Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Schwarz vor Augen
Schwarz vor Augen
Schwarz vor Augen
eBook337 Seiten4 Stunden

Schwarz vor Augen

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"Fredrik Skagen ist ein skandinavischer John le Carré." - Dagbladet. Was geschieht, wenn man ohne Vorwarnung am helllichten Tag sein Gedächtnis verliert? Der Held, dem das in diesem Roman widerfährt, verschafft sich mithilfe von gefährlichen Freunden eine neue Existenz. Gleichzeitig such ein ganzes Land nach dem Mann, der in ein spektakuläres Verbrechen verstrickt sein soll. Fredrik Skagen, Norwegens erfolgreicher Autor von Psychothrillern, inszeniert eine raffinierte, spannende und höchst glaubhafte Suche nach den Hintergründen eines ungesühnten Verbrechens. Es gilt, einen skandinavischen Meisterautor zu entdecken. AUTORENPORTRÄT Fredrik Skagen, 1936 geboren, zählt zu den erfolgreichsten Spannungsautoren Skandinaviens. Seine Romanen und Kinderbücher wurden vielfach preisgekrönt. REZENSION "Fredrik Skagen ist in Skandinavien längst kein Unbekannter mehr und Schwarz vor Augen beweist eindrücklich, dass der Autor sein Handwerk bestens versteht. Routiniert steckt Skagen den Rahmen seiner Handlung ab, baut gekonnt Spannungsbögen auf und zieht seine Leser mehr und mehr in die Geschichte hinein, bis zum überraschend logischen Schluss. Dabei hat der Jazz-Liebhaber und Verehrer von John Le Carré sein Vergnügen mit musikalischen Verweisen und Anspielungen auf bekannte Vorbilder und Kollegen, von Joseph Hayes bis Scott Turow. Dass die Handlung manchmal ein wenig an Plausibilität vermissen lässt, verzeiht man gern bei soviel offenkundigem Spaß an der Sache." -Peter Schneck --- DAS BUCH Kein Schrecken ist größer als der Schrecken vor sich selbst: Von einem Moment auf den anderen verliert die Hauptperson von Fredrik Skagens spannendem Roman sein Gedächtnis und jede Erinnerung an seine Vergangenheit, seine Familie, seine Freunde. Nur die bedrückende Ahnung eines schrecklichen Ereignisses ist ihm geblieben, eine unklare Vision von einer toten Frau, dem Messer in ihrem Bauch und von seinen eigenen Händen, voller Blut. Was aber macht er hier, in London, ohne Papiere, ohne Geld und ohne Zuflucht? Während sich für den Mann ohne Gedächtnis die Schatten der Vergangenheit nur nach und nach aus der Gegenwart schälen, versucht Linda Blix aufgeregt, ihren Mann Steinar zu finden, der offensichtlich nach einem Nervenzusammenbruch orientierungslos in der britischen Metropole herumirrt. Das norwegische Ehepaar hat schlimme Zeiten hinter sich, denn Steinar wurde beschuldigt, seine Geliebte umgebracht zu haben, weil sie vorgab, ein Kind von ihm zu erwarten. Trotz seines Freispruchs vor Gericht verfolgen ihn die Medien weiterhin als Täter und er flüchtete mit seiner Frau nach England. Schon beginnt auch Linda an ihm zu zweifeln, und für Steinar wird die Suche nach seiner Vergangenheit und seiner Erinnerung zur verzweifelten Suche nach dem wirklichen Täter und dem Beweis für seine Unschuld. --- Ein Mann steht am helllichten Tag völlig orientierungslos auf der Straße einer fremden Stadt in einem fremden Land. Er weiß nicht, wo er hinsoll. Sein Leben ist mit einem Schlag wie ein weißes Blatt Papier. Es beginnt die qualvolle und gefährliche Suche nach seiner Erinnerung und nach seiner Vergangenheit, denn schon bald wird ihm zumindest eines klar: Eine furchtbare Tat und die Angst danach müssen der Auslöser für die totale Amnesie sein. Kehrt mit seinem Gedächtnis auch der Albtraum zurück? Will er sich überhaupt erinnern, oder soll er sich in die Anonymität eines neuen Lebens flüchten? Während die Polizei und die Medien eines ganzen Landes nach ihm fahnden, beschließ er, um sein verlorenes Leben zu kämpfen.
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum21. Apr. 2015
ISBN9788711326671
Schwarz vor Augen

