Das weiße Pferd von Dittborn
Von Anny von Panhuys
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Buchvorschau
Das weiße Pferd von Dittborn - Anny von Panhuys
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Josefa Burger lehnte am offenen Fenster des Erdgeschosses und blickte erwartungsvoll dem Briefträger entgegen, der eben drüben, jenseits der schmalen Kleinstadtstrasse, aus einem der Häuschen trat. Er zeigte ihr schon von weitem einen Brief, den Josefa, nachdem ihn ihr der Mann zum Fenster hereingereicht hatte, hastig öffnete. Ihr Herz klopfte heftig, und in ihrem Kopf war nur der einzige Gedanke: Lieber Gott, wenn man mich auf Dittborn doch nur haben will! —
Sie las hastig und dann färbte sich das schmale bräunliche Gesicht von dem Freudenrot, das in ihre Wangen strömte.
„Frau Kruschina !" rief sie laut und eilte hinaus in die Küche, wo die Frau des Stadtkapellmeisters Kruschina eben dabei war, das Frühstück für ihren Gatten herzurichten.
„Frau Kruschina, liebe Frau Kruschina, endlich habe ich eine neue Stellung gefunden, es war aber auch die höchste Zeit, ich durfte Ihrer Güte doch nicht länger zur Last fallen."
Das junge Mädchen holte den Brief aus dem Umschlag hervor und las der zuhörenden, grauhaarigen Frau vor:
„Unter allen Bewerberinnen, die sich für den Gesellschafterinposten bei meiner Mutter meldeten, gefallen sowohl meiner Mutter als auch mir Ihre Bedingungen sowie Ihr Bild am besten und bitten wir Sie, die Stellung möglichst sofort anzutreten. Einer Drahnachricht, mit welchem Zuge wir Sie erwarten dürfen, damit Sie abgeholt werden können, entgegensehend, hochachtungsvoll Freiherr von Dittborn."
Josefa streichelte das gelbliche Briefpapier.
„Ach, liebe Frau Kruschina, wie froh bin ich, endlich Unterschlupf gefunden zu haben."
Die ältliche Frau nickte bedächtig. „Hoffentlich ist der Unterschlupf gut und von Dauer."
Das junge Mädchen lächelte. „Ich bin voll guten Mutes, und, ernst werdend, sprach sie weiter: „Ob ich es allerdings noch einmal im Leben so treffen werde, wie bei Frau von Durkhardt, bei der ich Verwaiste drei Jahre lang wie im Elternhause lebte, das glaube ich kaum.
Die andere nickte bestätigend.
„Frau von Durkhardt war auch die Güte selbst, und ich glaube, wenn sie der Tod nicht gar so plötzlich weggerissen hätte, dann wären Sie von ihr in ihrem Testamente sicher bedacht worden, aber sie starb zu jäh."
Das dunkelhaarige Mädchen blickte sekundenlang sinnend vor sich hin, und dann strich es mit der Hand über die Stirn. — „Wollen nicht von traurigen Dingen reden, Frau Kruschina, denn jetzt habe ich nur Grund, mich darüber zu freuen, so schnell untergeschlüpft zu sein, und morgen früh will ich reisen, erst werde ich den Fahrplan studieren und dann gleich nach Dittborn Drahtnachricht senden."
Josefa Burger verliess eiligst die Küche. Die Frau trug ihrem Manne das Brett, auf dem sie das Frühstück zusammengestellt, ins Zimmer, in dem er gemütlich auf dem Sofa sass und ihrer wartete.
„Fräulein Josefa hat nun eine Stellung, die Baronin Dittborn wünscht sogar, sie möge gleich kommen," erzählte die Frau die Neuigkeit an ihren Mann weiter.
Der behäbige Alte mit der dünnen grauen Stirnlocke, auf die er sehr stolz war, klopfte mit dem Löffelstiel ein Ei auf.
