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Halbseelen: Der Fluch
Halbseelen: Der Fluch
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eBook824 Seiten12 Stunden

Halbseelen: Der Fluch

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Über dieses E-Book

Eine Insel ohne Magie.
Ein von den Göttern verlassenes Königreich.
Ein Fluch, der seinen Tribut fordert.
Ein unbekannter Feind mit einem unbekannten Ziel.
Zwei Prinzen und ein Sturm der Gefühle.
Und eine junge Frau, die sich vor einer unlösbaren Aufgabe wiederfindet.


Nathaira, eine begabte Heilerin, hat sich nie um ihr Schicksal gesorgt. Sie trägt ein Zeichen auf ihrem Arm, doch nur eines der vielen Mädchen, welche die Tätowierung der Halbseele mit ihr teilen, wird in die Hauptstadt geschickt. Dort muss sich die Auserwählte dann zwischen einem der beiden Prinzen entscheiden, denn einen von ihnen wird sie zum neuen König machen und an seiner Seite herrschen. So will es der Fluch, der Nathaira mit voller Wucht und völlig unerwartet trifft.
Doch nichts ist so, wie es scheint, und verloren geglaubte Magie brodelt unter der Oberfläche. Bald findet sich Nathaira in einem Kampf der Gefühle wieder, dem sie sich unweigerlich stellen muss, genauso wie den Geheimnissen, die nach und nach ans Licht kommen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum11. Okt. 2021
ISBN9783754368688
Halbseelen: Der Fluch
Autor

Mell E. Grosch

Mell E. Grosch wurde 1990 in einer kleinen Stadt in Baden-Württemberg geboren. Dort wohnt sie noch immer mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern. Schon früh zeigte sich ihre ausgeprägte Fantasie und ihr Talent, Geschichten und Gedichte zu schreiben. Als Hausfrau und Mutter hat sie nun ihre Zeit genutzt, um die Ideen, die sich über die Jahre gesammelt haben, zu verschriftlichen.

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    Buchvorschau

    Halbseelen - Mell E. Grosch

    Für alle, denen mein Herz gehört.

    Freunde.

    Familie.

    Und Freunde die Familie wurden.

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Venia

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Venia

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Venia

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Venia

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Venia

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    Venia

    Kapitel 22

    Kapitel 23

    Epilog

    Über Asche und Knochen wird derjenige herrschen, der diesen Krieg gewinnt. Ein

    Königreich aus Kadavern.

    Ihr habt mir keine Wahl gelassen.

    Ich verfluche Eure Familie und das ganze Land! Ich werde Euch zwingen, in

    Frieden zu leben. Werde Euch zwingen, Euch um die Menschen zu kümmern, die

    Ihr so lange vernachlässigt habt.

    Von nun an soll nur eine Familie über die Insel herrschen! Kein Krieg mehr um

    Land oder Macht. Und keiner von Euch wird entscheiden können, wer es sein wird.

    Ihr und Eure Nachkommen werden je einen Sohn gebären, so wie ehr es jetzt

    habt. Und nur diesen einen! Ihr werdet sie in kurzen Abständen gebären müssen,

    sodass sie kaum älter als der andere sein werden. So wie Eure Söhne es vor sieben

    Jahren waren.

    Ist der zweite Erbe geboren, wird zwei Jahre später, noch vor der

    Sommersonnenwende, ein Kind geboren. Ein Mädchen des Volkes, das dazu

    bestimmt ist, einen Eurer Söhne zu erwählen und zum König zu machen.

    Ihr werdet sie finden, in ihrem neunzehnten Lebensjahr.

    Ihr werdet sie erkennen, an den gespaltenen Augen.

    Ihr werdet sie zu euch holen, sie schützen und Ihr werdet sie wählen lassen.

    Prolog

    Die Schreie des angeketteten Mädchens verklangen im Dunkeln. Sie waren von solcher Intensität, dass der Heilerin die Laute in ihrem Innersten nachhallten. Wahrscheinlich würde Venia den Rest ihrer Tage davon träumen. Dieser Klang der Verzweiflung würde sie verfolgen und an die ewige Schuld und Verderbtheit erinnern, die von nun an an ihr hafteten.

    Aber es war unverzichtbar. Hätte Venia eine andere Wahl, hätte sie diese ergriffen. Doch die gab es nicht.

    Ein solcher Zauber hatte seinen Preis. Und sie hatte einen hohen Preis bezahlt. Wenngleich sie ihn nicht mit ihrem eigenen Blut beglich.

    Wie sonst hätte sie ihnen eine Lehre erteilen sollen? Wie ihnen ihre Gier nach Rache austreiben können, sodass sie anfangen, an ihr Volk zu denken? Menschen, die hungerten und litten in diesem Krieg, und das schon seit sieben Jahren.

    Ein Volk, das starb.

    Wie viele Freunde und Familien hatte sie sterben sehen? Sie wusste es nicht, hatte aufgehört zu zählen, aufgehört zu trauern. Ein Leid ohne Ende. Deshalb blieb ihr keine Wahl und deswegen hatte sie die Seele zerrissen. Venia hatte das Blut der Frau gebraucht. Das Blut ihrer Familie.

    Die Bilder dessen, was sie ihr angetan hatte, loderten auf, sobald sie die Augen schloss. Sei es nur, um zu blinzeln. Doch es war nicht mehr zu ändern, selbst wenn sie es gewollt hätte. Der Fluch war gesprochen. Sie war müde und erschöpft, doch sie war nicht fertig. Sie musste die Geschichte niederschreiben, ein Grab ausheben und eine Frau hineinlegen. Venia wollte ihren Leichnam nicht den wilden Tieren überlassen, die Frau hatte genug unter ihrer Hand gelitten.

    Wieder tauchen diese Bilder in ihrem Kopf auf. Es war so viel Blut zu sehen, so viele Schreie zu hören. Götter, sie war so müde. Sogar das Atmen fiel ihr schwer. Doch sie kam nicht umhin, weiterzumachen. Die Geschichte für spätere Generationen festzuhalten. Die Lösung bereitzuhalten für einen Tag in weiter Zukunft. Die Heilerin dürfte nicht müde werden, jetzt nicht. Erst musste sie schreiben und eine Grabstelle ausheben. Eine Stelle für die Frau, deren Seele sie zerrissen hatte. Und vielleicht ein zweites Grab für sich selbst.

    Kapitel 1

    Ich wusste, dass ich nicht in meinem eigenen Bett lag, lange bevor ich die Augen aufmachte. Den angenehmen Duft um mich herum kannte ich nur zu gut. Cedric war mein bester Freund und wir kannten uns schon eine Ewigkeit. Sein Geruch war es, der mir in der Nase kitzelte und mich weckte.

    Vorsichtig öffnete ich die geschwollenen Lider. Das Licht, das durch das kleine Fenster hereinströmte, blendete mich, also schloss ich die Augen nochmals für einen Moment. Wenn ich getrunken hatte, war ich zu meinem Verdruss sehr lichtempfindlich.

    Cedric und ich waren nach der Arbeit in den Pub gegangen. Borks Schuppen war zwar kaum als solcher zu bezeichnen, aber für ein Dorf wie Linatau war es ein Wunder, dass es einen Ort gab, an dem man selbst gebrauten Schnaps und ein gewisses Maß an Unterhaltung bekam.

    Der Abend war etwas aus dem Ruder gelaufen, als Brok beschlossen hatte, mit uns zu trinken. An irgendeinem Punkt hatte der alte Haudegen sogar seine Fidel herausgeholt und zu spielen begonnen. Das war der Moment, an dem wir angefangen hatten uns selbst den Serik nachzuschenken. Ich konnte mich kaum noch daran erinnern, was danach passiert war und wie wir zu ihm nach Hause gekommen waren.

    Vorsichtig drehte ich mich zur Seite und stützte den Kopf auf meine Hände. Cedric musste meinetwegen ja nicht aufwachen. Seine regelmäßige Atmung sagte mir, dass er tief und fest schlief und ich hatte nicht vor, das zu ändern. Ich betrachtete ihn einen Augenblick. Die Augen meines Freundes waren von dunkelblonden, langen Wimpern gerahmt. Seine gerade Nase und die schmalen Lippen lagen in einem markanten sonnengebräunten Gesicht. Die Haare auf seinem sturen Kopf wuchsen in wilden blonden Locken und sein muskulöser Körper war durch die harte Arbeit auf den Feldern geformt worden.

    Zugegeben, er war ein nett anzusehender Kerl.

    Mir verschlafen über das Gesicht reibend, betrachtete ich nun mein rechtes Handgelenk. Eine Tätowierung erinnerte mich daran, wer ich möglicherweise war. Mahnte, dass in zwei Tagen die Zeremonie stattfand. Ich hasste dieses Teil mit jedem Blick darauf mehr. Der lange Strich, der von meinem Handgelenk bis fast an die Armbeuge reichte, wurde von drei Linien unterbrochen. Es war das Symbol, das alle Mädchen auf die Haut gemalt bekamen, die im Jahr der Seelen noch vor der Sommersonnenwende geboren wurden.

