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In Liebe deine Randi
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eBook253 Seiten3 Stunden

In Liebe deine Randi

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Über dieses E-Book

Jahrzehntelang hat sich Randi als Hausfrau und Mutter um ihre sechs Kinder gekümmert. Unterdessen sind die Kinder erwachsen geworden und führen nun ihr eigenes Leben mit Beruf, Familie und Liebesbeziehungen. Obwohl Randi als Oma glücklich ist, hat ihr eigenes Dasein eine gewisse Leere erhalten. Unter diesem Vakuum leidet nicht nur sie selber, sondern auch ihr Mann Michael, ein pensionierter Rechtsanwalt. Nach den vielen Jahren des Familiendaseins findet sich das Paar plötzlich zu zweit weider und ist gezwungen sich neu kennenzulernen. -
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum26. Feb. 2016
ISBN9788711509593
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    Buchvorschau

    In Liebe deine Randi - Lise Gast

    Mann

    Randi wachte auf, wunderbar erfrischt. Sie war nach einer ziemlich unruhigen Nacht gegen Morgen doch noch einmal eingeschlafen, was bei ihr selten vorkam; jetzt fühlte sie sich herrlich munter. Die Sonne schien schräg ins Zimmer, es mußte schon spät sein.

    Michaels Bett war leer. Was würde er sagen! Sie lief ins Bad, ein bißchen beschämt, anderseits so glücklich – es mußte ein guter Tag werden, sie hatte das deutlich im Gefühl. Unter der kalten Brause sang sie, das hatte sie seit langer Zeit nicht mehr getan.

    Es wurde ein guter Tag. Michael hatte schon Kaffee gekocht, in der Diele gedeckt – sie küßte ihn auf die Wange, als sie an ihm vorbeilief, um den Honig zu holen, den er vergessen hatte. »Entschuldige, aber ich habe so wunderbar geträumt.«

    »Wovon denn?« fragte er und lächelte, ein wenig hinterhältig – sie hätte es merken müssen. Mitten in ihrer Erzählung eines krausen und ziemlich unverständlichen Traumes hielt sie inne: sie hatte die Post entdeckt, die samt der Zeitung auf dem Tisch lag.

    »Das ist ja – das ist doch von Rönt«, flüsterte sie plötzlich, als könne der Brief sich noch im Augenblick verflüchtigen. Michael lachte und schob ihn ihr hin. Kaum aber hatte sie ihn in der Hand, da ging das Telefon. Sie lief. Es war Munne.

    »Munne kommt, – heute, mit allen drei Kindern!« sprudelte sie hervor, als sie wiederkam. »Heute, gleich nach Tisch! Und Rönt hat geschrieben! Michael, ist das nicht wunderbar?«

    Dieser Morgen war ein Neuanfang, Randi fühlte es wie eine Erlösung. Das erstemal seit langer, unendlich langer Zeit war sie wieder glücklich, erwartungsfroh und voller aufschießender Kraft. Sie hatte sich selbst nicht eingestanden, wie sehr sie diese durcheinanderbrausenden Gefühle entbehrt hatte. Und es war ausgerechnet der erste November, an dem dies geschah.

    Zweierlei auf einmal – Rönt hatte geschrieben, und Munne würde kommen. Es war kaum zu fassen, solch eine herzsprengende Seligkeit: man lebte noch, man lebte wieder! Man fühlte das Leben in allen Fingerspitzen.

    »Es geht ihr gut, ich hab’ gleich den Schluß gelesen!« berichtete sie atemlos. »Das andere mußt du mir vorlesen, das tust du doch –« Rönts Handschrift war »verboten«, wie Misch, der älteste Sohn, sich einmal ausgedrückt hatte, als er einen solchen Rönt-Brief-Tag miterlebte; winzig klein und kraus und nur mit Mühe zu entziffern. Randi hatte deshalb nur nach dem Anfang und dann, mit vor Glück und Aufregung blinzelnden Augen, den letzten Zeilen geguckt. Rönt war gesund, jedenfalls damals, als der Brief abging, gesund, gesund – vielleicht kam sie sogar wieder einmal heim. Und Munne heute! Wie wunderbar! Randi war schon vierfache Großmutter. Eva besaß ein Kind und Munne drei. »Ich muß sofort ...«

