befriedigen. Das hieß für sie, dass ihr ein ruhiger Abend bevorstand, vollkommen ohne Akrobatik. Rüdi, wie sie ihn nennen sollte, stellte wenig Ansprüche und war dennoch ausgesprochen großzügig, was Geldgeschenke anging. Er hatte aus ungenannter Quelle häufig auch Stoff für sie dabei. Erstklassigen, darauf konnte sie sich verlassen. Wenn sie sparsam war, reichte das Heroin die ganze Woche.

    Andererseits war Rudolf Tillmann auch nicht gerade der Typ Mann, der bei Frauen, die Sex nicht verkauften und auch keine Geschenke erwarteten, besonders gute Chancen gehabt hätte: obwohl nahe dem Rentenalter, hatte er immer noch das Gesicht und den Rücken voller Aknepickel, auch die Pobacken waren davon übersät. Heidi vermied es, so gut es ging, ihn an diesen Stellen zu berühren. Meistens wollte er ohnehin nicht, dass sie ihn irgendwo anfasste. Er roch auch nicht gut. Ständig wehte aus seinem Mund ein Geruch nach angefaulten Zähnen und Alkoholdunst. Seinem unsteten Blick konnte sie in den ersten Wochen, in denen er sie besuchte, kaum Vertrauen abgewinnen. Er wirkte auf sie immer ein wenig irre. Mit der Zeit hatte Heidi aber erfahren, dass Rudolf zumindest harmlos war. Wenngleich nicht liebenswert im eigentlichen Sinn dieses Wortes. Wenn Rudolf Heidi mit seinen Händen berührte, hatte sie ständig das Gefühl weicher, schwammiger Würmer, die über ihre Haut krochen. Überhaupt war der ganze Mensch auf eine merkwürdige Art weich und schwammig, besonders der dicke, aufgeschwemmte Bauch. Leider begrapschte er Heidi bei seinen Besuchen oft und gerne, sodass sie sich manchmal fragte, ob während der Woche, die er in seiner Apotheke verbrachte, seine weiblichen Mitarbeiter nicht ständig auf der Hut sein müssten. Rudolfs Gang war eher schleichend, als wolle er vermeiden, dass jemand seine Schritte hörte. Die Stimme verwaschen, leise, hörte sich teilweise ängstlich, verschwörerisch an, wurde mit jedem Glas Alkohol nuschelnder und unverständlicher. Und er trank eine ganze Menge, nicht nur während seiner Bordellbesuche, sondern, wie sie herausgefunden hatte, auch die ganze Woche über. Tagsüber in der Apotheke, abends vor dem Fernseher, wohin er sich nach Feierabend alleine zurückzog.

    Rudolf hatte Heidis Räume betreten. Er begrüßte sie flüchtig und stellte erleichtert fest, dass sie, gemäß seiner Anordnung, aussah wie eine x-beliebige Frau. Ihren Beruf als Prostituierte wollte er ihr nicht ansehen müssen. Prostituierte erweckten seinen Abscheu. Erst wenn er hier war, durfte sie sich verwandeln.

    „Los, jetzt zieh dich um!"

    Heidi zog sich das T Shirt über den Kopf, wobei Rudolf sich höflich umdrehte. Währenddessen nahm er die Champagnerflasche aus dem Kühler und öffnete sie. Er goss zwei schlanke Gläser voll und quengelte ungeduldig:

    „Und, bist du fertig? Warum brauchst du heute so lange?"

    „Einen winzigen Augenblick noch, Rüdilein, die Haare sitzen noch nicht richtig."

    Heidis Veränderung war verblüffend. Aus der flotten, modischen war nun eine hausbackene Frau geworden.