Mehr von Fredrik Skagen lesen

Ähnlich wie Schwarz vor Augen

Ähnliche E-Books

Krimi-Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Schwarz vor Augen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Schwarz vor Augen - Fredrik Skagen

    Rivarol

    Vielleicht geschieht es

    genau in dem Moment, als er auf den Bürgersteig tritt und der Verkehrslärm und die schroffe Kälte der Luft ihm wie eine kompakte Wand entgegenschlagen. Die Situation an sich macht ihn nicht ratlos, denn er ist es gewohnt, sich auf Tatsachen und Erfahrung, seinen Instinkt und gesunden Menschenverstand zu verlassen, um im Alltag rasche und richtige Entscheidungen zu treffen. Dass einem das Leben manchen Streich spielen konnte, hatte er schon früher erfahren; deshalb begegnet er dieser Situation mit einer Art professionellem Gleichmut, jedenfalls am Anfang. Wenn er Schwierigkeiten hat, sich zu entscheiden – er ist stehen geblieben, festgefroren, wie ein Stillleben –, dann liegt es an der banalen Tatsache, dass er keine Ahnung hat, in welche Richtung er gehen soll.

    Die Straße ist ihm vollkommen fremd. Er weiß nicht, wo er ist.

    Diese plötzliche Erkenntnis wirkt zunächst abwegig, und seine erste Reaktion gehört vermutlich zu den ältesten der Menschheit: er hebt die Hand und kratzt sich am Kopf. Unter normalen Umständen hätte er die Irritation überwunden, seine Selbstsicherheit wiedergewonnen und eine Entscheidung getroffen. Aber was waren normale Umstände? Diese hier auf keinen Fall. Seine Hand senkt sich langsam, als wundere er sich über die Entdeckung, barhäuptig zu sein. Er kann sich vage daran erinnern, in einer Kneipe gesessen und Bier getrunken zu haben, während er auf irgendjemand wartete. Der Betreffende war ausgeblieben, und schließlich war er aufgestanden und hatte das Lokal verlassen. Vielleicht lag die Verwirrung bloß daran, dass er einen falschen Ausgang gewählt und damit auf eine unbekannte Straße geraten war.

    Es bestand kein physisches Hindernis, sich aus dem Bann zu befreien und auf dem Absatz kehrtzumachen. Die Tür zum Pub liegt nicht einmal einen Meter von ihm entfernt. Er schiebt sie auf und geht hinein. Wenn er den Tisch fand, an dem er gesessen hat, würde er auch rekonstruieren können, warum er hier war und was er im Sinn hatte, als er sein Glas leerte und das Lokal verließ. Das ist die altbekannte, klassische Methode, die fast nie fehlschlägt: zum Ausgangspunkt einer Handlung zurückzukehren, um sich ihr Ziel ins Gedächtnis zu rufen.

    Die meisten Männer im Pub tragen dunkle Anzüge, einzelne auch Jeans und Pullover. Er kann sich an kein Gesicht erinnern, doch er war wohl zu sehr mit seinem Bier und den eigenen Gedanken beschäftigt gewesen. In der schummrigen Ecke unter dem ausgeschalteten Fernseher sitzen dicht beieinander zwei junge Frauen. Unwillkürlich blicken sie zu ihm auf und schenken ihm ein pflichtschuldiges Lächeln, bevor sie die Köpfe wieder senken; wie zwei Nonnen, die beim Gebet gestört worden waren. Auf dem einzigen freien Tisch stehen ein leeres Bierglas, eine Tasse und ein Aschenbecher. Hier muss er gesessen haben, obwohl er sich momentan nicht daran erinnern kann. Er lässt sich auf einem der Stühle nieder und sitzt eine Weile zur Probe, dreht das Glas und lässt seinen Blick die Theke entlangschweifen, ist jedoch überzeugt davon, den Barkeeper nie zuvor gesehen zu haben. Er spürt, dass es in den Mundwinkeln und im linken Augenwinkel zu zucken beginnt. Auch die anderen Dinge kommen ihm unbekannt vor; es könnte sich um jeden x-beliebigen Pub handeln. Dennoch muss er hier gewesen sein. Was für eine lächerliche Situation! Er steht auf und geht entschlossen hinaus.

    Doch der Boden schwankt unter ihm.