    »Natürlich mußt du sofort«, sagte Michael, und sie fragte etwas betroffen: »Was denn?«

    »Nun, Betten überziehen und Kuchen backen und ...«

    »Und vor allem nach Milch fahren«, fiel Randi ein, »und ...«

    »Natürlich. Los, fang an, ich werde inzwischen dieses Schriftstück entziffern, denn dazu hast du doch jetzt keine Zeit.«

    »Nein, wirklich, obwohl – aber weißt du, ich war zwei Tage nicht in der Stadt, und der Kleine muß ...«

    »Jaja. Ich mach’ dir einen Vorschlag. Wann kommt Munne? Halb zwei? Na also, bis dahin ist es ja noch eine ganze Weile. Ich werde mich also hier als Hyroglyphenentzifferer betätigen und herauszuknobeln versuchen, was herauszubekommen ist, und du tobst dich aus, – siehe oben. Wir essen zeitig, ich nehme an, eine Kleinigkeit wirst du trotz allem kochen, und dann trinken wir zur Feier des Tages einen Mokka miteinander, du rauchst eine Zigarette, und ich lese dir vor. Wie wär’ das?«

    »Wunderbar, Micha, wunderbar! Aber ich koch’ nicht nur eine Kleinigkeit, sondern ein Menu, bitte, sag, was du dir wünschst! Und bis dahin – nicht wahr, bis dahin tippst du den Brief ab, mit Durchschlägen, ja? Die schicken wir dann den anderen, damit die auch alles erfahren, was Rönt erlebt hat, und einen davon behalte ich, den kann ich dann immer wieder lesen, heute abend, und morgen, bis ich ihn auswendig kann. Tust du das? Du bist ein Schatz.« Sie küßte ihn so stürmisch auf die Wange, daß er wankte. »Und heute wird es schön.«

    Er lachte. Hinaus war sie – die Tür fiel, knall, hinter ihr ins Schloß, und dann hörte er ihren Geschwindschritt die Treppe hinauftrommeln. ›Das will eine Großmutter sein‹, dachte er kopfschüttelnd, halb verärgert, denn er war geräuschempfindlich, mehr jetzt als früher, – halb amüsiert. ›Und das Wetter macht sich auch‹, er blinzelte zum Fenster hin. Wahrhaftig, die Sonne!

    Es waren graue Tage gewesen, bis heute. Wolkig, verhangen, nichts von goldenem Oktoberlicht, wie er es liebte, und sie auch. Schon viel zu früh im Jahr hatte es angefangen zu nieseln und zu nebeln, als wäre es längst Ende November. Er zog die Schultern ein wenig zusammen, als fröstle er. Dabei war es warm im Zimmer, ruhig – ach, zu ruhig. Jedenfalls für sie, für Randi. Er selbst liebte die Ruhe, sehnte sich danach, brauchte sie. Er war müde ...

    Sie lebten allein, er und sie, nun schon ein paar Jahre lang, allein zu zweit, wie es so ist, wenn die Kinder groß werden. Eva und Wolf hatten ihre Praxis in einer Stadt in Hessen, eine schöne, gutgehende, etwas zu große Praxis, die beide sehr in Anspruch nahm. Nun bauten sie auch noch; sie hatten eigentlich nie Zeit. Munne wohnte nicht weit, aber allzu oft kam sie natürlich auch nicht zu Besuch. Misch, den Ältesten, sah man noch seltener, er arbeitete verbissen; gewissenhaft, zu gewissenhaft wahrscheinlich. Und Winnetou, der Jüngste, studierte zur Zeit im Ausland. Blieb Angeli.

    Angeli kam oft, Gott sei Dank. Dieses Kind, jetzt auch kein Kind mehr, war wahrhaftig das geworden, was Randi kurz nach ihrer Geburt einmal ausgesprochen hatte, noch benommen von der Narkose, die wie ein kleiner Tod gewesen war, – sich mühsam ins Leben zurücktastend. Sie sagte damals: »Sie kam wie ein Engel vom Himmel.« Michael war nicht ganz ihrer Meinung gewesen bei dieser Formulierung, erst viel später erfuhr er von Randi, wie diese zu einer solchen Auffassung kam. Da verstand er manches, jedenfalls versuchte er, ihre Gedankengänge nachzuvollziehen. Es hatte sich Entsetzliches im Herzen seiner Frau abgespielt, monatelang, hatte gedroht und gedunkelt und ihr Leben beschattet. Er selbst war nicht abergläubisch, war es nie gewesen, aber er gestand es ihr zu, nachdem er mehrfach versucht hatte, es ihr auszureden. Es war nicht ihre Schuld, niemand kann aus seiner Haut heraus. Und er liebte sie, wie sie war. Freilich ...