    Doch trugen ganz bestimmt nur die allerwenigsten, selbst die bravsten und biedersten, Frauen nachts, wenn sie mit ihrem Ehemann(?) intim wurden, nicht so ein Zeug, wie es Rudolf von ihr verlangte. Nichts darunter, ganz besonders nicht Reizwäsche in irgendeiner Weise, und darüber ein wadenlanges Flanellnachthemd, so wie es wahrscheinlich in den fünfziger Jahren einmal in Mode gewesen war. Und damals auch nur dann getragen wurde, wenn die Eheleute keine nächtlichen Aktivitäten geplant hatten. Der Grund vanillegelb, mit neckisch verstreutem Blümchenmuster, dazu ein reizender kleiner Spitzenkragen und ein gelbes Bindebändchen aus Satin. Auf jeden Fall viel zu warm für diesen schwülen Sommerabend. Sie würde die Nacht über umkommen vor Hitze, das wusste Heidi jetzt schon. Auf keinen Fall durfte sie Parfüm auflegen, einige Spritzer Kölnisch Wasser dagegen waren gestattet. Unter der Perücke, die sie unter allen Umständen tragen musste, um bei Rudolf auch nur die kleinste Reaktion hervorzurufen, begann sie jetzt schon zu schwitzen. Sie war ebenfalls nach Art der Jahre, als Rudolf noch ein Kind gewesen war, geschnitten. Die durfte sie auf keinen Fall abnehmen, solange er bei ihr war. Dunkelbraun, vorne in einer flotten Welle nach hinten frisiert. Die halblangen Haare musste sie regelmäßig auf große Lockenwickler drehen, damit sie brav in weichen Wellen auf ihre Schultern fielen. Lockenwickler wollte Rudolf allerdings nicht bei ihr sehen. Als es trotzdem einmal passiert war, dass sie vergessen hatte, einen zu entfernen, hatte Rudolf sie geschlagen. Nicht sehr derb, aber trotzdem schmerzhaft. Hauptsächlich war sie aber erschrocken gewesen. Rudolf war im Bett sonst immer ein sehr braves Kind.

    „Nun mach schon." Rudolf öffnete den Whisky. Er verzichtete darauf, ein Glas zu benutzen, und nahm einen kräftigen Zug direkt aus der Flasche.

    „Kannst dich umdrehen, Schatz, jetzt passt alles."

    „Dann mach mich jetzt fertig, Mama."

    Von diesem Moment an nannte er sie stets Mama. Das hatte sie anfangs irritiert. Andererseits hatte sie wahrlich schon schlimmere Perversionen erlebt, als dass sie dies noch groß erschüttern konnte. Wenn er einen Ödipuskomplex hatte, hatte er eben einen, basta.

    Jetzt war es Heidis Aufgabe, Rudolf zu entkleiden. Stand er in Socken und Unterhose vor ihr, ließ er sich gewöhnlich mit einem leisen Seufzen rücklings auf ihr Bett fallen. Sie kniete davor nieder und entfernte die Strümpfe. Bevor sie sich an der immer leicht angeschmuddelten Unterhose zu schaffen machen durfte, musste sein hellblauer Frotteeschlafanzug bereit liegen. Beim Ausziehen des Schlüpfers durfte sie ihn dann erstmals ein klein wenig streicheln. Das reichte meistens aus, um seine Erregung zu wecken.

    Heidi erhob sich von den Knien und begann, Rudolf das Oberteil überzuziehen. Zuerst die Ärmel, dann über den Kopf. Die Frotteehose brauchte er erst später. Wenn sie ihre Arbeit getan hatte.

    Während dieser Aktion hatte Rudolf gelegentlich am Champagner genippt und häufiger die Whiskyflasche angesetzt, sodass er nun schon reichlich angetrunken war. Auch Heidi forderte er auf zu trinken. Sie blieb beim Champagner. Whisky mochte sie nicht.

    „So, und jetzt leg dich ins Bett und mach die Beine breit!"

    Heidi tat wie geheißen. So war es immer, so war es auch heute. Blümchensex. Langweiliger Hausfrauensex. Ein bisschen fummeln, ein bisschen vögeln, und nach fünf Minuten würde sie ihren Job erledigt haben. Rudolf kletterte dann mit einem zufriedenen Grunzen von ihr herunter, drehte sich auf die Seite und schlief nach wenigen Augenblicken ein.

    Obwohl sie um Himmels Willen keine Hausfrau diskriminieren wollte. Sie war sich der Tatsache, dass die meisten Hausfrauen durchaus ihre Fantasie benutzten und alles andere, nur nicht die Missionarsstellung bevorzugten, durchaus bewusst.