    Als er bei kühler Witterung wieder auf dem Bürgersteig steht, dröhnt der Verkehr wie ein metallischer Wasserfall in seinen Ohren; vor seinen Augen scheinen Quecksilbertropfen hin und her zu rasen. Die Angst nimmt ernsthaft von ihm Besitz. Es hilft nichts, den Verstand zu bemühen, denn er kennt kein einziges Haus in dieser Straße. Nichts hat sich verändert seit vorhin, noch immer hat er keine Ahnung, wo er sich befindet, geschweige denn, aus welchem Grund er hier ist. Er geht nach rechts, aufs Geratewohl, entlang einer Häuserfront mit kleinen Läden. Es muss eine kühle Jahreszeit sein, denn die Leute sind warm angezogen. Er selbst ebenfalls. Anorak und Schal. Dunkelbraune, gefütterte Handschuhe. Die Temperatur liegt um null Grad.

    Ganz ruhig. Es ist Winter. Du bist in einen Stadtteil geraten, den du nicht kennst. Kein Grund zur Verzweiflung. Bald wirst du wieder Herr der Lage sein. Dies ist nur ein momentaner Kurzschluss. Das kann jedem passieren, wann auch immer, wo auch immer.

    Wo auch immer. Hier liegt das einfache, doch unheimliche Problem. An welchem Ort?

    Ort, Hort, Sport, Wort ... Am Anfang war das Wort.

    Er beginnt nach Wörtern zu suchen und findet rasch eine Antwort – auf den Schildern, über den Geschäften und in den Schaufenstern. Alle Wörter, die er liest, sind englisch. Vermutlich befindet er sich in Großbritannien, auch wenn er weder die Stadt noch den Anlass kennt, der ihn hierher geführt hat. Plötzlich packt ihn der Zorn. Diese Behandlung will er sich nicht gefallen lassen. Kaufte man zum Beispiel eine Ware, die nicht hielt, was sie versprach, hatte man allen Grund zur Reklamation und konnte bei einer Verbraucherschutzorganisation eine schriftliche Beschwerde einreichen. Es gab doch schließlich Grenzen, in welch brenzlige Situationen einen die Gesellschaft bringen konnte. Ein wohlbegründeter Protest war am Platz!

    Im nächsten Augenblick, immer noch erregt, begreift er die Naivität seiner Überlegungen. Hier nutzte es nichts, auf erprobte Verhaltensmuster zurückzugreifen; die Situation ließ sich nicht beeinflussen. Diese Einsicht ist es wohl, die ihn langsam die Kontrolle über sich verlieren lässt. Seine Füße zittern bereits. Das Beben breitet sich im ganzen Körper aus, sodass er stehen bleiben und sich gegen die Mauer stützen muss, um nicht die Balance zu verlieren. Beinahe muss er sich übergeben, so übel ist ihm.

    Komm zu dir. Unterdrück die Angst. Schließ die Augen. Denk nach.

    Er versucht es. Wieder sieht er den Pub vor sich. Vor kurzem hatte er noch drinnen in der Wärme gesessen und ein Bier getrunken. Er hatte auf jemand gewartet, eine Person, die nicht zur verabredeten Zeit erschienen war. Darum hatte er das Lokal verlassen, verärgert. Mit welchem Ziel?

    Er ist einer Ohnmacht nahe, hat Atemprobleme und spürt, wie der kalte Schweiß durch die Haut dringt und ihn von seiner Umgebung isoliert. Mit der freien Hand trocknet er sich die Stirn. Versucht sich zusammenzureißen, damit die Passanten nicht glauben, er lehne sich gegen die Wand, weil er krank oder betrunken sei. Er hasste es, unangenehm aufzufallen – und angeglotzt zu werden. Also: er hatte jemand treffen wollen. Einen Mann? Eine Frau? Ja, eine Frau, dessen ist er sich ziemlich sicher. War er mit ihr verheiratet? Sie hatte vermutlich Besorgungen machen wollen, und er hatte dankbar ihren Vorschlag angenommen, sich auszuruhen und im Pub auf sie zu warten.

    Das war immerhin eine Möglichkeit. Er schluckt und die Übelkeit wird ein wenig schwächer.