    Natürlich gab es ›Freilichs‹, in jeder Ehe wohl. Im Alter verstärken sich alle Eigenschaften, die guten wie die schlimmen, und wenn man im Temperament so verschieden war wie er und Randi, so merkte man das jetzt mehr als in der Jugend oder auf der Höhe des Lebens. Er seufzte. Und dann nahm er die Lupe und machte sich an Rönts Brief.

    Es war mühsam. Diese Rönt! Schon als Kind war sie anders gewesen als die anderen, das sogenannte Kuckucksei. Anfangs nur äußerlich; bei sechs Kindern haben die Eltern meist keine Zeit, über eventuelle Veranlagungen des einzelnen eingehend nachzudenken. Solange nicht Bedrohliches oder Erschreckendes zu bemerken war, ließ man jedes sich entwickeln, wie es mochte. Dann kam die Zeit, da Rönt die Blicke der Männer auf sich zu sammeln pflegte, obwohl sie nicht im landläufigen Sinne hübsch war. Aber äußerst, äußerst attraktiv, das ja. Eine Zeit der mütterlichen Angst und Sorge, weiß der Himmel, in der man von einer Sensation in die andere geriet. Und dann das Fernweh! Keins von Michaels und Randis Kindern war so viel gereist wie Rönt, allein, zu zweit, zu mehreren. Ein paarmal ging sie knapp an der Ehe vorbei, zweimal war sie, was man heute verlobt nennt. Aber jedesmal zog es sie wieder hinaus in die Welt, dagegen war kein Kraut gewachsen. Zur Zeit – wenn die Meldungen nicht schon wieder überholt waren – saß sie also in Lappland und verdiente sich ihren Unterhalt, indem sie Lappenkinder unterrichtete. Als ob es nicht Vernünftigeres im Leben zu tun gäbe! Dennoch, durch diesen Brief klang etwas wie Heimweh, wie Sehnsucht nach zu Hause – oder las das der Vater in den Text hinein? Ganz jung war Rönt ja nun auch nicht mehr, vielleicht sagte ihr eine innere Stimme, daß ihre Wanderjahre nun bald vorbei seien?

    Auch Randi dachte an Rönt, während sie das Zimmer für Munne und die Enkelkinder herrichtete. Sie dachte gleichzeitig an Misch und Angeli, an Eva und ihren Wolf und deren Kind Reni, an Munnes Mann und an Winnetou.

    An Winnetou – wie lang ist eigentlich die Nabelschnur? Ach, unendlich! Sie reicht unsichtbar bis Amerika und würde bis Australien reichen, ohne zu reißen. Zwischen der Mutter und dem Jüngsten, Winnetou, war sie jedenfalls noch nicht getrennt, aber weh tat es, wenn man sie allzu weit dehnte.

    Randi stand, über das Kinderbett gebeugt, das sie für Helga überzog, und weinte geschwind ein paar verstohlene Tränen um Winnetou, dumme, unkontrollierte, sie selbst überraschende Tränen, die mit Logik nicht das geringste zu tun hatten. Winnetou ging es doch gut, ja blendend, er hatte vor kurzem erst angerufen, ein Teilexamen glücklich bestanden. Er wohnte bei einer sehr netten Familie, die ihn am liebsten adoptiert hätte.