„So hat sie nun einen Posten, das arme Ding. Möge sie wenigstens Glück haben, denn das muss man ihr gönnen. — Er trank einen Schluck des heissen Kaffees. „Hat viel Pech gehabt, das ‚Zigeunermädchen‘, denn den Namen wird sie hier nun nicht mehr los. Erst stirbt ihre Mutter, die ja tatsächlich eine Zigeunerin gewesen sein soll, die sich der Maler Burger irgendwo aus Kroatien mitbrachte, dann stirbt der Vater, der viel Geld verdiente, aber nichts als ein paar angefangene Bilder hinterliess. Darauf nimmt Frau von Durkhardt das Mädchen als Gesellschafterin und Vorleserin zu sich ins Haus, um dann plötzlich zu sterben, ohne das arme Geschöpf mit einer Kleinigkeit zu bedenken. Nun muss sie sich nach einer neuen Stellung umtun, und bis sie die gefunden, botest du ihr unser Heim zum Aufenthalte an, Marie, das half ihr ein bisschen über den Berg.
Frau Kruschina lächelte in leichter Verlegenheit.
„Hab’ das Zigeunermädchen schon gern gehabt, als es noch ein verwöhntes Elternkind war und mit dem Violinkasten zu uns ins Haus kam, um von dir unterrichtet zu werden. Man muss sie ja liebhaben, setzte sie innig hinzu, „sie ist so frisch und gutherzig und so wunder-, wunderhübsch.
Der Kapellmeister kaute mit vollen Backen, und wenn auch etwas undeutlich, wiederholte er: „Wunder-, wunderhübsch. Nach einer Weile meinte er: „Wie heisst das Gut, wo sie nun hinreist?
„Dittborn, genau so wie die Herrschaft, die es bewohnt, und es liegt in Deutschland, in der Mark Brandenburg," erfolgte die Antwort.
„Dittborn, Dittborn, sagte der alte Herr langsam, die Silben dehnend, vor sich hin. „Mir ist der Name schon letzthin aufgefallen, ich muss irgend etwas gehört oder gelesen haben, worin Schloss Dittborn erwähnt wurde.
„Dittborn, Dittborn, sprach ihm seine Frau nach, „aber natürlich, eben fällt es mir auch ein.
Sie schenkte ihrem Manne eine frische Tasse Kaffee ein und nahm in einem altmodischen Strohsessel Platz. „Da war letzthin in einem Heft unserer ‚Wochenwarte‘ eine Auslese von alten deutschen Schlössern, in denen es spuken soll. Von der weissen Frau in den Hohenzollernschlössern an, war da allerlei vermerkt. Schloss Dittborn war auch genannt, aber wer dort spukte, das habe ich wirklich vergessen."
Der Kapellmeister nickte.
„Hast recht, Marie, nun weiss ich, weshalb mir der Name bekannt vorkam. Sage mal, kannst du das betreffende Heft nicht herbeischaffen, jetzt, nachdem ich weiss, Schloss Dittborn ist vorläufig Josefas zukünftige Heimat, möchte ich die Stelle, in der über Dittborn gesprochen wird, nochmal lesen."
Josefa Burger trat nach raschem Anklopfen zum Ausgang gekleidet ein.
„Guten Morgen, Herr Kapellmeister, nun, haben Sie schon von Ihrer Frau das Neueste vernommen. Ja? — Ich habe mich inzwischen mit dem Reisehandbuch beschäftigt und herausgebracht, dass ich morgen früh mit dem Sechsuhrzug fahren muss, dann bin ich nachmittags um drei auf der Station Greifstal, von wo aus ich nach dem Gute abgeholt werde."
Der Kapellmeister erzählte dem jungen Mädchen, worüber er soeben mit seiner Frau gesprochen.
Josefas dunkle Augen leuchteten.
„Das wäre famos, wenn es auf Dittborn spukte, habe für dergleichen immer eine grosse Neigung gehabt, und ich kann mir nichts Drolligeres denken, als wenn ich abends in den Schlossgängen irgendeiner alten Ahnfrau auf die Schleppe träte, oder einem Ahnherrn gegen den rasselnden Harnisch stiesse."