    Keine Sekunde glaubt er daran, zu träumen oder zu phantasieren. Träume konnten zwar sehr realistisch sein, waren jedoch immer von einer gewissen Verfremdung geprägt. Jetzt schien es sich schon eher um eine virtuelle Realität zu handeln, von der echten Wirklichkeit kaum zu unterscheiden, nur eine Nanosekunde vom eigenen Pulsschlag abweichend, ein so unbedeutend verzerrtes Spiegelbild, dass es mit dem Original praktisch identisch war. Die Erinnerung würde bald zurückkehren. Es bedurfte nur eines kleinen Rucks und er war wieder der Alte. Hinterher würden sie über die ganze Geschichte lachen. Vermutlich war er bloß überarbeitet. Oder das Bier war nicht in Ordnung gewesen. Er macht ein paar willkürliche Schritte und bleibt vor dem Schaufenster eines Uhrmachers stehen. Geschieht es schon jetzt? Er versucht, sich über seine Handlung Rechenschaft abzulegen.

    Habe ich angehalten oder bin ich angehalten worden?

    Alle ausgestellten Uhren zeigen dieselbe Zeit: 2.33. Seine eigene Armbanduhr auch.

    Vermutlich hatten sie zusammen zu Mittag gegessen, er und die Frau, mit der er vielleicht verheiratet war. Während er versucht, sich daran zu erinnern, was sie gegessen hatten, wird die Übelkeit von einem unangenehmen, bohrenden Schmerz hinter den Schläfen abgelöst. Je mehr er sich zu konzentrieren versucht, desto unerträglicher wird er. Es hilft, die Uhren zu betrachten; damit kann er alle Gedanken verdrängen. Im Fenster befinden sich Uhren aller Größen und Formen, von gediegenen Wanduhren bis hin zu kleinen, ausgeklügelten Damenaccessoires, die so elegant sind, dass das Zifferblatt ohne Zahlen auskommt, alle dekoriert mit Weihnachtssternen und glitzernden Bändern. Er sieht auch verschiedene Wecker. Das wär’s! Aufzuwachen und auf einen Schlag die Orientierungslosigkeit überwunden zu haben. Er denkt an Raum und Zeit. Abstände maß man normalerweise in Metern, Kilometern und Meilen. Aber man konnte sie auch durch Zeitspannen ausdrücken, indem man zum Beispiel sagte, der Abstand zwischen A und B betrage zehn Minuten mit dem Zug. So hatte Einstein wohl gedacht. Und ein Humorist hatte es so formuliert: Die Zeit ist eine Erfindung der Natur, die verhindert, dass alles gleichzeitig geschieht.

    Eine vernünftige und praktische Angelegenheit.

    Aber was nun? Die Zeit lief weiter. Und er hatte nicht einmal rekonstruieren können, wann die Leere im Kopf eingetreten war und er in irgendeiner Form die Besinnung verloren haben musste. Vielleicht war es nicht geschehen, als er auf den Bürgersteig trat, sondern als er vom Tisch aufstand oder den letzten Schluck Bier trank. Oder noch früher, zum Beispiel als seine Frau den Pub verließ, um ihre Besorgungen zu machen. Falls er verheiratet war. Falls er überhaupt den Pub besucht hatte.

    Er schließt die Augen – lange. Wenn er sie wieder öffnet, will er sich an einem Ort befinden, der ihm bekannt ist. Er beginnt, bis hundert zu zählen, schneller und schneller. Bildet sich ein, er könne den Verkehrslärm ignorieren. Achtundneunzig, neunundneunzig, hundert ... Ich komme! Er blinzelt. Starrt auf dieselben präzise tickenden Uhren. Schluckt, um den quälenden, hoch im Hals sitzenden Kloß loszuwerden. Das gelingt, doch erneut macht sich der Druck hinter den Schläfen bemerkbar. Etwas Grundsätzliches stimmt mit seinem Kopf nicht. Er hebt die Hand, fährt sich behutsam durch die Haare und sucht nach einer offenen Wunde, findet jedoch keine.