    Adoptiert, Winnetou, der Vater und Mutter und Bruder und Schwestern hatte! Das gab es! Aber rührend lieb war es von diesen Leuten, daß sie ihn so nett fanden. Obwohl Randi verstand, daß jede, jede Mutter sich solch einen Sohn wünschte wie ihn – und wie Misch – und Töchter wie die ihren, setzte sie in Gedanken schnell noch hinzu. Natürlich verstand sie das. Und natürlich mußte sie glücklich sein, wenn er es war, oder doch lernen, es zu werden, wo immer er sich befand. Das muß eine ältere Mutter können, es gehört zu den allerwichtigsten Lektionen des Lebens. Es ist besser, ein Kind weit fort zu haben und zu wissen, daß es dort am richtigen Platz steht und glücklich ist, als unglücklich dicht bei sich. Freilich, weit fort und nicht glücklich ... aber so war es ja bei ihm nicht. Oh, sie hatte viel gelernt, sie hatte gelernt, lachend Abschied zu nehmen und fröhliche Briefe zu schreiben, wenn ihr ganz anders zumute war, und sie war treuherzig bereit, noch mehr zu lernen, um der Kinder willen.

    Aber Amerika war wirklich sehr weit. Und Winnetou wuchs einem weg – nein, er war schon erwachsen gewesen, als er hinüber ging. Dieser Sohn hatte eine merkwürdige Art, eigenständig und der Mutter doch tief verbunden zu sein, vielleicht, weil er der Jüngste war und, bei der raschen Folge der größeren fünf Geschwister, ein sogenannter Nachspringer. Zu solch einem Kind stand man wohl immer ein wenig anders. Randi wußte nicht, wieso. Vielleicht hatten die Sterne gelächelt, als er, an einem Sonntag im November, das Licht der Welt erblickte. Nein, nicht die Sterne, die Sonne. Es war mittags um zwölf gewesen.

    Winnetou! Nun war bald sein Geburtstag! Ob er wohl anrief? Sonst tat sie es, mochte es ruhig etwas kosten, das bezahlte sie eben von ihrem eigenen Geld. Ein bißchen verdiente sie, indem sie kleine Plaudereien für Frauenzeitschriften schrieb. Meist etwas über Kinder, über große und kleine, Erfahrungen, Beobachtungen, Nachdenkliches. Viel brachte es nicht ein, aber ein Telefongespräch über den Ozean konnte man sich dann doch einmal leisten, wenn man sich kurz faßte. Als er das erstemal angerufen hatte, war sie so selig gewesen, daß sie es in allen Läden erzählte, während sie einkaufte. Jedermann kannte sie ja hier, die Rechtsanwaltsfrau mit den vielen Kindern. Und wenn sie dann gefragt wurde, was er denn gesagt habe, dann mußte sie mit den Achseln zucken und gestehen, sie wisse es nicht mehr. Aber seine Stimme, seine Stimme! Wie aus dem Nebenzimmer, so deutlich!

    Ja, sie würde anrufen. Sie mußte nur noch ganz genau überlegen, um welche Tageszeit, damit sie ihn einerseits bestimmt erreichte, anderseits nicht aus dem Schlaf riß. Sie war einfach außerstande, zu begreifen, wie sich die Uhrzeit verschob, ebenso, ob man Zeit verlor oder gewann, wenn man nach Westen flog. Manche Dinge lernte sie nie; sie hatte ja auch immer Michael an der Seite gehabt, den sie fragen konnte. Man durfte nur nicht allzuoft dasselbe fragen, das verdroß die Männer begreiflicherweise.

    Die kurze Rührung war vorbei. Sie lief eifrig hin und her und räumte und überlegte. Dort konnte Munne die Sachen stapeln, die sie für den Kleinsten brauchte, und hier würde Titus schlafen. Titus – er war jetzt zweieinhalb und sah auf den letzten Bildern, die Munne geschickt hatte, Misch sehr ähnlich, Randis ältestem Sohn, als dieser im gleichen Alter gewesen war. Munne betonte das auch immer am Telefon. Sie verstand sich mit Misch sehr gut, schien ihm zur Zeit näher zu stehen als seine Zwillingsschwester Angeli. Nun, zwischen Misch und Angeli hatte es immer eine gewisse Borstigkeit gegeben, eine Forderung des einen und anderen um Lebensraum. Zwillinge sind einander wohl allzu nahe, deshalb bestehen sie betont auf Abstand. Jetzt war Angeli ganz selbständig geworden, seit Misch und sie sich selten sahen; sie glichen einander auch sehr wenig. Misch war groß und breitschultrig, wesentlich größer als sein Vater, wie das heute meistens ist, Angeli dagegen war klein, die Kleinste aller ihrer Kinder, beweglich und von einer Ausgeglichenheit, die Randi oft erstaunte. Vielleicht war das auch beruflich bedingt, Angeli lebte sehr stark in ihrer Arbeit. Nun, insofern glich sie dem Bruder doch, auch Misch schuftete viel zu viel, das hatte er wohl von seinem Vater.