    In diesem vermaledeiten Zeitraum wurden in Linatau ich selbst und drei weitere damit gezeichnet. Sie würden, wie ich auch, die nächsten zwei Tage warten, bis ihnen die Zeremonie Gewissheit über unser Schicksal versprach. Ich konnte es kaum erwarten, diese dämliche Tätowierung endlich loszuwerden. Nur die Auserwählte trug es weiter. Allen anderen würde es noch an der Sonnenwende mithilfe einer angemischten Tinktur entfernt werden.

    Mein Blick hob sich wieder und sah mich im Zimmer um. Der bescheidene Raum war spärlich eingerichtet. Cedric und sein Vater lebten nur mit dem Nötigsten. Sie besaßen also ein einfaches, kleines Haus mit zwei Zimmern und ein bisschen Hab und Gut. Cedric hatte irgendwann beschlossen, das Schlafzimmer für sich zu beanspruchen, da Ian sowieso kaum zu Hause war. Den Tod seiner Mutter vor sieben Jahren hat sein Vater nie wirklich verkraftet. Er ertränkte seinen Kummer seitdem mit dem stärksten Serik der Insel. Den fand der Mistkerl nur meistens nicht in Linatau, sondern in einem Fischerdorf etwa drei Tagesritte von hier entfernt. Ian war selten im Haus und überließ Cedric, mehr oder weniger, seinem Schicksal. Dieser hatte sich aber nie darüber beschwert, dass er die Arbeit auf dem Feld ganz alleine erledigen musste. Der einzige Dank blieb jedoch, dass Ian das Geld in Hochprozentigen und Huren investierte.

    Und die Arbeit wurde immer härter, die Felder immer unfruchtbarer. Das hatten wir diesem Fluch zu verdanken und den Göttern, die uns vor Jahrhunderten verließen. Die fehlende Magie zerfraß unsere Insel von innen heraus. Jahr für Jahr ein Stück mehr. Die ganze Zeit.

    Der Blick aus dem Fenster sagte mir, dass es kurz nach Sonnenaufgang war, und ich stöhnte leise auf. Es waren nicht länger als ein paar Stunden Schlaf gewesen.

    Ich rollte mich langsam aus dem Bett und setzte mich auf. Dabei wurde mir leicht schwindelig und ich atmete geräuschvoll aus. Wenn ich zu Hause ankam, würde ich ein paar Kräuter zu einem Tee aufkochen. Das sollte helfen. Ich schlich leise zu meinen Kleidern und schlüpfte schwerfällig hinein. Dabei geriet ich aus dem Gleichgewicht und prallte mit einem lauten Poltern gegen den kleinen Tisch.

    »Mist!«, fluchte ich und sah rasch zu Cedric, der sich aber nur mit einem verschlafenen Brummen umdrehte. Ich musste mich beeilen, wenn ich rechtzeitig ankommen wollte. Also schlich ich hinaus, zog leise die Tür hinter mir zu und eilte davon.

    Die Straße, die ich nun durch das Dorf nahm, kannte ich so gut, dass ich sie mit verbundenen Augen hätte entlanglaufen können. Ich lief sie teilweise täglich etliche Male, wenn die Patienten den Weg zu meinen Eltern in den Laden nicht mehr selbst schafften. Im Gehen sah ich mich um und atmete die frische Morgenluft ein.

    Linatau war mit den Vorbereitungen für die anstehende Zeremonie fast fertig. Der große Festplatz war reichlich mit Blumen und Girlanden geschmückt. Dorfbewohner arbeiteten an den letzten Einzelheiten, wie dem Aufstellen der Holzscheite für die Feuer und kleinen, nichtssagenden Details. Eine Blume hier, ein Kranz da und ein dekoratives Weidenkörbchen in der Ecke. Eine Gänsehaut überzog meinen Arm und ich wickelte die Wolljacke fester um mich, um das unangenehme Gefühl zu vertreiben, das mir im Nacken prickelte. Ab nach Hause.

    Ich hörte Mutter in der Küche, als ich die Doppeltür öffnete. Von meinem Vater war zumindest in dem kleinen Laden nichts zu sehen. Weder am Verkaufstisch noch an den Regalen, auf denen die verschiedensten Tränke, Tinkturen und Salben standen. Vielleicht war ja er oben, in unseren privaten Räumen, und bereitete sich für den Tag vor. Oder aber, er war schon aufgebrochen, um die Kräuter zu sammeln, die wir täglich frisch für die Medizin benötigten.

    Ich nahm die Treppe nach oben, als mich jemand rief: »Nathaira? Bist du das?« Mutters Stimme kam aus der Küche, weich und sanft. Das Gegenteil meiner eigenen. »Kind? Bist du wieder da?«

    »Ja, Mutter. Ich bin eben zur Tür rein.«

    Ich seufzte und sie streckte den Kopf aus der Küche. Ihr rotbraunes Haar, das denselben Farbton wie mein eigenes hatte, war zerzaust und es hingen Kräuter darin. An ihrer schmalen Wange klebte eine grünliche Salbe. So wie sie aussah, war sie vor Sonnenaufgang aufgestanden, um zu arbeiten. Die leichten Falten um Mund und Augen vertieften sich, wenn sie sie so zusammenkniff wie jetzt.

    »Schön, dass du es noch geschafft hast. Ich dachte schon, ich muss selbst bei Cedric vorbeikommen und dich zur Arbeit zerren«, maulte sie trocken. »Es ist einiges zu erledigen heute und du bist spät dran. Belana ist schon seit zwanzig Minuten im Garten und wartet auf dich. Wenn ihr mit den Lektionen fertig seid, komm zu mir und ich sage dir, was du noch alles erledigen musst. Der Tag wird lang.« Mutter sah an mir herab, und bevor ich zu einer Antwort ansetzte, sprach sie weiter: »Und geh dich bitte frisch machen. Du musst heute zum Schmied und seiner Frau. Sie leidet wieder an diesem schlimmen Husten und ich bekomme ihn einfach nicht in den Griff. Du musst das erledigen und so, wie du aussiehst, kannst du nirgendwo hin. An manchen Tagen könnte man wirklich denken, ich hätte dich nichts gelehrt.«

    Ohne zu warten, verschwand sie in der Küche und ließ mich zurück.

    Stöhnend schüttelte ich den Kopf. Wir hatten kein einfaches Verhältnis, Mutter und ich. Fast war ich mir sicher, dass es daran lag, dass sie sonst den Schmerz nicht verkraftete, falls sich zeigte, dass ich die auserwählte Halbseele wäre. Aber ich könnte mich auch einfach irren. Sie war eigentlich schon immer recht distanziert und darauf bedacht gewesen, mich nie nah an sich heranzulassen. Zuneigungen gab es nur selten. Nicht niemals, aber es war eine Rarität. Mein Vater war damit etwas großzügiger, aber auch ihm fiel es sichtlich schwer, mit mir umzugehen. Ich schüttelte den Kopf. Mit neunzehn Jahren hatte ich mich daran gewöhnt und die Liebe meiner Eltern fehlte mir nur noch selten.

    Meine Gedanken huschten zu dem bevorstehenden Ritus.

    Wäre ich doch nur zehn Minuten länger bei Cedric geblieben! Wir sprachen nie über dieses Thema und deswegen war er eine Art sicherer Hafen für mich. Ich nutzte diese Normalität, brauchte Cedrics unbeschwerten Umgang im Alltag. Brauchte es, dass er niemals Furcht zeigte, weil er mich verlieren könnte. Denn ich selbst bangte seit ein paar Tagen genug für uns alle. Es war ein seltsames Gefühl in mir, das stetig wuchs. All die Jahre war ich der festen Überzeugung, dass die Chancen, dass ausgerechnet ich es sei, minimal waren. Kaum nennenswert. Zwei Tage, dann würde sich herausstellen, ob diese neuerliche Sorge begründet war.

    Ich lief nach oben, um mich frisch zu machen und hoffentlich so viel zu arbeiten, dass ich am Abend wie ein Stein ins Bett fallen würde, ohne etwas zu denken oder fühlen.

    Ich wollte das Kleid nicht schmutzig machen und war deswegen extrem vorsichtig, wo ich hintrat. Die langen Haare waren zu einem Zopf geflochten, der mir locker über den Rücken hing. Meine Aufgabe war es, Belana den korrekten Umgang mit Kräutern und Beeren beizubringen. Das hieß, ich probierte es. Sie war nicht gut darin, sich Materialien zu merken oder die richtigen Mengen einzuschätzen. Ich versuchte, es zu erklären, doch sie hatte mit ihren neun Jahren noch nicht die nötige Konzentration.

    Sie war gerade dabei, mit einem der Ferkel zu spielen, und ihr dunkelblondes Haar wippte auf und ab, während sie fröhlich vor sich hin kicherte, als sie den kleinen Ferkeln hinterherrannte.

    »Die Schweine haben wesentlich mehr Ausdauer als du.« Ich hob mein Kleid ein wenig höher, damit keine Spritzer darauf landeten.

    Belana blieb stehen und drehte sich zu mir um. Ihr Lächeln wurde breiter und sie kam auf mich zu, von oben bis unten mit Matsch und Gott weiß was allem besudelt. Aber das schien sie wenig zu stören. Unbekümmert schlenderte sie an mir vorbei und sagte: »Sie sahen so einsam aus und mir war so langweilig. Außerdem liebe ich es, mit ihnen zu spielen. Und Fussel kann dann mal eine Pause machen.«

    Fussel war eine dreihundert Kilo schwere, schwarz-weiße Sau, die den größten Teil des Tages mit Fressen und Schlafen beschäftigt war, und zufällig ihr Lieblingstier.