    Hatte Rudolf später seinen Alkoholrausch ausgeschlafen, machte er sich, ohne sie aufzuwecken, auf den Heimweg. Morgens würde sie wie immer einige größere Geldscheine auf der Kommode finden. Die Höhe der Geschenke überließ sie stets dem Kunden.

    Jetzt begann Rudolf zaghaft, ein wenig zwischen ihren Beinen herumzufummeln. Allerdings war bei ihm nicht die geringste Spur einer Erektion zu bemerken, sodass Heidi schließlich vorsichtig anfragte:

    „Soll ich dir helfen, mein Liebling? Du weißt schon…"

    „Sei still, ich schaff das schon".

    Tat er aber nicht, und als sich nach weiteren Minuten immer noch nichts tat, berührte sie ihn ganz vorsichtig mit der Hand.

    „Hör sofort damit auf, sofort! Habe ich gesagt, du sollst mich anfassen? Du führst dich auf wie eine Hure, Mama!"

    „Entschuldige bitte, hauchte Heidi. „Lass dir doch helfen! Komm schon, du weißt doch, ich habe da ein paar Tricks auf Lager. Siehst du? So zum Beispiel… Heidis erfahrene Hände strichen liebkosend über ihn, mit dem Ziel, sein schlafendes Glied zum Leben zu erwecken.

    Statt dessen fuhr Rudolf hoch und griff nach der Whiskyflasche.

    „Rüdi?"

    „Halt´s Maul und leg dich hin!"

    „Willst du wirklich nicht…?"

    „Nein, du alte Sau, halt bloß deine Pfoten von mir fern, sonst knallt es!"

    Heidi wurde blass. Im nächsten Moment war Rudolf wieder ganz gelassen.

    „Mach die Augen zu und schlaf jetzt, ist doch kein Problem! Wir ruhen uns jetzt aus! Er gab ihr lächelnd ein Küsschen auf die Nasenspitze und zog die Zudecke zurecht. „Vögeln wir eben später. Griff schon wieder zur Flasche und nahm einen tiefen Zug.

    Ganz plötzlich riss er die Decke weg und schlug mit der Faust in ihren Bauch. Heidi krümmte sich vor Schmerz.

    „Du blöde, alte Hure, nicht einmal das kannst du, kreischte er hysterisch. „Was glaubst du denn, wozu ich überhaupt hierher komme, du Aas? Aber das wird jetzt sowieso alles anders. Ich komme nämlich überhaupt nicht mehr zu dir. Ich habe jetzt schließlich Eva-Maria, die liebt mich wirklich. Ich werde sie heiraten, und dann ist Schluss mit dreckigen Nutten. Schämst du dich denn gar nicht? Alte, dreckige, verfickte Hurensau! Und für so etwas zahle ich einen Haufen Geld, nicht zu fassen! Er holte aus und versetzte Heidi einen kräftigen Fausthieb ins Gesicht, so dass ihre Oberlippe aufsprang und heftig blutete. In Sekundenschnelle verfärbte sich ihre Wange rotviolett. In panischer Angst angelte Heidi nach dem Handy, das gewöhnlich griffbereit neben dem Bett lag. Rudolf war schneller. Er ergriff das Handy und hatte mit einem Ruck den Akku entfernt.

    „Ruf doch um Hilfe, doofe Kuh!"

    Vor Angst und voller Schmerzen begann Heidi zu schluchzen. Höhnisch lachend hielt er das unbrauchbare Telefon in die Höhe, um es ihr gleich darauf mit voller Wucht gegen die Schläfe zu schlagen.

    Er setzte sich rittlings auf ihren Bauch. Seine Oberschenkel umklammerten sie wie ein Schraubstock, sodass sie unfähig war, sich zu bewegen. Er versetzte ihr mit der Handfläche eine kräftige Ohrfeige.

    „Rudolf, bitte, was tust du denn? Bitte, bitte beruhige dich! Ich mach bestimmt alles, was du möchtest, du musst es nur sagen. Tu mir bitte nicht mehr weh!", flehte sie unter Tränen.

    „Tu mir nicht weh, tu mir nicht weh!, äffte er kindisch nach. „Keiner tut dir weh, wenn du machst, was du sollst. Sei jetzt ganz still und schlaf, dann tut dir niemand etwas.