    Hinter ihm gleitet ein roter Bus im dichten Strom der Fahrzeuge an ihm vorbei; er sieht ihn im Fenster. Ein Bus mit zwei Etagen. Ein Doppeldecker. Er sieht auch die Passanten, die Englisch sprechen – eine Sprache, die er ziemlich gut beherrscht, obwohl sie nicht seine Muttersprache ist. Die Wortfetzen, die er aufschnappt, kommen ihm wie Sprechblasen eines Comics vor, dessen Handlung er nicht versteht:

    »Hab ich doch gesagt, lass mich in Ruhe.«

    »Das werde ich Margaret erzählen.«

    »Mir reicht’s.«

    »Zum Angeln? Aber doch nicht kurz vor Weihnachten.«

    Er begreift den Sinn jedes einzelnen Wortes und versucht sich an die erfreuliche Tatsache zu klammern, dass er nicht völlig den Verstand verloren hat, dass er die Sprache versteht, dass er zur Not in der Lage ist, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Der nächste Schritt musste sein, sich nach Hilfe umzusehen, Kontakt mit einer Person aufzunehmen, die ihm eine so nützliche Auskunft erteilen konnte wie die, wo er sich eigentlich befand. Die ihm so präzise Koordinaten angeben konnte, dass es ihm möglich wurde, sich in die richtige Richtung zu bewegen, zurück zu der Wirklichkeit, die ihm vertraut war und in der er sich orientieren konnte. Er brauchte nur einen kleinen Wink, eine Ortsangabe, und das unangenehme Zittern würde verschwinden wie eine Pfütze an einem warmen Sommermorgen. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab, jemand anzusprechen. Weil es ihm peinlich war?

    Genau in diesem Moment zeigen alle Uhren im Fenster 2.37.

    P.m., denkt er, post meridiem. Ein Winternachmittag, irgendwo auf den Britischen Inseln. Er setzt sich wieder in Bewegung, lässt Rolex, Certina, Swatch und Omega zurück. Schaudernd biegt er um die Ecke in eine kleine Straße mit niedrigeren Häusern, an deren schmalen Bürgersteigen zwei gelbe Streifen entlanglaufen. Er weiß, was die Streifen bedeuten: Parken verboten. Er weiß es, weil er schon früher in diesem Land gewesen ist. Gemeinsam mit der Frau, der er womöglich angehört.

    Doch jeder Gedanke, jedes Aufschimmern einer möglichen Vergangenheit, das ihn auf die richtige Spur setzen könnte, führt nur zu einem neuen Vakuum in seinem Kopf und weiteren Schmerzen. Die Assoziationen sind wie Warnsignale, starke Halogenlampen, deren Licht blendet und ihm die Sicht nimmt. Zusammen mit dem Kopfschmerz machen sie jedes Forschen nach möglichen Erklärungen zunichte. Vermutlich wäre es das Klügste, auf dem Absatz kehrtzumachen und in der Hoffnung zum Pub zurückzugehen, dass die Erinnerung langsam wiederkehrt.

    Dass er diesen einleuchtenden Gedanken nicht in die Tat umsetzt, liegt an der neuen Erfahrung, dass logische Schlussfolgerungen ein erhöhtes Unbehagen nach sich ziehen. Sobald er einfach weiterschreitet, ohne sich den Kopf zu zerbrechen, lässt der Druck von innen nach. Das fremde Terrain reduziert sich auf eine gleichgültige Straße, von der keine Bedrohung ausgeht. Der Körper fühlt sich leichter und momentan plagen ihn keine Sorgen. Er betrachtet seine Füße und beobachtet, wie sie ihn Schritt für Schritt vorwärts bringen.

    Gehe ich oder werde ich gegangen?

    Der Spiegel im kleinen Raum, in dem er steht und sich erleichtert, ist zersplittert. Er lässt es lange und wohlig laufen, vermutlich infolge des kürzlich konsumierten Bieres, denn der Strahl ist glasklar. Es gab nur eine Erklärung: Er hatte einfach einen kurzen Aussetzer gehabt. So etwas kam vor, das hatte er schon gehört. Jetzt war es nur notwendig, kühlen Kopf zu bewahren. Langsam würde sich der Körper erholen und der unerwarteten Situation anpassen. Oder umgekehrt: Er würde einsehen, dass dieser Zustand der normale war.

    Zurück auf der Straße, würde er zu sich kommen und wieder ganz der Alte sein.

    Er ist sich dessen so gewiss, dass er, nachdem er seine Hände unter dem glühend heißen Luftstrom eines Automaten getrocknet hat, optimistisch lächelnd auf die Straße tritt und den Evergreen Bye Bye Blackbird summt. Nach einer Weile gelangt er an einen Park, der durch ein schwarzes Eisengitter vom Bürgersteig abgegrenzt ist. Schon an der nächsten Ecke würde er sowohl die Kopfschmerzen als auch die unangenehme Übelkeit los sein, die Gegend wieder erkennen und seine Schritte in die richtige Richtung lenken.