    »Sie ist immer so erschöpft von der Aufzucht ihrer Babys. Da hat sie das mal verdient«, setzte sie hinterher und gluckste fröhlich über ihre Worte.

    Beim Verlassen der Scheune, die sich die Schweine mit einer alten, namenlosen Ziege, vier Hennen und einem Hahn teilten, klopfte Bela Fussel liebevoll auf ihren fetten Bauch.

    »Ich glaube kaum, dass die zwölf Ferkel Beschäftigung brauchen, aber du hast recht, deine Sau braucht bestimmt mal eine Auszeit. Sie liegt ja nur den halben Tag rum und frisst uns die Haare vom Kopf.«

    Bela drehte sich empört um. Sie setzte zu einer Antwort an, doch ich wuschelte ihr durch den Haarschopf und schob sie endgültig raus. »Spar dir die Worte für den Unterricht. Wenn du nur halb so viel Energie dafür verwendetest, dich auf die Zutaten zu konzentrieren, wie du es für deine Schweine machst, hätten wir beide es nicht so schwer und Mutter würde sich nicht jeden Tag über uns beklagen.«

    »Es tut mir leid«, sagte sie jetzt leise. »Mir bleibt das nicht im Kopf. Es ist so furchtbar viel und kompliziert.« Sie warf die Hände hoch und wedelte unbeholfen damit herum. Mir gefiel es nicht, wenn meine Schwester traurig war. Deshalb versuchte ich, Bela wieder ein wenig aufzumuntern.

    »Halb so wild, du Zwerg. Du wirst es schon lernen. So wie wir es alle gelernt haben. Manchmal braucht es eben etwas länger, bis man gewisse Dinge kann. So wie ...« Ich legte meine Finger ans Kinn, als würde ich schwer mit meiner Überlegung kämpfen. »Alter Käse. Ja, wie so ein richtig ekliger, schleimiger, stinkender Käse die Zeit zum Reifen braucht, brauchst du eben ein wenig länger, um dir etwas zu merken. Du bist wie alter Käse. Das gefällt mir!« Ich sah auf Bela herab, die mich sprachlos ansah, und verkniff es mir nicht, laut loszulachen.

    Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der Bela versucht hatte, eine Mixtur gegen Migräne zu mischen, beschloss ich, den Unterricht für jetzt zu beenden. Die Sonne stand hoch am Himmel, was mir sagte, dass es bereits Mittag war.

    »Genug für heute, Zwerg, sonst werde ich den Saft, den du da zusammengemischt hast, an mir selbst testen. Geh und kümmere dich um die Tiere. Wenn du dich danach ein bisschen ausgeruht hast, räum im Laden die Regale aus und wisch sie ab. Dann muss Vater das nicht mehr erledigen.«

    Belana wirkte erleichtert, zupfte nervös an ihren Haaren und schaute auf die Tiegel, die zwischen uns standen. »War es denn heute besser als sonst?« Sie sah mich fragend an.

    »Hätte ich denn sonst gesagt, dass ich einen von deinen Säften nehmen würde? Und jetzt geh, wir machen morgen weiter.« Ich drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und hoffte, dass sie die Lüge nicht erkannte.

    »Wir sehen uns dann beim Abendessen«, sagte sie und war kurz darauf auch schon verschwunden.

    Ich bewegte meinen Kopf ein wenig, um die steifen Muskeln zu lockern, und lief dann zurück ins Haus. In der Küche war Mutter dabei, einige Salben in Gläser zu füllen, und auf dem Herd köchelte ein Sud, der die Kochstube mit seinem Geruch erfüllte. Es duftete nach einer Mischung aus Ban Zhi Lian und Salbei, was mir sagte, dass sie ein antibiotisches Mittel verarbeitete. Mein Vater hatte allem Anschein nach einige Blätter der seltenen Pflanze in den Wäldern gefunden und mitgebracht.

    Mutter drehte sich um und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Auf dem Tisch dort neben der Waschschüssel steht der Korb, den ich dir für die Frau des Schmiedes hergerichtet habe. Ich habe dir einige Mittel, die wir gegen Husten haben, eingepackt. Wenn davon keines unter deiner Magie wirkt, ist sie vielleicht nicht mehr zu retten.« Sie massierte sich die Schläfen und schloss kurz die Augen, wandte sich dann aber wieder ihren Gläsern zu. »Nicht jedes Leiden wird von uns geheilt. Und ich habe die Befürchtung, dass der Husten nur der Nebeneffekt von etwas anderem ist. Mirande hat es nie überwunden, ihr Kind verloren zu haben. All die Jahre später noch wird ihr Körper immer wieder von Krankheiten heimgesucht.« Sie sah verstohlen zu mir rüber. Ich fing ihren Blick ein und meinte, so etwas wie Verständnis darin zu erkennen. Hatte Mutter Sorge, so zu enden wie die Frau des Schmiedes? Nein, niemals. Dafür hatte sie immer stets zu gut den emotionalen Abstand zwischen uns gewahrt.

    »Vielleicht ist es aber auch einfach nur ein lästiger Husten, den ich mit meiner Menge an Magie nicht bändige«, sagte sie schnell.

    »So wird es wohl sein«, antwortete ich hingegen knapp. Das mit ihrer Magie war ein schwieriges Thema und ich hütete mich davor, es anzuschneiden. »Gibt es noch andere Aufgaben, die ich auf dem Weg gleich mit erledigen kann? Oder soll ich hier helfen?«, fragte ich also weiter.

    »Es liegt eine Liste mit den Restlichen, die nicht herkommen, im Schrank, dort drüben«, sie zeigte mit ihren Fingern hinter mich. »Nimm sie bitte und packe alles ein, was du zusätzlich brauchst. Wenn du die Liste abgearbeitet hast, bring vom Markt einen Fisch für das Abendessen mit. Falls keiner mehr da ist, tut es auch ein Stück Schwein.« Sie runzelte die Stirn, als sie weitersprach: »Da ich unsere eigene Sau nicht schlachten kann, ohne Belana das Herz zu brechen, werfen wir wohl weiter Münzen zu den Händlern für Fleisch auf dem Markt.«

    Ich lachte bei dieser Bemerkung kurz auf und auch Mutter entwich ein Laut der Belustigung. Ein seltener Moment und er war schnell vorbei. Sie jagte mich förmlich aus der Küche und ich sah mir die Namen auf der Liste an. Genervt stöhnte ich auf. Mit meinen Wünschen sollte ich zukünftig vorsichtiger sein.

    Ich war erst kurz vor Sonnenuntergang mit der Arbeit fertig. Der Besuch beim Schmied entpuppte sich als schwierig. Mirande war sehr mitgenommen von der Erkrankung und dass der Husten so lange anhielt, zehrte an ihrem Körper. Sie war dünn und kraftlos, schaffte kaum mehr als ein paar Schritte. Ich bat sie, sich in ihr Bett zu legen, und knöpfte dann ihr Hemd so weit auf, dass ich ihr die Hand auf den Brustkorb platzierte. Dann sah ich mir die Salben und Tränke im Korb an und aus einem Bauchgefühl heraus, griff ich nach einem Behälter, der mit einem Wildbienen-Honigsaft gekennzeichnet war. Zusätzlich nutzte ich eine Creme, deren Dämpfe ihr das Atmen zudem erleichtern müssten. Ihr Mann verfolgte meine Handbewegungen und beantwortete jede Frage, die ich ihm stellte. Wo war Mirande in letzter Zeit unterwegs? Wann fing es an, dass sie körperlich so abbaute? Was und wie aß sie? War sie trauriger? Fiel ihm irgendetwas an ihrem Verhalten auf? Alles war wichtig. Jedes kleine Detail war für eine Heilerin von Bedeutung.

    Ich gab Mirande ein wenig von der Honiglösung und zeitgleich, als sie diese schluckte, legte ich die Hand auf ihren Hals. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Mehr als das brauchte es nicht. Die Magie war ein Teil von mir und ich hatte die volle Kontrolle darüber. Viele sahen die Heilerinnen als gesegnet an, denn bis auf die Priesterinnen waren wir die einzigen Menschen, durch deren Adern noch Magie floss.

    In meinen Fingern kribbelte es und es breitete sich eine milde Wärme aus. Durch den Hautkontakt und den Saft, den sie geschluckt hatte, wirkte die Magie bereits. Ohne die Augen zu öffnen, wusste ich, dass ein sanfter, goldener Schein von meiner Hand ausging, welcher langsam in ihren Hals einsickerte. Über ihre Haut schlängelten sich kleine Fäden aus goldgelbem Licht, die nach wenigen Momenten aber bereits wieder abklangen. Fast augenblicklich stoppte das Rasseln, das man zuvor in der Lunge wahrnahm, und die Frau des Schmieds wirkte erleichtert. Ich tat das Gleiche mit der Creme und auch hier wurden die Symptome des Hustens schnell gelindert. Diesmal musste jedoch mehr Magie wirken, um ein Ergebnis zu erzielen. Nachdem ich dem Schmied erklärt hatte, auf was er die nächsten Tage achten sollte, packte ich meine Sachen ein und zog weiter. Ich erledigte einen Dorfbewohner nach dem anderen und als keiner mehr auf der Liste war, marschierte ich los, um den Fisch zu kaufen.