    „Wirklich, Rudolf? Ist es vorbei? Rudolf, ist es vorbei? Angstvoll sah Heidi zu ihm auf. „Ich hatte solche Angst vor dir! Bist du jetzt wieder in Ordnung?

    Rudolf lockerte seinen Klammergriff.

    „Aber sicher, Mama, dir passiert nichts mehr, versicherte er. „Du kannst jetzt ruhig schlafen, ich versprech es dir.

    Er stand vom Bett auf und machte sich an seiner Ledertasche zu schaffen, in der er seine Ausrüstung mitzubringen pflegte. „Aber vorher musst du deine Spritze bekommen, Mama. Du weißt doch, ohne sie wirst du krank!"

    Jetzt war er wieder ganz der brave kleine Junge.

    „Hier, trink zuvor noch einen Schluck Champagner, dann spürst du den kleinen Piks nicht so sehr!"

    Auch das war Bestandteil des Rituals. Nach erfolgter Befriedigung setzte Rudolf Heidi meistens eigenhändig einen Schuss. Heidi wollte heute lieber nicht. Rudolf war nicht wiederzuerkennen. Er war eigentlich kein gewalttätiger Mensch. Irgend etwas in ihm war ausgerastet. Er war unberechenbar, wie sie selten einen Menschen erlebt hatte. Wer konnte wissen, ob er sie nicht verletzte, ob er die richtige Dosis fand? Andererseits hatte sie Angst, dass er sie gleich wieder schlagen würde, wenn sie wagte, das Ritual zu unterbrechen. So hielt sie ihm gehorsam den Arm hin.

    Heidi war nicht sicher, ob sie überhaupt richtig mitbekam, was Rudolf mit ihr tat. Der Schlag auf die Schläfe hatte sie beinahe bewusstlos gemacht. Jetzt war ihr schwindlig und sie spürte, dass sie nahe an einer Ohnmacht war. Sie hatte wahrscheinlich auch zu viel von dem Champagner getrunken.

    Rudolf stach die aufgezogene Spritze in Heidis Armbeuge und drückte eine tödliche Dosis einer trüben Flüssigkeit in ihre Vene. „So, schon vorbei! War doch gar nicht schlimm, Mama! Und jetzt schlaf, ich bleib noch bei dir, bis du eingeschlafen bist."

    Irgendwie war es anders als sonst. Im ersten Moment spürte sie gar nichts, dann drehte sich auf einmal das ganze Zimmer um sie. Muss ein komisches Zeug gewesen sein, dachte sie verwirrt. Das Blut rauschte wie Meereswogen laut in ihren Ohren. Auf einmal wurde ihr schrecklich elend, und der kalte Schweiß brach aus allen Poren. Sie musste dringend ins Badezimmer gelangen, sie würde sich gleich übergeben müssen. Scheiße, das war eine gewaltige Überdosis! Mehr unterbewusst spürte sie, dass sie Hilfe brauchte.

    „Muss Paul rufen…! Handy…! Wo…?"

    Doch als sie versuchte, aus dem Bett zu kommen, gelang es ihr nicht. Einen Augenblick später wusste sie nicht, ob ihr nun schlecht war oder ob sie Heißhunger verspürte, und noch eine Sekunde später sank sie langsam durch eine weiche, wabbelige Masse in ein bodenloses Loch, bevor sie von einer tiefen Bewusstlosigkeit erfasst wurde. Heidi starb unter den lieblichen Klängen von Brahms` Wiegenlied.

    „Siehst du, Mama, jetzt ist alles gut, flüsterte Rudolf. Mit einem Papiertaschentuch tupfte er vorsichtig das Blut von ihrer Lippe. Er befeuchtete die Ecke eines Handtuches und kühlte damit das Hämatom in ihrem Gesicht. Er legte sich zu ihr ins Bett und küsste sie sanft auf die Stirn. „Jetzt träum süß. Morgen haben wir alles vergessen!

    Rudolf Tillmann zog die Zudecke bis ans Kinn und kuschelte sich zufrieden an seine Mama, die ganz ruhig neben ihm schlief.