Frau Marie hob abwehrend die Hand. Sie hatte ein Heft aus einem Schränkchen genommen und blätterte nun darin. Auf eine Seite deutend, hielt sie es Josefa Burger hin. Die überflog einige Zeilen und las dann laut vor:
„Auch auf Schloss Dittborn in der Mark Brandenburg geistert eine alte Sage. Dort kündet nämlich ein grossmächtiger Schimmel den Schlossbewohnern besondere Geschehnisse an, heisst es. Josefa Burger schwenkte das Heft. „Ein Schimmel spukt auf Dittborn, ein Schimmel. O, das ist doch wenigstens mal etwas anderes, als die ewigen Ahnen.
Frau Marie kniff die Lippen ein. „Vor einem Pferde würde mir mehr graulen, als vor einer spukenden menschlichen Gestalt."
„Bleiben Sie lieber noch ein bisschen bei uns und suchen Sie sich in Ruhe hier in Österreich eine minder unheimliche Stellung," meinte der Kapellmeister.
Josefa Burger lachte silberhell. „Bewahre, nun freue ich mich erst richtig auf Dittborn, und wenn ich dem Spuk begegne, dann schreibe ich Ihnen darüber, Herr Kapellmeister."
Sie rückte das schwarze Seidenhütchen tiefer in die Stirn. „Jetzt muss ich aber zur Post, mein Telegramm besorgen!" —
In der nächsten Morgenfrühe nahm Josefa Burger in einem Abteil des D-Zuges Platz, und ihr weisses Taschentüchlein wehte zum Fenster hinaus, solange die umflorten Augen das alte Kapellmeisterehepaar zu erblicken imstande waren. Sie fuhr sich mit dem Tuch über die feuchtgewordenen Wimpern und nahm Platz. Der Abschied von den lieben Menschen war nicht leicht gewesen. Fast zwei Monate hatte sie in ihrem kleinen Hause gelebt, selbstlos hatte sich das alte Paar ihrer Verlassenheit erbarmt, und die geringe Summe, die sie sich bei Frau von Durkhardt erspart, wäre während der Wartezeit nach einer neuen Stellung längst draufgegangen, wenn sie Wohnung und Nahrung hätte bezahlen müssen.
Josefa Burger befand sich allein in dem Abteil, und sie konnte ungestört ihren Gedanken nachhängen.
Ihre ganze Vergangenheit wurde wach und formte sich zu Bildern zusammen, die wie ein leise zitternder Film an ihrem Denken vorüberzogen. Sie meinte, wieder die dunkelhaarige, wunderschöne Mutter zu sehen, die so jung sterben musste, und den lebenslustigen Vater, der mit Pinsel und Palette die Welt erobern wollte und kaum genügend zusammenbrachte, um seine letzte Ruhestätte bezahlen zu können. Just achtzehn Jahre war sie gewesen, als dem Vater die schaffensfrohen Arme müde niedersanken. Damals nahm sich die reiche Frau von Durkhardt ihrer an, und drei Jahre brachte sie in deren schöner Villa zu, bis der unersättliche Tod sich unerwartet diese mütterliche Herrin holte. In jenen schweren Tagen hatten ihr die Kruschinas angeboten, zu ihnen zu ziehen, bis sich ein neuer Wirkungskreis für sie erschlossen. In einer Berliner Zeitung, die ihr der Zufall in die Hände spielte, fand sie ein Inserat, in dem auf ein Gut in der Mark für eine ältere Dame eine Vorleserin und Gesellschafterin gesucht wurde. Sie spürte Lust, Deutschland kennenzulernen und meldete sich darauf, um nach zweimaligem Briefwechsel einen Abschluss zu erzielen.
Josefa schaute hinaus in die herbstliche Landschaft, und das Herz ward ihr bedrückt, da sie nun sann, wie lange sie wohl die deutsch-böhmische Heimat nicht mehr sehen würde. Über den lieblichen Bergen lag die Oktobersonne, und wie goldene Tücher hing ihr kosender Schein um die schon etwas gelbblätterigen Bäume und bräunlichen Hecken. Schimmernd goldflüssig wand sich ein Bächlein durch die noch grüne Wiese, und Dörfer schmiegten sich in die Täler ein, als suchten sie Schutz vor Wetter und Feinden. — Wie herrlich die Heimat war, niemals war dem Mädchen das stärker zum Bewusstsein gekommen als jetzt, da sie dieselbe vielleicht für lange meiden musste.