    Der Markt war heute Abend gut besucht und ich suchte mir, zwischen all den Leuten, einen Weg zum Stand des Verkäufers. Einige Male wurde ich angerempelt, doch wenn die Menschen mich erkannten, kam prompt eine Entschuldigung hinterher. Meine Familie wurde mit Respekt und Ansehen behandelt. Das war bei den meisten Heilern im Königreich so, soweit ich das beurteilen konnte. Ich war noch nicht oft auf Reisen und konnte daher nicht für alle Städte oder jedes der Dörfer sprechen. Aber dort, wo ich schon war, wurden die magiekundigen Heilerinnen geachtet. Die Menschen wussten, dass es ihnen ohne uns schlechter ginge. Ohne unsere Magie waren Krankheiten viel schwieriger oder im schlimmsten Fall gar nicht zu heilen. Und leider gab es nicht mehr viele Heilerinnen mit ausreichender Menge Heilermagie.

    Ich hatte den Stand fast erreicht, da trat jemand hinter mich und tippte mir auf die Schulter.

    »Ich kann es nicht leiden, wenn du dich morgens wegschleichst, ohne mir Bescheid zu geben. Wobei ich schon sagen muss, dass es dem Ganzen einen gewissen Reiz gibt. Als würden wir etwas Verbotenes machen.« Cedric tauchte in meinem Blickfeld auf und lächelte verschmitzt auf mich herab.

    Lachend befreite ich mich aus seinem Griff und tat so unschuldig ich konnte: »Ich müsste mich nicht aus dem Haus schleichen, wenn du nicht so laut schnarchen würdest. Bei dem Lärm kommt man ja nicht zur Ruhe.« Ich schob mich weiter durch die Menge.

    »Ich würde zu gerne mal sehen, wie du in aller Frühe durch das Dorf rennst, um ungesehen nach Hause zu kommen.« Cedric stieß mit seinen Schultern leicht gegen mich und ich geriet ins Stolpern.

    »Wer sagt, dass ich ungesehen bleiben will? Aber ...«, ich betonte das Wort und zog es extra in die Länge. »Wenn ich nicht gesehen werden will, wie ich aus dem Haus eines ungehobelten Tunichtguts davonschleiche«, ich zuckte mit den Schultern, »wer könnte mir das schon übel nehmen?«

    »Ungehobelt? Autsch. Aber mal im Ernst, warum hast du mich nicht geweckt? Ich habe beinahe verschlafen.« Er zog die Nase kraus und sah vorwurfsvoll zu mir.

    »Ach, jetzt ist es also meine Schuld, dass du dir den Serik bis hinter die Ohren kippst und dann nicht aus dem Bett kommst?! Den Schuh ziehe ich mir nicht an. Daran bist alleine du schuld! Ich konnte ja auch aufstehen.«

    Cedric zuckte ebenfalls mit den breiten Schultern, als wäre es ihm völlig egal. »Was machst du um diese Zeit hier? Ich hatte eigentlich gehofft, dich heute auf den Feldern zu sehen.«

    Er lief mit mir weiter, bis wir vor dem Stand des Händlers stehen blieben. Ich wählte den Fisch aus, der am appetitlichsten aussah, und antwortete dann: »Ich hatte ursprünglich auch vor, dir zu helfen, war aber bis eben unterwegs. Der Tag heute war voll mit Arbeit und jetzt soll ich Fisch für das Abendessen besorgen, denn Mutter hat es nicht geschafft, sich aus der Küche loszureißen, und Vater und Bela hätten wahrscheinlich schon vergessen, was sie kaufen sollen, ehe sie den Markt erreichen.« Ich rollte theatralisch meine Augen und gab dem Mann seine Münzen. Dann schaute ich zu Cedric auf. »Wie war dein Tag so? War viel zu erledigen?«

    Gemächlich liefen wir nebeneinander her. Cedric sah nicht aus, als würde er frisch von der Arbeit kommen. Seine hellen Locken waren zwar etwas zerzaust, aber seine Kleidung war sauber und er roch auch nicht nach einem langen Tag auf dem Feld.

    »Sagen wir mal so, es war ein harter Tag und ich bin froh, nichts mehr schleppen zu müssen. Kommst du mit zu mir? Wir könnten ein bisschen Karten spielen oder einfach nur entspannen. Eriel kommt vielleicht auch, wenn seine zukünftige Frau ihn lässt.« Er hielt sein Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne und genoss die Wärme der letzten Sonnenstrahlen.

    »Das hört sich für mich so an, als wäre Ian nicht nach Hause gekommen, um dir zu helfen.« Ich ignorierte, um ihn etwas zu reizen, sein Angebot und verzog dann aber sehr ernst die Miene zu einer Grimasse. Ich konnte Ian nicht leiden. Nicht mehr, seit er angefangen hat zu trinken und mit Abwesenheit glänzte. Den verschwundenen Göttern sei Dank war er ja nie da, also musste ich mich nicht weiter mit ihm auseinandersetzen. Cedric schüttelte den Kopf und nahm mir den Korb mit dem Fisch aus der Hand ab, um ihn selbst zu tragen.

    »Nein. Und ich bin mir nicht sicher, ob sich das die nächsten Tage ändern wird. Das letzte Mal kam er erst Götter weiß wann wieder und brauchte noch mal so lange, um einigermaßen gerade laufen zu können.« Er lachte über seine Worte und schaute dann vergnügt zu mir.

    Ich konnte nicht anders als auch zu lächeln. »Iss mit uns. Mutter wird es nichts ausmachen und Essen wird auch genug für dich da sein. Bekommt die Sau eben weniger Reste.«

    »Lass das mal nicht die kleine Bela hören«, sagte er voller gespielter Empörung, hielt mir aber den Arm hin. Ich hakte mich bei Cedric unter und wir machten uns auf den Weg.

    Belana und ich halfen Mutter in der Küche, wohingegen Cedric meinem Vater half, den Verkaufstisch im Laden freizuräumen. Nachdem das Essen auf dem Tisch stand und ein kurzes Dankgebet an die Götter gesprochen wurde, fingen wir alle an, uns zu bedienen und von unserem Alltag zu berichten. Eine sinnlose Tradition, dieses Gebet, da sie dem Königreich doch den Rücken gekehrt hatten. Und trotzdem hielt es sich beharrlich, dass man sich Hilfe und Segen erbat. Oder eben auch eine Verwünschung in ihrem Namen sprach.

    Den größten Teil Magie hatten sie gleich mit sich genommen und die Menschen auf der Insel und vor allem das Festland mit dem verdammten Fluch gestraft. Sie wachten schon seit Hunderten von Jahren nicht mehr über uns.

    »Nathaira!« Mutters Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

    »Was?« Alle schauten mich an, als warteten sie auf eine Antwort. Cedric schmunzelte, aß aber weiter den gedämpften Fisch vor seiner Nase. Sichtlich bemüht, nicht laut loszulachen.

    »Ich habe dich gefragt, ob Belana Fortschritte bei euren Übungen macht. Wo bist du nur immer mit deinen Gedanken?«, fragte sie ungehalten.

    Ich hingegen sah zu meiner Schwester, die sich jäh für das Gemüse auf ihrem Teller zu interessieren schien.

    »Sie hat heute weniger Anläufe gebraucht. Und der Saft, den sie vermengt hat, sah gut aus. Noch einige Wochen und wir können ihn im Laden verkaufen.« Ich versuchte, sie nicht zu belügen, und wählte die Worte mit Bedacht, denn ich wollte Bela nicht bloßstellen und vor Mutter aussprechen, dass sie nie eine sonderlich begabte Heilerin werden würde. Aber unsere Mutter war gut darin, Worte herauszuhören, die ich nicht zu sagen versuchte.

    »Belana, du musst dir mehr Mühe geben«, sagte sie also streng. »Konzentriere dich besser, sonst wird aus dir nie so eine gute Heilerin, wie deine Schwester eine ist.« Sie betrachtete die Kleine tadelnd und Bela schien in sich kleiner zu werden.

    Der Vergleich war nicht fair, schon gar nicht von derjenigen, die von uns drei die wenigste Magie besaß!