    2

    Rudolf zieht sich die Zudecke bis unter das Kinn und versucht einzuschlafen. Es ist kalt in dem Zimmer mit den hohen Wänden, denn der Onkel gestattet nicht, die Schlafräume zu heizen. Aber es nicht nur die Kälte, die Rudolf nicht einschlafen lässt. Aus dem Treppenhaus hört er wieder diese Stimmen, laut und böse. Die lassen ihn keine Ruhe finden. Er wundert sich, dass Nele schon eingeschlafen ist. Nele soll auch schlafen, schließlich ist sie ein Jahr älter als er und soll im nächsten Herbst eingeschult werden. Aber vielleicht schläft sie auch nicht, vielleicht hat sie die Decke nur bis über die Ohren gezogen, um nicht hören zu müssen, wie die Eltern sich gegenseitig anbrüllen, wie der Onkel dazwischengeht mit seiner lauten, herrischen Stimme. Rudolf kann das nicht, er will hören, will nicht hören, will hören, spitzt die Ohren, dass ihm nichts entgeht.

    „Mitspracherecht, ha, dass ich nicht lache! Alles willst du an dich reißen! Die Apotheke soll ich dir überschreiben! Lange Finger machst du nach meinem Eigentum! Meinem Eigentum, merk es dir genau! Alles hier gehört mir, du bist ein armer Schlucker!"

    „Ist ja gut, Onkel! Wir sind dir wirklich sehr dankbar, dass du uns damals aufgenommen hast, aber…"

    Dann die grobe Stimme des Vaters:

    „Klara, das geht dich nichts an! Du kannst ja schließlich den ganzen Tag machen, was du willst."

    „Was? Ich kann machen was ich will? Du erlaubst mir ja nicht einmal, dass ich die Kinder in den Kindergarten bringe. Du sperrst mich hier ein! Weißt du eigentlich, wie lange ich schon nicht mehr vor der Haustür war? Nein? Seit Rudolf geboren ist, sitze ich nun schon hier in diesem alten Kasten fest! Das raubt mir die Luft, verstehst du?"

    „Wie? Willst du damit sagen, ich raube dir die Luft? Ich raube dir irgendetwas? Du bist anscheinend zu blöd zu begreifen, dass ich dich zu deinem Schutz einsperren muss. Denkst du etwa, das fiele mir leicht? Sag noch ein einziges Mal, ich beraube dich, dann kracht es aber gewaltig."

    Zur Unterstützung seiner Worte gibt Johannes Tillmann seiner Frau eine laute Ohrfeige.

    Dann wieder der Onkel:

    „Da siehst du es ja! Nicht einmal deine eigene Frau hast du im Griff! Schlagen musst du sie! Etwas anderes fällt dir wohl nicht ein? Er lacht höhnisch. „Wie denkst du denn, dass du Personal führen könntest? Oder mit den Vertretern verhandeln? Willst du die ebenfalls schlagen, wenn sie nicht nach deinen Wünschen tanzen?

    „Ach, Onkel, es ist schon in Ordnung so. Du kannst Johannes ruhig mehr vertrauen, sieh, ich vertrau ihm doch auch. Er schlägt mich nicht absichtlich! Nicht wahr, Johannes, das war nur ein Ausrutscher. Es hat auch nicht sehr weh getan."

    „Was, nicht sehr weh getan?"

    Unbeherrscht schlägt Johannes abermals zu. Dieses Mal platzt ihre Lippe auf. Mutter schluchzt leise auf.

    „Das hast du davon, dich in geschäftliche Gespräche einzumischen, blödes Weib. Mehr kannst du nicht! Kein Wunder, hast ja auch nichts gelernt".

    Zaghaft die Mutter: „Du weißt sehr gut, dass ich etwas gelernt habe."

    „Tanzen, ja? Dass ich nicht lache, ha ha, tanzen! Und saufen, jawohl, das kannst du auch! Und dich an meinen Medikamenten vergreifen! Oder denkst du, ich merke nicht, wie häufig der Bestand an Tranquilizern nicht stimmt? Aber meinetwegen, mach dich doch ruhig kaputt, ist schon ein Schmarotzer weniger in meinem Haus. Johannes hat

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