    Der Nebel, der ihn umgibt, lichtet sich langsam, jedoch nicht so sehr, wie er erwartet hatte. Ein merkwürdiges Wort kommt ihm in den Sinn: dribkcalB. Es bedeutet Amsel auf Englisch – rückwärts gelesen.

    Wenn ihn etwas auf dieser Welt beschäftigte, dann war es Sprache. Sein ganzes Leben lang hat er sich mit Wörtern herumgeschlagen. Er weiß nicht, warum das so war, und will es im Moment auch nicht wissen.

    Hinter dem Gitter, im Park, in einem Garten mit feuchten Winterbäumen und zerzausten Spatzen, gingen sicherlich ausgeglichene Menschen spazieren und führten vernünftige und verständige Gespräche. Er musste nur einen Eingang finden, dann konnte er sich unter die Leute mischen und jemand ansprechen, der alles unter Kontrolle hatte. Aber vielleicht wäre das gar nicht nötig, wenn schon in Kürze Klarheit anstelle von Chaos trat.

    An der nächsten Kreuzung fällt sein Blick in der Ferne auf ein hohes Gebäude. Selbst auf die große Distanz, die mindestens einen Kilometer beträgt, kann er die eisblauen Buchstaben an der Front lesen: Earls Court. Und zum ersten Mal, seit er aus dem Pub gekommen war, hat er eine Assoziation, die ihm keine Kopfschmerzen bereitet. Er denkt an eine große Messe. Eine, an der er teilgenommen hat oder teilnehmen soll. Während er weitergeht, werden die Buchstaben von anderen Fassaden verdeckt, doch er glaubt, in etwa die Richtung beibehalten zu können. Wenn er das Haus mit dem Schriftzug erreichte, würde er sich auch über seine Bedeutung klar werden und wieder zu sich kommen. Ganz bestimmt!

    Kurz darauf beginnt es eiskalt zu regnen. Er hat keinen Schirm dabei. Auf der anderen Seite der breiten Straße entdeckt er ein Café und eine Toreinfahrt. Ebenso instinktiv wie gedankenlos geht er schneller – gefährlich schnell. Das Nächste, das er hört, ist das schrille Quietschen von Autoreifen, das ein Ende findet, als die dreckige Stoßstange eines Lieferwagens, der eine Vollbremsung macht, gegen sein linkes Knie stößt. Der Fahrer springt hinaus in den Platzregen und fuchtelt mit den Armen.

    »Hey, du hast sie wohl nicht alle!«

    »Entschuldigung.«

    »Sind hier etwa Zebrastreifen?«

    »Nein, tut mir leid.«

    Das Englisch fällt ihm schwer, logischerweise. Sorry hat er gesagt. Pardon me.

    »Du hättest hinüber sein können, du Vollidiot! Wäre wirklich nicht meine Schuld gewesen.«

    »Nein, natürlich nicht.«

    Er fühlt sich einer solchen Situation nicht gewachsen, und als die Autos hinter dem Lieferwagen anfangen zu hupen, spürt er, wie sich seine Füße wieder in Bewegung setzen.

    »Ja, komm schon, schieb deinen Arsch von der Straße!«, gellt es in seinen Ohren, doch er kann sich nicht vorstellen, dass der Mann hinter ihm herläuft, weil sein stehender Wagen ein Verkehrschaos auslösen würde. »Könntest dich ruhig bedanken, dass ich dein verdammtes Leben gerettet habe!«

    Sein Ziel ist immer noch dasselbe: der Bürgersteig auf der anderen Seite der Straßen. Kurzatmig, aber unversehrt steht er im trockenen, ruhigen Dunkel der überdachten Einfahrt, steckt eine Hand in die Jackentasche und stellt fest, dass er noch ein bisschen Kleingeld besitzt. Mehr als genug für eine Tasse Kaffee. Dass er das einschätzen kann, überrascht ihn nicht im Geringsten. Und wenn er immer noch zittert, hat das nichts mit dem haarscharf vermiedenen Unfall zu tun. Er zittert, weil er nicht herausfinden kann, was mit ihm geschehen ist. Ein ebenso peinliches wie lächerliches und verwirrendes Gefühl. Die Lücke in seinem Gedächtnis ist undurchdringlich, dicht und schwarz wie Pech.