    »Sie gibt sich wirklich Mühe, Mutter. Es gibt keinen Grund, sie unter Druck zu setzen, sie wird lernen ...«

    Sie unterbrach mich, indem sie ihre Hand hob. »Sie hat keine Zeit, es zu lernen. Sie müsste es längst besser beherrschen!«, brachte sie harsch auf. »Sie ist neun Jahre alt, Nathaira. In diesem Alter ließ ich dich schon kleinere Gebrechen heilen. Sie müsste die Medizin im Schlaf anmischen können, aber auch das fällt ihr schwer. Was sollen ich und dein Vater denn machen, wenn du«, sie stoppte abrupt und wandte den Blick ab, als könne sie mir dabei nicht ins Gesicht sehen. »Wenn die Zeremonie zeigt, dass du die Halbseele bist, muss Belana deinen Platz hier einnehmen und mir helfen, für die Menschen zu sorgen. Wir sind die einzigen Heilerinnen hier in Linatau und für die nächsten drei umliegenden Dörfer tragen wir auch die Verantwortung. Es ist mit dir und deiner Menge an Magie schon kaum zu bewältigen. Alleine schaffe ich das nicht! Sie muss also schnell lernen.« Mutter sprach nun bedachter weiter: »Du weißt, wie die Chancen stehen. Es sind nur drei andere in Linatau und zu wenige im ganzen Land. Selbst wenn sich einige der Mädchen liebend gerne freiwillig zur Verfügung stellen würden, besteht doch die Möglichkeit, dass du es wirst. Wir müssen vorbereitet sein.« Mutter sah lange auf ihren Teller, stand auf und sammelte dann letztlich ihr Geschirr ein. »Entschuldigt mich bitte, ich bin nicht mehr hungrig.« Sie lief in Richtung Küche und verschwand dann hinter der Tür.

    Ich sah hilfesuchend zu Vater, doch er erwiderte nichts, nahm Belana an der Hand und sagte: »Komm, wir helfen deiner Mutter. Es ist einiges an Geschirr zu spülen und deine Hände sind noch zu zart für eine echte Arbeiterin.« Dann wandte er sich an Cedric: »Entschuldige, Junge. Das solltest du nicht hören. Kajara hatte einen langen Tag und die bevorstehende Zeremonie setzt ihr zu. Du solltest lieber gehen.«

    Es machte ihr zu schaffen?! Vater sah mich endlich an, sagte aber noch immer nichts und führte Belana zu der Tür, in der zuvor Mutter verschwunden war. Unglaublich!

    Eine Hand legte sich auf meine Schultern und übte sanften Druck aus. »Los, Nathi, lass uns eine Runde laufen.«

    Ich schaute ihn an. Betrachtete das aufmunternde Lächeln, das er mir in dieser unschönen Situation schenkte, und nickte. Müde erhob ich mich, strich mir das Kleid mit den Fingern glatt und verließ dann mit Cedric das Haus.

    Kapitel 2

    Der Spaziergang tat mir gut und die Gesellschaft meines Freundes lenkte mich von Mutters Worten ab. Er erzählte die ganze Zeit Belanglosigkeiten von seinem Tag. Witzelte hier und da und lästerte über diesen und jenen Dorfbewohner. Ich gab hin und wieder eine Antwort oder nickte. Als wir den Weg zum kleinen See einschlugen, lachte ich schon wieder über Cedrics teilweise haarsträubende Geschichten. Ich liebte ihn aufrichtig dafür, dass er es immer schaffte, mich aufzuheitern.

    Am See angekommen, ließen wir uns auf einen flachen Felsen nieder und genossen die Abendluft.

    »Wir waren schon lange nicht mehr hier«, bemerkte ich. Der See war nicht wirklich groß. In seiner Mitte trieben im Sommer Seerosen, die so breit waren, dass wir uns als Kinder haben daraufsetzen können. Vielleicht war es eher ein Teich als ein See, aber das passte nicht zu den Erinnerungen, die ich an diesen Ort hatte. Er war mir immer so riesig vorgekommen, wenn wir uns bis auf die Unterwäsche ausgezogen hatten und ohne zu zögern ins kalte Nass gesprungen waren!

    Jetzt flimmerte das Wasser im Mondlicht und spiegelte die Sterne am Himmel darin. Hin und wieder hörte man den Ruf einer kleinen Kröte, die auf der Suche nach einem Partner lauthals quakte.

    »Ist verdammt lange her, das stimmt.« Cedric sah zu mir. Wir saßen so nah beieinander, dass ich den Kopf auf seine Schulter hätte legen können, ohne näher rücken zu müssen, doch seine Nähe war mir so vertraut wie die meiner eigenen Schwester. Die Stille, die sich ausbreitete, wurde schwer und etwas in seinem Blick änderte sich.

    »Nathi, was passiert, wenn du-«, fing er an, aber ich stoppte ihn.

    »Götter, nicht du auch noch! Verdirb doch die Stimmung jetzt nicht. Es ist gerade so schön hier und ich will einfach nicht darüber nachdenken, was übermorgen ist. Verstehst du das? Es ist sowieso unwahrscheinlich, dass ich es bin. Also mach bitte kein Drama daraus.«

    Ich sah ihm entschlossen entgegen. Das Leben als Heilerin war schon anstrengend genug, da konnte ich mich nicht auch noch mit dieser verdammten Zeremonie beschäftigen. Sie tauchte sowieso schon zu oft in meinen Gedanken auf und unterbrach meine Aufmerksamkeit. Ich sollte mich besser darauf konzentrieren, Bela zu unterrichten, Mutter zu entlasten und die Verletzten und Kranken in unserem und den umliegenden Dörfern zu heilen. Meine Mutter besaß so gut wie keine Magie mehr, und soweit ich wusste, hatte sie nie auch wirklich eine große Menge besessen. Für sie war es kaum zu ertragen, immer geringere Mengen davon zur Verfügung zu haben, und sie darauf anzusprechen war ein Fehler, den ich erst wenige Male gemacht hatte.

    Auf der ganzen Insel war es so, dass jede neue Heilerin, die geboren wurde, weniger Magie besaß als ihre Mutter. Meine kleine Schwester war fast noch weniger begabt als sie. Durch ihre Adern floss nur ein kläglicher Funke Magie und es war schon hart für sie, die Salben und Tränke zuzubereiten. Und noch schwerer, das bisschen Magie zu kontrollieren und wirksam in Verbindung mit den Mitteln einzusetzen. Ohne Hilfsmittel aus der Natur waren die Kräfte der Heilerinnen sowieso nichts wert. Die Magie brauchte einen Nährboden, um zu wirken. Es benötigte ein Instrument, um von der Heilerin in ein anderes Lebewesen überzugehen, und das waren zusammengemischte Kräuter, Pflanzen und Beeren. Alles, was uns die Natur bereitstellte. Ich war allerdings eine Ausnahme der Regel, denn aus unerfindlichen Gründen hatte ich diesen Verlust der weitervererbten Magie ausgelassen und besaß davon jetzt deutlich mehr als meine Mutter. Und meine Großmutter und deren Mutter.

    Ich schloss resignierend die Lider. Dieser Segen, auf den ich sehr wohl stolz war, hatte allerdings den Preis, dass Freizeit ein Wort war, das ich nur selten zu hören bekam. Dennoch, ich liebte es, eine Heilerin zu sein, und würde mich kein anderes Schicksal aussuchen. Als ich meine Augen wieder öffnete, wurde Cedrics Blick kurz so intensiv, dass ich Angst hatte, er würde das Thema nicht fallen lassen. Aber dann fing er an zu grinsen und stand auf. Seine blauen Augen schimmerten verschmitzt, als er sich das Hemd auszog und es zu Boden warf. Ich betrachtete ihn verwirrt und meine Aufmerksamkeit blieb an seinem Körper hängen. Nur für einen Augenblick.

    Er beobachtete mich weiter und entledigte sich dabei auch seiner Hose. Meine Verwirrung schien Cedric zu belustigen, denn das Lächeln wurde breiter und ein glucksendes Lachen entfloh ihm. »Weißt du noch, was wir früher gemacht haben, wenn wir hier waren?«

    Cedric erkannte, dass ich nicht wusste, worauf er hinauswollte, und zog eine Braue hoch. Schnell drehte er sich aus heiterem Himmel um und sprang in den See.Wasser spritzte auf und ich lachte.

    »Bist du wahnsinnig? Du hättest dich verletzen können! Es ist doch gar nicht tief genug, um einfach so reinzuspringen. Schon gar nicht für einen Riesen wie dich!«

    Ich stand auf und schaute an mir herab. Dort, wo das Wasser mich getroffen hatte, wurde mein weißes Kleid durchsichtig und ich drehte mich fluchend weg.

    »Für was habe ich denn meine Heilerin?«

    Ich schnaubte gespielt verärgert und sah ihn über meine Schulter hinweg böse an. Cedric tauchte unter und als er wieder auftauchte, spritzte er erneut Wasser in meine Richtung. Ich wich geschickt aus und schrie empört auf. »Hey, lass das! Von wegen meine Heilerin.« Wieder schaute ich zu ihm und erkannte das Vergnügen, das er empfand. »Ich werde dich sicher nicht heilen, wenn du so etwas Unüberlegtes machst.« Das war glatt gelogen, denn dem Drang, jemandem zu helfen, konnte ich nur schwer widerstehen.

    »Komm rein.« Er spritzte wieder leicht in meine Richtung. »Mach schon, es ist eigentlich ganz angenehm.«

    Er wartete auf eine Antwort, doch ich stand nur da und betrachtete ihn. Sein Körper glänzte und seine Haare hingen ihm nass in die Stirn. Die braune Haut spannte sich über seinen muskulösen Schultern. Seine Arme waren durch das schwere Tragen der Getreidesäcke kräftig. Auf seinem Bauch traten die Muskeln hervor und an seiner Hüfte bildeten sie ein »V«, welches im Wasser verschwand. Mein Gesicht wurde rot und ich blinzelte mehrmals.