Gewaltsam schüttelte Josefa Burger die schwermütigen Gedanken ab, ihre Natur war zu froh und heiter, um sich vollständig unterkriegen zu lassen, sie wollte lieber an das denken, was sie erwartete. — Wie mochte die Baronin Dittborn sein und ihr Sohn, der sehr kurz und kein Wort zuviel zu schreiben pflegte.
Eigentlich hätte die Baronin doch selbst schreiben können, aber vielleicht war sie leidend. — Ach, wozu über Dinge grübeln, für die ihr alle festen Umrisse fehlten.
Sie holte sich ein Buch aus ihrer Reisetasche und begann zu lesen. Ab und zu schaute sie auch in die Landschaft hinaus. Gegen Mittag langte sie in Berlin an; dort nahm sie sich eine Kraftdroschke und liess sich nach dem Stettiner Bahnhof fahren. Der Zug, den sie von hier aus benützen musste, stand schon bereit, aber sie hatte, da es ziemlich viele Mitreisende gab, nicht wieder das Glück, allein fahren zu können, sondern musste ein Abteil besteigen, in dem bereits eine ältere Dame mit zwei jüngeren sass. Augenscheinlich Mutter und Töchter. Musternde Blicke tasteten ihren einfachen aber kleidsamen Reiseanzug ab und hingen fragend an ihrem brünetten Gesicht.
Nachdem der Zug ungefähr eine halbe Stunde unterwegs war, vermochte die ältere Dame ihre Neugier nicht mehr zu zügeln.
„Verzeihen Sie, mein Fräulein, ich irre wohl nicht, wenn ich Sie für eine Ausländerin halte?"
Josefa Burger sagte lächelnd: „Sie irren sich nicht, gnädige Frau, ich bin Österreicherin."
Die Dame zupfte an ihren Garnhandschuhen herum.
„Ihr Äusseres lässt eher den Schluss auf Ungarn zu," sagte sie fragend, denn die kurze Antwort befriedigte sie keineswegs. Eine der Töchter, eine magere, sommersprossige Blondine, mischte sich ein.
„Mama findet, Sie wirken so dunkel. Hier in Deutschland findet man an einem jungen Mädchen nichts schöner, als goldenes Haar und blaue Augen." Sie schmachtete mit verwaschenen graublauen Augen zur Wagendecke empor und schob sich eine Strähne des fahlen, dünnen, verbrannten Haares über der Stirn zurecht.
„Meine Mutter war Kroatin," erklärte Josefa und dachte bei sich: Ihr seid nicht die Menschen, denen ich erzählen kann, meine Mutter ist eine schöne, wilde Zigeunerdirne gewesen, die sich der Vater ins Netz der Liebe und Ehe eingefangen und die wie ein armer, heimwehkranker Vogel gestorben ist.
„Ah, eine Kroatin war Ihre Mutter, die ältere Dame wiegte den knochigen Kopf, als hätte sie soeben eine äusserst erstaunliche Tatsache erfahren, und dann fuhr sie in ihrem Verhör fort: „Aber weshalb reden Sie in der Vergangenheit, Ihre Frau Mutter lebt doch hoffentlich noch?
„Meine Eltern sind schon seit Jahren tot," sagte Josefa kurz und zog ihr Buch wieder hervor, um sich durch Lesen der unbequemen Fragerei zu entziehen.
„Wie traurig, tönte es an ihr Ohr, „da reisen Sie sicher zu Verwandten?
Josefa sah die Frau gross an. „Ich bin nicht so glücklich, irgendeinen Verwandten zu besitzen, zu dem ich reisen könnte."
Die Dame machte ein Gesicht wie ein lebendig gewordenes Fragezeichen.
„Aber, mein Fräulein, Sie scherzen, ein junges, elternloses Mädchen