    Kurz darauf sitzt er im Anorak an einem kühlen Fensterplatz vor einem Plastiktisch und betrachtet die Regentropfen, die auf dem Asphalt unzählige kleine Explosionen verursachen. Seine Hand zittert so stark, dass der Kaffee überschwappt. Er verbrennt sich die Lippen und neue Wellen der Übelkeit breiten sich in ihm aus.

    Ganz ruhig, alter Junge. So haben wir gerne miteinander geredet, als wir uns ... getroffen haben, aber wo? Sei nicht so verflucht ängstlich. Gerade eben, kurz bevor es zu schütten anfing, war ich drauf und dran, den roten Faden zu finden. Ein bisschen konzentrierte Entspannung und alles fällt mir wieder ein.

    Konnte man sich konzentriert entspannen?

    Das Paradoxon interessiert ihn. Doch sobald er darüber nachdenkt, ob es sich womöglich um ein berufsbedingtes Interesse an sprachlichen und semantischen Problemen handelte, werden die Schmerzen hinter seinen Schläfen so unerträglich, dass er sich nach vorne beugen und die Hände gegen sie pressen muss. Es tut so weh, dass er ein Stöhnen nicht vermeiden kann, obwohl ihm das Geräusch höchst peinlich ist.

    Die Frau hinter der Theke, deren Kleid ebenso in die Jahre gekommen war wie sie selbst, hatte sein Verhalten offenbar bemerkt, denn sie tritt vorsichtig an seinen Tisch und fragt mit mütterlichem Ton: »Geht es Ihnen nicht gut?«

    Er weiß nicht, was er antworten soll. Im Grunde ist er ja nicht krank – gesund allerdings auch nicht. »Wie heißt diese Straße?«, stößt er hervor. Seine Stimme klingt gepresst, vor allem wegen der Kopfschmerzen.

    »Gloucester Road.«

    »Und die Stadt?«

    »Ach du meine Güte. Soll ich einen Arzt rufen?«

    »War nur ein Scherz.«

    »Früher einmal war dies ein eigenes Dorf«, sagt sie leise, während ihr Blick sich verklärt. »Kensington.«

    Da fällt ihm ein, dass die Stadt London heißt und dass er aus Gründen, die im Dunkeln liegen, mit seiner Frau hier ist. Ein warmes Prickeln erfüllt sein Zwerchfell und die Kopfschmerzen nehmen ab. Jetzt musste er nur noch herausbekommen, wo sie sich befindet. Sobald er das wusste, konnten sie den Gang der Ereignisse rekonstruieren. Vielleicht ließ sich dann auch feststellen, wann die Erinnerungslücke eingetreten war. Er spürte, dass er eine Lösung nicht erzwingen konnte und dass sich früher oder später alles von selbst wieder einrenken würde, wenn er nur Geduld bewahrte.

    In der anderen Jackentasche findet er einen Stadtplan, ein Feuerzeug und eine Zwanzigerschachtel Zigaretten der Marke Kent. Sie ist beinahe voll und nach den ersten Zügen beruhigen sich seine Nerven. Es gelingt ihm, ohne Widerwillen den Kaffee auszutrinken, sich langsam zu erheben, der Frau eine Münze zu geben und nach kurzem Zögern die richtigen Worte zu finden: »Reicht das?«

    »Ja, danke. Und frohe Weihnachten!«

    Gott sei Dank hatte es aufgehört zu regnen. Vor dem Café faltet er den Stadtplan auseinander. Er sucht im Register und findet die Gloucester Road. Dort. Dort ungefähr muss er sein. Vermutlich wohnten sie in einem Hotel in der Nähe. Die Hauptstraße hieß Cromwell Road. Benannt nach dem alten Schurken Oliver Cromwell. Sein vierter Sohn, Henry, soll in dieser Gegend gewohnt haben. Von diesem Detail ist er felsenfest überzeugt. Doch an den Namen des Hotels kann er sich nicht erinnern. Im Grunde genommen ist er ihm auch gleichgültig. Es gab angenehmere und entspannendere Dinge, mit denen man sich beschäftigen konnte, zum Beispiel mit Oliver Cromwells Familie. Er hebt den Kopf. Es ist etwas dunkler geworden und er friert. Seine Füße setzen sich wieder in Bewegung, so lautlos wie Insektenbeine.

    Gehe ich oder werde ich gegangen?