    »Ich hab keine Lust«, brummte ich heiser, was auch gelogen war. Eine Erfrischung, die mir die trüben Gedanken aus dem Kopf spülte, war nicht die schlechteste Idee.

    »Schämst du dich vor mir? Glaub mir, du bist für mich so interessant wie einer der Fische hier drin.«

    »Na, besten Dank auch!«, zischte ich empört und die Röte verschwand wieder aus meinem Gesicht. Wenn ich kurz gedacht hatte, dass es einer dieser seltenen Momente war, in denen er nicht nur die Freundin sah, die ich ihm war, hatte ich mich geirrt. Ich wusste genau, welche Wirkung ich auf manche Männer hatte, und dass ich hübsch war, wusste ich ebenfalls. Und meinen Körper pflegte ich immer gut, damit das auch so blieb. Störende Haare wurden regelmäßig von mir entfernt und ich rieb mich mit verschiedenen Cremes ein, um eine weiche Haut zu behalten. Von den Dutzenden Parfüms im Zimmer, die ich jeden Tag auftrug, wollte ich erst gar nicht anfangen. Ich war schlank und hatte lange Beine, aber besaß dennoch weibliche Rundungen, auf die ich durchaus stolz war. Im Großen und Ganzen war ich sehr zufrieden mit meinem Erscheinungsbild und achtete gerne auf mein Äußeres. Eitelkeit war es allerdings nicht, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne, denn ich tat es nicht wie die meisten Mädchen, für Männer, sondern nur für mich alleine. Als Heilerin musste ich mich auch manchmal schmutzig machen, also hatte ich prinzipiell nichts dagegen, auch mal dreckig zu werden. Ich vermied es eben nur, wenn es möglich war.

    Ich sah Cedric an, kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Nur wenn du dich umdrehst.«

    »Nathi, komm schon. Du bist meine beste Freundin und ich hab dich schon unzählige Male in deiner Unterwäsche gesehen. Du hast erst letzte Nacht in meinem Bett verbracht, und das nur in Unterwäsche. Stell dich nicht so an und spring rein.«

    Grimmig sah ich ihm entgegen. »Da war aber eigentlich immer eine Menge Alkohol mit im Spiel.« Er hatte recht. Er war mein bester Freund und er hatte mich tatsächlich schon viel zu oft in Unterwäsche gesehen. Dennoch ...

    »Das ist gelogen, was ist mit früher?«, fragte er und verschränkte die Arme vor der breiten Brust.

    »Du meinst, als wir zwölf waren und ich das hier«, ich wedelte mit meinen Händen vor meinen Brüsten herum, »noch nicht hatte?«

    Er verdrehte nur die Augen und wartete geduldig.

    »Fein!«

    Die Aussicht auf eine nächtliche Runde im See war einfach zu verlockend. Ich streifte mein Kleid von den Schultern und huschte dann von ihm beobachtet ins Wasser. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, als ich der Kälte wegen keuchte.

    »Na also«, brummte er zufrieden und ließ sich auf dem Wasser treiben. Ich schwamm zu ihm und legte mich dann ebenfalls auf den Rücken, um auf dem Wasser zu treiben. Zusammen starrten wir in den Himmel und betrachteten die Sterne am nachtschwarzen Himmel. Wieder quakte die Kröte und diesmal bekam sie eine leise Antwort. Zufrieden lächelte ich vor mich hin.

    »Hast du dein Getreide verkauft?«, fragte ich in die Stille und genoss das Gefühl der Schwerelosigkeit.

    »Nein. Die umliegenden Dörfer haben zwar Bedarf, aber keiner will mir den Preis zahlen. Ich brauche neuen Dünger und musste deswegen etwas mit dem Preis hochgehen. Das haben sie allerdings nicht so gut aufgenommen.«

    »Wie viel ist etwas?«

    Er grunzte. »Etwas eben. Egal, ich werde es die Tage noch mal probieren. Irgendein Dorf wird es schon nehmen. Wenn man bedenkt, wie schlecht es um die Felder der meisten steht, dann sind sie darauf angewiesen.«

    Ich nickte und Wasser umspielte meine Wangen. Das ganze Königreich verging langsam. Die Magie im Land fehlte und die Jahrhunderte, die der Fluch schon über unserem Königreich lag und uns von den Göttern und ihrer Macht trennte, sorgten dafür, dass das Land langsam, aber sicher verfaulte. Die Menschen hatten es immer schwerer und ohne die Elementmagie der Priesterinnen, die das Land versorgten und den Dörfern im Königreich halfen, würde es auf kurz oder lang immer schlimmer. Die Menschen bekamen es mit der Angst zu tun, und das zu Recht. Und gegen all dies würde auch die Zeremonie nicht helfen. Sie verhinderte nur, dass der Fluch nicht ausbrach und das Land ganz in Chaos und Verderben versank. Das Unvermeidliche, nämlich, dass die Insel über kurz oder lang ohne die Magie starb, änderte auch diesen Fluchzyklus nicht.

    Aber ich hatte mich nie viel mit dem Fluch und seinen Auswirkungen befasst, also irrte ich mich möglicherweise auch. An die Zeremonie hatte ich, bis vor einigen Tagen, genauso wenig gedacht wie an die Politik unseres Königreiches. Warum auch? Die Sorge um meine Mitmenschen stand für mich immer an erster Stelle.

    Ich dachte wieder an die Worte meiner Mutter. Sie hatte noch nie so offen darüber geredet, was passieren konnte. Vor allem nicht vor Bela. Natürlich hatte sie mir knapp erklärt, was später einmal auf mich zukommen könnte, aber sie war dabei immer sachlich geblieben. Selbst als sie erfuhr, dass so wenig weibliche Babys wie nie zuvor im Königreich zur Welt gekommen waren.

    Das war jedoch der Moment, an dem sich meine Eltern emotional schützen und anfingen, einen gewissen Abstand zu mir zu halten. Mir nur die nötigste Liebe gaben, die ich brauchte, um zu überleben.

    »Alles okay mit dir?« Cedric schwamm neben mir und sah mich besorgt an. »Nathi, wenn du reden willst, dann ...«

    Weiter kam er nicht, denn ich drückte ihn an den Schultern runter, sodass er untertauchen musste, und schwamm rückwärts davon. Nachdem er aufgetaucht war und Wasser wie ein Drache in die Luft pustete, warf ich ihm einen verspielten Blick zu und forderte: »Wer zuerst am Ufer ist!«

    Nein, ich wollte nicht reden.

    Der nächste Tag unterschied sich nur wenig von dem vorigen. Ich unterrichtete Belana, half meiner Mutter bei der Arbeit in der Küche und erledigte diverse Besuche bei den Bewohnern. Cedric sah ich nicht, hörte aber von einer Patientin, dass er sich auf den Weg gemacht hatte, Getreide im Nachbardorf zu verkaufen. Dann erfuhr ich noch von der geschwätzigen Dame, dass die Priesterin für die Zeremonie angekommen sei. Sie war bei der Familie eines der anderen Mädchen untergekommen, um dort zu übernachten. Linatau hatte keinen eigenen Tempel und die nächste kleine Gebetsstätte war einen Tagesritt entfernt, in Ollandes, weshalb sie einen alternativen Platz für die Nacht brauchte.

    Nachdem wir zu Abend gegessen hatten, stand ich auf, ohne das Geschirr abzuräumen, und verschwand auf mein Zimmer. Niemand hinderte mich daran, was mir nur verdeutlichte, wie angespannt ich wirken musste. Einige Zeit lag ich wach im Bett und grübelte vor mich hin. Sagte mir wieder, dass es unwahrscheinlich war, dass ausgerechnet ich die Halbseele sei. Ich malte mir aus, wie alle anderen Gezeichneten in ihren Betten lagen und selbst in Gedanken an die Zeremonie morgen versunken waren. Gedankenverloren strich ich über die Tätowierung und fuhr die Linien nach, die etwas von meiner Haut anstanden.

    Wie viele Mädchen freuten sich auf den morgigen Tag? Sehnten ihn sogar herbei oder beteten dafür, die Erwählte zu sein? Mir mochte das nur recht sein, wenn eine von ihnen den Platz an der Seite eines Prinzen einnahm. Ich verstand beim besten Willen nicht, was daran erstrebenswert war, sich zwischen den beiden Thronfolgern zu entscheiden, um dann einen von ihnen zu heiraten und die neue Königin zu werden. Eine verdammte Zwangsehe, mehr war das nicht! Eine Zwangsehe, die dafür sorgte, dass die Menschheit von dem Fluch verschont blieb, rief ich mir ins Gedächtnis und seufzte. Ein kleines Opfer, das die Halbseele bringen musste, wenn man die Auswirkungen bedachte.

    Die Tür zu meinem Zimmer quietschte leise und vermischte sich mit meinem Seufzen.

    »Nathaira? Schläfst du schon?« Belana war kaum zu verstehen, so leise piepste sie.