    Jetzt noch ein paar Blumen! Sie würde welche kaufen müssen, wollte ja sowieso in die Stadt fahren, im Garten war nichts mehr zu erwarten. Trotzdem lief sie noch schnell einmal hinaus, um die Garage herum. Dort, in einer geschützten Ecke, stand ein Rosenstrauch, besser gesagt: ein Rosenbäumchen, so eins, wie es im Märchen von Schneeweißchen und Rosenrot vorkommt. Ob ...? Richtig, da war noch eine, eine ›letzte Rose‹. Randi schnitt sie vorsichtig ab und überlegte dabei, welche Märchen man Titus schon erzählen könnte. Helga war nicht sehr für Märchen zu haben, sie wollte immer »was Wirkliches« hören. Randi fand das ein wenig enttäuschend. Wie wohl jede junge Großmutter, hatte sie gespannt darauf gewartet, nun endlich wieder erzählen zu dürfen. Aber jedes Kind hat ein Recht auf sich selbst und seine Art. Wenn Helga keine Märchen mochte, dann erzählte man eben Geschichten. Und vielleicht konnte man mit ihr schon richtige Spiele spielen, zum Beispiel jenes Gedächtnisspiel, das es zu Randis und ihrer Kinder Zeit noch nicht gegeben hatte, und das für Erwachsene genau so schwierig war wie für Kinder ab drei. Bei dem man aus ausgebreiteten Karten, die verdeckt auf dem Tisch liegen, immer zwei gleiche heraussuchen muß und sich merken, wo die einzelnen, kurz aufgedeckten Bilder lagen. Natürlich würde Helga das können, sie wurde ja bald fünf. Randi spielte selbst sehr gern. Und sie freute sich auf Helga, dieses selbstbewußte, streitbare kleine Frauenzimmer, das keinem ihrer Kinder glich, wie Randi immer fand. Helga schlug wohl nach ihrem Vater, jedenfalls äußerlich, denn streitbar war dieser nicht, vielleicht aber war er es als Kind gewesen. Ein liebenswerter Hallodri, so etwa schätzte Randi diesen ihren Schwiegersohn insgeheim ein. Obwohl er im Beruf recht tüchtig war, nicht so strebsam wie ihre eigenen Söhne, aber immerhin so, daß er stets das Ziel der Klasse erreichte, wenn man so sagen wollte, ohne einen Funken überflüssiger Mühe. Er war Architekt, sehr begabt, sehr geschickt im Umgang mit Menschen, das auch. Randi hielt eine allzu große Begabung eigentlich für etwas Gefährliches; ihre eigenen Kinder waren durchschnittlich begabt, keins ein »Überflieger«. So hatte sie das Gefühl, eine sehr starke Begabung sei etwas wie eine Krankheit, die man ein wenig zügeln sollte.

    Uli, Munnes Mann, hatte auch sehr viele Interessen. Er war sportlich engagiert, besaß ein Segelboot und kletterte, fuhr auch sehr gut Ski. Munne schien sich darüber keinen Kummer zu machen, weder, daß er es meist ohne sie betrieb – sie konnte ja der Kinder wegen nicht viel weg –, noch wegen der Gefahren. Überhaupt hatte die heutige Generation eine ganz andere Einstellung gegenüber dem, was gefährlich war. Sie lachte, wenn sich jemand beim Skilaufen das Bein brach, und erzählte stolz, der neue Wagen liefe hundertsechzig. Himmel, hundertsechzig – Randi hatte sich allzu oft beteuern lassen müssen, daß man mit hundertzwanzig genau so gefährdet sei wie mit hundertsechzig, wenn ein Reifen platzte. Im übrigen platzten die Reifen gar nicht mehr wie früher – dieses ›früher‹ klang wie: ›als man überhaupt noch keine Ahnung von Technik hatte‹, sondern verlören die Luft langsam, schlauchlos wie sie waren. Randi hatte immer das Gefühl, als sei sie schon ein sehr altes Eisen in den Augen der Jungen, wenn sie sich das immer wieder aufs Neue versichern lassen mußte. Hundertsechzig zu fahren, war eine Überforderung des Schutzengels, fand sie. Nach ihrer Vorstellung konnte man diesem Engel höchstens hundertzwanzig zumuten, und das war schon zu viel.