    Sie lächelte gespannt,

    als sie die Tür des Black Lion öffnete. Der neue blaue Seidenschal lag in der Einkaufstasche von Past Times ganz oben. Er würde sicher seine Freude an ihm haben, auch wenn er erfuhr, dass er teurer war, als sie vermutet hatte. Sie hatten an einem Tisch hinter der Theke, in der Nähe des Fernsehers gesessen.

    Er war nicht mehr da. Nur sein schwarzer Borsalino hing noch am Garderobenständer in der schummrigen Ecke. Vermutlich war er auf der Toilette. Sie nahm an ihrem Tisch Platz und knöpfte sich den Mantel auf. Warf einen Blick in die Tasche, packte den Schal aus und legte ihn sich um den Hals. Es fühlte sich an wie eine weiche Wolke. Sie angelte nach der Zigarettenschachtel in ihrer Handtasche. Der Barkeeper, ein untersetzter, älterer Mann mit stachelbeerfarbenen Augen, eilte geschäftig herbei und gab ihr Feuer.

    »Can I help you, Madam?«

    »I’m waiting for my husband.«

    »Your husband? He left.«

    Sie schaute ihn verwundert an.

    »Walked away, five minutes ago.«

    Zwei junge Frauen am Nebentisch, die vorhin nicht da gewesen waren, schauten zu ihr herüber. Sie legte die Zigarette im Aschenbecher ab und knöpfte ihren Mantel wieder zu. Stand auf, obwohl sie am liebsten sitzen geblieben wäre.

    »Did he ... did he say anything?«

    »A message? No, Madam.«

    Sie nickte verdutzt, vergaß die Zigarette und strebte dem Ausgang zu. Auf dem Bürgersteig blieb sie stehen, warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass sie sich nur unwesentlich verspätet hatte. Wahrscheinlich war er ungeduldig geworden und zu Past Times zurückgegangen, um sie zu suchen. Doch er musste einen anderen Weg genommen haben, denn sie waren sich nicht begegnet. Sie begann zu laufen und hastete über die Straße in Richtung Kensington Street. Erreichte diese nach fünf Minuten und steckte keuchend den Kopf zur Tür des nach Textilien und Gewürzen duftenden Geschäfts hinein.

    »My ... my husband ...«, stotterte sie. »Has he been here and asked for me?«

    Die junge Verkäuferin, die ihr den Schal verkauft hatte, verneinte erstaunt.

    Sie beeilte sich, zum Pub zurückzukehren, gleichermaßen über sich selbst und ihren Mann den Kopf schüttelnd. Die außerplanmäßige Reise, zwei Wochen London, war ihre Idee gewesen. Nach vier Tagen in der Großstadt hatten sie zum ersten Mal – er bei einem Bier und sie bei einem Cappuccino – über das geredet, was hinter ihnen lag. Bis zu diesem Zeitpunkt waren sie beide bemüht gewesen, alles Belastende und Unangenehme zu verdrängen. Hatten versucht, nach vorne zu blicken, sich zu entspannen und nach neuen Möglichkeiten zu suchen. Der Aufenthalt sollte ihm neue Kraft geben. Auch ihr. Doch die Vergangenheit lauerte wie ein latenter, gefährlicher Virus. Versehentlich hatte einer von ihnen das Tabuthema berührt. Sie glaubte, dass er es gewesen war, gegen seinen Willen. Eine scheinbar belanglose Assoziation hatte ausgereicht. Das Gespräch kreiste, wie üblich, um sein Schuldgefühl, obwohl er unschuldig war. Einmal mehr hatte sie ihn zu beruhigen versucht und ihm versichert, die Zeit heile alle Wunden. Sie wusste, wie banal sich das anhörte, doch am Ende hatte er sie betreten angelächelt und sich für seine Gereiztheit entschuldigt. Lächelnd entgegnete sie, er könne es wieder gutmachen, indem er zum Beispiel ein paar Pfund für den wundervollen, handbemalten Schal springen lasse, den sie vor einer Weile schon in den Händen gehalten, sich aus finanziellen Gründen aber verkniffen habe. Da hatte auch er gelächelt und ihr sein Portemonnaie in die Hand gedrückt. Ich spendiere. Lauf einfach los und kauf ihn dir, ich trinke inzwischen mein Bier. Es macht mir nichts aus, hier zu warten.

    Der Barkeeper mit den gelbgrünen Augen nickte ihr zu, als sie wiederkam.

    »You

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1