    »Nein, aber du solltest in deinem Bett liegen. Mutter wäre nicht glücklich, wenn du morgen beim Lernen einnickst.«

    »Ich weiß, aber ich kann nicht einschlafen. Es ist so dunkel und meine Kerze ist schon runtergebrannt. Ich bekomme sie nicht mehr an. Darf ich zu dir?«

    Ich schmunzelte bei der Vorstellung, wie die Kleine vergebens versuchte, ihre Kerze wieder zum Leuchten zu bringen. »Natürlich, ich mach dir Platz.«

    Bela tappte zu mir und kuschelte sich unter die dünne Sommerdecke. So lagen wir, unsere Gesichter nahe beieinander, da und schwiegen.

    »Nathi?«, fragte sie nach ein paar Minuten leise.

    »Hmmm?«

    »Wenn du morgen die Halbseele wirst, nimmst du mich mit? Man darf jemanden mitnehmen! Ich habe Mutter darüber sprechen gehört, weißt du?« Ich sah in ihr Gesicht, das voller Vorfreude strahlte. Ihre kleinen Augen, meinen nicht unähnlich, glänzten im Mondschein. Das Grün nur eine Nuance dunkler.

    Natürlich hatte ich nachgedacht, wen und vor allem, ob ich irgendjemand mitnehmen sollte. Doch ich kam zu dem Entschluss, dass ich es nicht würde. Ich würde niemanden aus seiner Familie reißen, denn die Halbseele hatte keinen Kontakt mehr zu ihrem alten Leben. Sobald sie einmal in den Palästen angekommen war, würde sie alle Brücken hinter sich niederreißen. Und das würde für den Begleiter genauso gelten.

    »Hör zu, Zwerg, ich könnte dich nicht mitnehmen. So sehr ich es mir wünschen würde. Mutter und Vater brauchen deine Hilfe, wenn du erst mal eine herausragende Heilerin bist, musst du all meine Aufgaben übernehmen.« Ich zwickte ihr sanft in die kleine Nase, was Belana zum Kichern brachte.

    »Ich hab doch gar nicht so viel Magie wie du. Du bist viel mächtiger! So gut wie du werde ich nie.«

    Ich lächelte bei ihrer Wortwahl. Mächtiger. Ich war stolz auf meine Magie, doch als mächtig würde ich mich nicht bezeichnen. Wieder tippte ich an ihre Nase und versuchte es anders, denn wir wussten beide, das, was sie sagte, stimmte. »Wer würde sich um Fussel und die Ferkel kümmern? Meinst du, Mutter und Vater täten das? Nein, die Babys bräuchten dich also auch.« Mein Herz zog sich bei der Vorstellung zusammen, Bela nie mehr wiederzusehen, und die Stimmung kippte in einem Wimpernschlag.

    Tränen glänzten in ihren Augen und rollten über die Wange meiner Schwester. Ich drückte ihr seufzend einen Kuss auf die Stirn und sagte dann: »Schlaf jetzt. Du wirst sehen, dass ich nicht diejenige bin, die fortgeht. Wir werden also noch viel Zeit zusammen haben und du wirst einiges von mir lernen.« Ich rückte näher an sie heran und umarmte Belana. Sie gähnte einmal herzhaft und kuschelte sich an mich. Ich bezweifelte zwar, dass der Schlaf erholsam für mich würde, aber die Anwesenheit meiner kleinen Schwester spendete mir Trost. Ich beschloss, mich nicht weiter zu sorgen. Es gab einige, die außer mir gezeichnet waren. Andere, die es genauso treffen konnte wie mich.

    Aber als auch mir die Augen zufielen, begleitete mich ein Gefühl, dass ich mich vielleicht doch sorgen sollte.

    Ich lief durch ein steinernes Feld. Um mich herum nichts als Felsen, Steinbrocken und Kiesel in verschiedenen Größen und Formen. Doch das Gestein war merkwürdig, seltsam. Auf dem Boden verteilt lagen ausschließlich tiefschwarze Obsidiane und Bernsteine, die golden schimmerten. Nichts anderes lag weit und breit um mich herum! Nur diese beiden Farben. Ein Gemisch aus hell und dunkel, das sich über etliche Kilometer vor mir erstreckte. Ich lief also weiter durch das Ödland, das sicher einst unser Königreich war.

    Weiter und weiter.

    Meter für Meter.

    Und mit jedem Schritt spürte ich steinerne Augen, die mich ansahen.

    Hell und Dunkel.

    Die Sonne war bereits aufgegangen, als ich aufstand. Erschöpft und niedergeschlagen rieb ich mir das Gesicht. Es war jetzt schon die zweite Nacht hintereinander, in der ich nur wenige Stunden Schlaf bekommen hatte. Trotzdem krabbelte ich aus dem Bett und stellte fest, dass Belana nicht mehr neben mir lag. Ich schlüpfte aus dem Nachthemd und wusch mich ausgiebig an der Wasserschale, die auf der Kommode stand. Anschließend kämmte ich mir die Haare und als ich mich frisch genug fühlte, lief ich zu dem kleinen Kleiderschrank und schnappte mir ein Kleid. Das Smaragdgrün des Stoffes betonte mein rotbraunes Haar und schmeichelte meinen, ebenfalls grünen Augen. Nichtsdestotrotz wirkte ich nicht besonders ausgeschlafen. Ich schluckte den Kloß herunter, der sich bei dem Gedanken an die Zeremonie gebildet hatte. Die Zuversicht, die ich mir gestern Nacht versucht hatte einzureden, verschwand und es blieb ein ungutes Gefühl zurück.

    »Stell dich nicht so an, du Feigling«, sagte ich laut zu meinem Spiegelbild und streckte mir selbst die Zunge raus. Dann drehte ich mich um und verließ mein Zimmer.

    Unten angekommen, war niemand im Geschäftsteil und auch in der Küche war keine Menschenseele zu sehen. Ich kochte mir schnell ein paar Eier in der Pfanne und aß diese gleich in der Küche stehend auf. Als ich in den Innenhof schritt, um zu sehen, ob Bela und meine Eltern dort waren, klopfte es plötzlich an der Tür. Warum war unser Laden um diese Zeit geschlossen?

    Ich lief nachdenklich zurück und öffnete die Tür mit dem üblichen knarrenden Geräusch.

    Vor mir stand eine junge Frau, die ich nie zuvor gesehen hatte. Sie war fast so groß wie ich und hatte etwa dasselbe Alter. Das war aber auch schon alles, was es an Ähnlichkeiten gab. Mein Gegenüber war in ein dunkelrotes Gewand gekleidet, das weit ausgeschnitten war und ihren dunklen Hautton hervorhob. Es lag locker an ihr und wurde durch einen goldenen Gürtel fixiert. Die Kleidung einer Priesterin. Ihr rabenschwarzes Haar war zu einem festen Knoten gebunden, an dem einige Strähnen heraushingen und im Sommerwind wehten. Ihr Gesicht war schmal mit schräg stehenden Augen, die eine Nuance von rötlichem Honig hatten. Ihre Nase war lang und passte damit zu ihren ausgeprägten Wangenknochen. Die großen, vollen Lippen waren mit einer lila Farbe bestrichen und an ihrem Hals ruhte eine auffällige goldene Kette. Ihr ganzes Erscheinen erinnerte mich irgendwie an das einer Katze. Man sah ihr an, dass sie nicht aus diesem Teil des Landes stammte. Ich schätze, aus der Steppe, im Westen des Königreichs.

    Es handelte sich um die Tempelpriesterin, welche die Zeremonie halten würde. Ihre Augen erfassten mich gütig und ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht.

    »Mein Name ist Marlie«, sagte sie, und da ich keine Anstalten unternahm, das Wort zu ergreifen, fuhr sie fort: »Und du musst Nathaira sein, richtig?« Marlies Blick huschte an meinem Arm herunter und heftete sich auf die Striche, die ihn zierten. Ich hasste es, wenn die Leute darauf schauten, also zog ich den Arm hinter mich.

    »Ja.« Ich hatte erst bei der Zeremonie mit ihr gerechnet. Wieder schlängelte dieses ungute Gefühl durch meine Magengegend.

    »Darf ich reinkommen?«

    Kurz überlegte ich tatsächlich, sie wieder wegzuschicken. Mir blieben ein paar Stunden, bis es losging, und in dieser Zeit tat ich liebend gerne weiter so, als würde mich das alles nicht betreffen. Seufzend trat ich dennoch beiseite. »Natürlich, komm rein.« Mein Blick folgte ihr, als sie mein Zuhause betrat. »Möchtest du einen Tee?«

    Ich lief um sie herum und wollte schon hinter der Küchentür verschwinden, als sie etwas irritiert fragte, du bist eine Heilerin, oder?« Sie sah sich erstaunt die Regale mit der Medizin und den Kräutern an, lief zu einem Glas, in dem Minze lagerte, und schraubte den Deckel auf, atmete ein und schloss genüsslich die Augen. Als sie es zurückstellte und sich umdrehte, lag Verwunderung in ihrem Gesicht. »Darüber hat mich niemand informiert.«

    »Ist es denn wichtig? Es gibt sicher noch andere Heilerinnen, die im Jahr der Seelen geboren wurden.«

    »Nein.« Schnell jagte Unsicherheit durch ihre Miene, verschwand aber innerhalb von einem Herzschlag wieder. »Aber vielleicht ist es einfach untergegangen. Es ist nur so, dass die Priesterinnen, die in die Städte und Dörfer geschickt werden, meistens gut über die Mädchen informiert sind, und dazu zählt eigentlich auch der Beruf. Deiner ist wohl vergessen worden«, erklärte sie mit gerunzelter Stirn. »Oder ich habe es überlesen. Ein Tee wäre gut, danke«, kam sie auf mein Angebot zurück und setzte sich an den Tisch, auf dem sonst Tiegel und Fläschchen standen.