    Randi stellte die Rose auf die hellgelbe Biedermeierkommode, die hier im Zimmer so hübsch zur Geltung kam, gerade an der Wand, die die meiste Sonne hatte. Sie betrachtete sie mit schiefgehaltenem Kopf und lief dann weiter – es war so schön, sich beeilen zu müssen, sie genoß es aus tiefstem Herzen. Immer Zeit zu haben, war im Grunde gräßlich, nachdem man es sich jahrzehntelang sehnlichst gewünscht hatte. Zeit für sich, Zeit für die Arbeit, die dann erstaunlich wenig Zeit in Anspruch nahm, Zeit zum Lesen. Selbst das war lange nicht so schön wie erträumt. Randi hatte sich in arbeitsreichen Jahren angewöhnt, nur im Liegen zu lesen, abends vor dem Einschlafen und mittags, damals konnte sie sich meist nur eine kurze Mittagsruhe stehlen, die oft zur Mittagsunruhe wurde. Niemand lernte, so hatte sie in jener Zeit manchmal geseufzt, daß mittags nicht angerufen werden durfte, daß dies zum Anstand gehörte, ebenso wie man nicht mit vollem Mund redete oder mit schmutzigen Schuhen über fremde Teppiche lief. Trotzdem hatte es immer und immer wieder geläutet, sobald sie sich ausgestreckt hatte, Buch und Brille neben sich. Freunde der Kinder, Mandanten, Gott weiß wer. Einmal hatte Michael ihr zu Weihnachten eine Vorrichtung einbauen lassen, heimlich, mit der man das Telefon umstellen konnte, so daß es nicht im Zimmer, sondern im Flur läutete. Meist aber hatte sie vergessen, umzuschalten, ehe sie sich hinlegte, und dann kam etwas wirklich Wichtiges, so daß eins der Kinder, das im Flur abgehoben hatte, mit Donnerstimme schrie: »Mima, Mima, Ferngespräch! Mima, du sollst selbst kommen!«

    Ja, jetzt war das seit Jahren anders, jetzt war sie oft froh gewesen, wenn es läutete. Obwohl man dann doch meist enttäuscht wurde, wenn man etwas erwartete. Falsche Verbindung oder der Anruf eines ihr gleichgültigen Mandanten. Nein, zu viel Zeit zu haben war noch schlimmer als zu wenig. Und im Sitzen zu lesen, hatte sie verlernt. Konnte man sich aber am hellichten Tage hinlegen? Es gab Dinge, die Randi nicht konnte und auch nicht lernte.

    Jetzt aber kam sie sich vor, als sei sie wieder die Glucke von einst, um die sich die Küchlein scharten, mehr Küchlein sogar als früher, neue, kleine, süße, flaumige, vielstimmig krähend und piepsend und gackernd, laut nach Nahrung verlangend, nicht nur nach körperlicher.

    Randi war glücklich.


    Es wurde wirklich so, wie sie es sich ausgemalt hatte, eigentlich noch schöner. Das Leben brauste wieder, von einer Sekunde zur anderen, und wie! Daß es das gab!

    Munne kam mit der Bahn, sie hatte vergessen, das am Telefon zu sagen, und rief vom Bahnhof aus an. Randi fuhr, sie abzuholen, und mitten in der Stadt sah sie ein Plakat ... Ihr Herz hüpfte. Manchmal gab es glückliche Zufälle. Sie fand sogar einen Parkplatz und kam rechtzeitig auf den Bahnsteig, noch ehe der Zug einfuhr. Und dann fiel ihr Munne um den Hals und war schon mitten im Erzählen, Uli brauche den Wagen, weil er rasch einen kleinen Urlaub einschob – und beim Umsteigen mit drei kleinen Kindern

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