    Warum war er aufgeräumt? Heute war zwar die Zeremonie, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass der Laden deswegen geschlossen blieb, denn krank waren die Menschen auch heute.

    Ich schlenderte los und bereitete mit wenigen Handgriffen einen würzigen Tee zu, den ich in zwei Tassen füllte und dann vor den Besuch und mich abstellte. Sie trank einen Schluck und grinste belustigt: »Minztee. Du bist aufmerksam. In meiner Heimat ist sie selten und im Tempel legen sie keinen großen Wert auf Tee.« Sie zog wieder die Stirn kraus, als wäre es nicht nachvollziehbar.

    Und ich gab ihr recht. Tee und Schnaps waren ein nur schwer entbehrlicher Genuss. »Woher kommst du?«, fragte ich und Marlie fragte zeitgleich: »Wie fühlst du dich?«

    Die Frage irritierte mich. Wie sollte ich mich schon fühlen? Beunruhigt, besorgt, nervös, aufgeregt? Ich beschloss, mit einer Gegenfrage zu antworten. »Darf ich dich fragen, warum du hier bist?«, und auch auf die Gefahr hin, unhöflich zu wirken, fragte ich weiter: »Ich meine, ich weiß, warum du hier in Linatau bist. Aber warum bist du hier bei mir?«

    Sie trank einen weiteren Schluck und stellte die Tasse ab. »Ich bin hier, weil ich mir dachte, es wäre schön, euch alle vor der Zeremonie kennenzulernen. Es ist mir zu unpersönlich, wenn man bedenkt, dass ich doch eventuell eine von euch in ein neues Leben begleite. Ich war schon bei den anderen zwei Mädchen und jetzt wollte ich dich kennenlernen. Deine Mutter hat mir erzählt, dass du zu Hause bist.«

    Sicher hatte sie das. Warum sollte sie mir die letzten Stunden Ruhe auch gönnen.

    »Marlie, richtig? Ich will nicht unhöflich sein, aber ich bin erschöpft und würde mich gerne noch mal hinlegen, um ausgeruht für die Feierlichkeit zu sein.« Diese kleine Lüge würde keinem wehtun. Sie wusste ja nicht, dass ich keinesfalls wieder schlafen würde. Doch ich wollte mich nicht damit befassen. Nicht mit ihr und nicht mit diesem vermaledeiten Tag an sich! Nicht jetzt, nicht wenn mir die Brust langsam, aber sicher die Luft abschnürt und mein Magen gefährlich zu rebellieren begann.

    »Meine Mutter hat mir etwas über den Ritus sowie darüber, was dann folgt, erzählt. Sollte ich, den Wahrscheinlichkeiten zum Trotz, die Halbseele sein, weiß ich schon ein paar Kleinigkeiten. Es wäre nett, wenn du mich entschuldigen könntest. Wir unterhalten uns einfach nach der Zeremonie. Wenn du das möchtest«, setzte ich versöhnlich hinterher und stand auf. Eine unmissverständliche Geste.

    Wenn sie meinen plötzlichen Gefühlswandel bemerkt hatte, zeigte sie es nicht. Die Priesterin musterte mich nur kurz und sagte nichts zu der gehetzten Situation außer einem leisen: »Natürlich«. Marlie lief voran zur Tür und hielt kurz inne. »Wir sehen uns später.« Dann verschwand sie und als ich ihr nachsah, hatte ich doch fast Gewissensbisse, sie rausgeworfen zu haben. Fast.

    Nachdem ich vergeblich auf meine Familie gewartet hatte, lief ich zu Cedric. Ich brauchte meinen besten Freund jetzt. Es war nicht zu fassen, dass mich das Ganze doch so mitnahm. Ich hatte immer geglaubt, dass ich tapfer sei. Aber warum ließ dieses seltsame Gefühl nicht nach? Es war wie ein Kitzeln, das stets stärker wurde. Dazu kam, dass ich nicht verstand, wie meine Familie mich alleinlassen konnte. Warum waren sie nicht bei mir und sagten mir, dass ich mich nicht sorgen brauchte? Nur dieses eine Mal! Ich wurde wütend und rannte schon fast die Straße entlang. Er würde da sein.

    Doch genau heute, an dem Tag, an dem ich seine Zuversicht wie niemals zuvor benötigte, war er es nicht. Und so eilte ich sauer und enttäuscht in ein leeres Zuhause zurück und wartete, bis die Zeit gekommen war, auf den Festplatz zu gehen.

    Der Platz war nicht so überfüllt, wie ich zuerst dachte. Von den knapp tausend Einwohnern war nur ungefähr die Hälfte da. Plus die wenigen, die aus den Nachbardörfern gekommen waren, um zuzusehen. Ich sah mich um. Ein großer, festlich geschmückter Tisch mit fünf Stühlen war in der Mitte des Festplatzes aufgestellt. Einer am Kopfende und je zwei sich gegenüber. Wir würden dort wie auf dem Präsentierteller sitzen, und jeder Einzelne, der gekommen war, konnte uns begaffen. Die Mädchen, von denen eines vielleicht die Halbseele war. Es war einfach widerlich.

    Am Rand des Platzes standen Körbe gefüllt mit Lebensmitteln. Brot, Käse, Obst und Gemüse, alles, was eben nicht so schnell verdarb. Wir würden gemeinsam essen und uns dann wieder unter die Leute mischen, bis die Priesterin uns zu sich rief, um mit der eigentlichen Zeremonie zu beginnen. Naserümpfend spielte ich mit dem Ende meines Zopfes. Meine Familie war, mit der Ausrede, Mutter müsse nach einer schwangeren Nachbarin sehen, bereits wieder verschwunden.

    Die drei anderen Mädchen, Selin, Emethey und Zorah, saßen bereits auf ihren Plätzen und warteten angespannt darauf, dass das Schauspiel begann. Wo war Cedric nur? Kopfschüttelnd und mit weichen Knien lief ich auf den Tisch zu, es ließ sich ja doch nicht vermeiden.

    Zorah drehte sich kurz zu mir um und versuchte, so etwas wie ein Lächeln auf ihre Lippen zu bringen, während ich neben ihr auf den Stuhl glitt. Man sah ihr an, dass sie enorm aufgeregt war.

    »Hi«, kam es von Selin, die mir gegenübersaß. »Du musst Natalia sein.« Ihr Grinsen und die Art, wie sie dasaß, aufrecht und stolz, sagten mir, dass sie eine derjenigen war, die gerne die Halbseele sein würden.

    »Mein Name ist Nathaira und wir kennen uns, Selin. Ich habe deinen Bruder behandelt, nachdem er sich den Arm gebrochen hat.«

    Soweit ich mich erinnerte, waren die beiden Zwillinge.

    »Oh, das tut mir leid. Du musst wissen, ich bin nicht gut darin, mir Namen zu merken.« Sie zupfte an ihrem Ausschnitt herum und tippte dann unruhig mit dem Finger auf den Tisch. Unweigerlich dachte ich daran, dass es keine sonderlich gute Eigenschaft für eine Königin wäre, und lächelte kopfschüttelnd vor mich hin.

    »Wann fängt das Ganze denn endlich an? Ich habe einen Bärenhunger und möchte jetzt wissen, ob ich die Glückliche bin. Ich habe gehört, dass der Erbe der Lynchs ein besonders ansehnliches Exemplar ist. Der andere ...« Sie wurde rot und fächerte sich Luft mit der Hand zu. »Wer auch immer diese Pute sein mag, die er angeblich so toll findet, ich hoffe so sehr, dass ich es bin, der die Prinzen überzeugt. Ganz gleich welchen.«

    Also hatte ich recht, sie wollte es wirklich werden. Seltsamerweise hatte ich nie den Kontakt zu den anderen Mädchen gesucht, die auch das Zeichen trugen und somit dasselbe Schicksal hatten. Und soweit ich wusste, hielten sie sich selbst auch fern voneinander.

    »Und was wird aus deinem Bruder und deiner kleinen Schwester? Und deine Eltern? Was wird aus ihnen, wenn du gehst? Und hast du nicht sogar einen Geliebten hier?« Emethey sah sie nicht an, aber man spürte den Zorn, den sie in ihre Worte legte.

    »Du schaffst es wirklich, einem die Stimmung zu verderben. Nur weil du so dämlich warst, dich zu verloben, noch bevor die Sommersonnenwende zeigt, wer die Halbseele ist, brauchst du deine Wut nicht an mir auszulassen. Wenn ihr es alle nicht werden wollt«, sie schloss uns mit einer ausladenden Geste ein, »dann freut euch doch einfach für mich. Ich würde gerne die neue Königin werden. Ich würde gerne einen der Prinzen heiraten.«

    »Du bist verlobt?« Die Frage kam von Zorah, die entsetzt

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