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Kleine Zeiten: Die Geschichte meiner Großmutter
Kleine Zeiten: Die Geschichte meiner Großmutter
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eBook376 Seiten5 Stunden

Kleine Zeiten: Die Geschichte meiner Großmutter

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Über dieses E-Book

In Kleine Zeiten erzählt Fritz Dittlbacher die Geschichte eines Mädchens, einer Frau, einer Mutter und Großmutter - seiner Großmutter. Es ist ein historischer Roman ohne historische Persönlichkeiten , keine Helden weit und breit, dafür Menschen, die genau das Leben lebten, das auch die eigenen Eltern und Großeltern gelebt haben.
SpracheDeutsch
HerausgeberSeifert Verlag
Erscheinungsdatum22. März 2020
ISBN9783904123228
Kleine Zeiten: Die Geschichte meiner Großmutter

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    Buchvorschau

    Kleine Zeiten - Fritz Dittlbacher

    auch.

    1

    Die Verwundung

    Am Isonzo, Oktober 1917

    Otto Wernitznigg (links) während seiner Offiziers- ausbildung als »Einjährig-Freiwilliger«, kurz vor dem Ersten Weltkrieg


    Der Regen geht mittlerweile bis an die Haut, die Unterwäsche ist schon feucht wie ein Putzlappen, selbst in den Stiefeln spürt man das leise Quatschen und Schmatzen, wenn man die Zehen in den Socken hin und her bewegt. Man könnte es hören, wenn man bloß irgendetwas hören würde, in diesem Weltuntergangslärm.

    Seit gestern Abend um zehn haben die deutsche und die österreichische Artillerie den Talboden unter Dauer-Beschuss genommen. Und auch wenn sie jetzt das Feuer Schritt für Schritt vorverlegen, orgelt es über einem und donnert es vor einem, dass man glaubt, das Weltenende steht bevor, denkt sich der Oberleutnant Wernitznigg, während er – ohne Schritt, Marsch – dem Grollen hinterherstapft.

    Gott sei Dank regnet es. Gott sei Dank. Es ist jetzt sieben Uhr früh, eigentlich dämmert es schon, aber bei diesem Wetter bleibt es immer noch duster. Und vor allem: Die Wolken hängen so tief herein, dass die Talhänge ringsum nicht zu sehen sind. Und wenn man nicht raufschauen kann, dann kann man auch nicht runterschauen, Gott sei Dank. Denn oben in den Wänden, da sind die Italiener.

    Gestern war er sich noch sicher gewesen: Heute geht’s in den Tod. Als ihnen der Bataillonskommandant den Plan mitgeteilt hatte, dachte er sich: Das war’s. Morgen geht’s ans Sterben, an das der Kameraden, vielleicht ans eigene. In der Nacht ist er aber ruhig geworden, und heut früh ist er zwar angespannt wie ein Bogen vor dem Schuss, aber die Todesangst ist weg. Auch Gott sei Dank.

    Keine Angst haben ist wichtig, vor allem: keine Angst zeigen. Er ist Offizier und damit Vorbild. Autorität. Respektsperson. Und das ist schon so schwer genug, mit Mannschaften, die seit drei Jahren im Feld stehen. Vor allem mit den lang gedienten Unteroffizieren, die allesamt seine Väter sein könnten – und das auch immer wieder gern merken lassen, was sie von den jungen Leutnants halten. Da geht Angst-Haben gar nicht. Schneidig muss man sein. Oder wenigstens so tun.

    »Gut, dass es so regnet«, sagt er jetzt laut zum Fähnrich Mallnitzer, der seit zwei Stunden neben ihm trottet, er sagt es eigentlich nicht, er schreit es in diesem Inferno, in diesem Armageddon, das sich nur dadurch von der biblischen Endschlacht unterscheidet, dass die feindlichen Heerscharen bisher ausgelassen haben. Der Mallnitzer schaut ihn an und nickt nur. Käsweiß ist er, der Bursch, aber er hält sich tapfer. Das ist jetzt sein dritter Monat bei uns, und es ist schon sein dritter Kampfeinsatz, denkt sich der Oberleutnant Wernitznigg, in diesen Zeiten wird man schnell zum Veteranen.

    »Fähnrich, holst mir den Slezak?«

    Der Leutnant Slezak führt den dritten Zug, seit der Oberleutnant Weyermeyr gefallen ist. Der Mallnitzer nickt wieder nur und verschwindet. Manche fangen an zu reden, wenn sie Angst haben, manchen verschlägt es die Sprache. Er selbst ist ein Redner, eh klar, er ist ja auch Lehrer. Oder besser gesagt: Er könnte Lehrer sein, wenn er nicht schon seit vier Jahren Soldat wäre.

    Gleich nach der Lehrerbildungsanstalt war es zum Militär gegangen, als »Einjährig Freiwilliger«, das war beim Vater auch schon so gewesen. Nur dass der halt alle paar Jahre zu Übungen eingerückt war, und dann, als er im deutschen Schulverein immer aktiver und mit den richtigen Leuten bekannt geworden war, geschah auch das nicht mehr. Bei ihm selbst war sozusagen zum Pech auch noch das Unglück gekommen: Als er vom EF-Kurs in Graz als frisch ausgemusterter Fähnrich nach Kärnten zurückkam, war es Mai 1914.

    Anfang September hätte er in Hermagor den Dienst antreten sollen, im August war er einberufen worden. Erst nach Serbien, dort zunächst in der Etappe, und seit die Italiener zu den Feinden übergelaufen waren, ist es gegen die gegangen. Oder besser gesagt: Nichts ist gegangen, alles gestanden. Stellungskrieg.

    Vierundzwanzig ist er jetzt, in ein paar Wochen wird er 25 sein. Eigentlich ein junger Mann, aber die Jahre im Krieg treiben einem das Jungsein aus. Immerhin: Er lebt noch. Von den mehr als hundert Kameraden seiner Ausbildungskompanie im Einjährig-Freiwilligen-Jahr waren schon fast die Hälfte gefallen, erzählte ihm ein Jahrgangskamerad, der ihren alten Spieß getroffen hatte. Und der hatte Listen geführt, über die Burschen seiner Kompanie, die lebenden und die toten.

    Junge Alte sind sie. Jungfrauen mit blutigen Händen.

    »Herr Oberleutnant, du hast mich rufen lassen?« Der Slezak, auch so ein Milchgesicht. Aber ein Braver. »Slezak, du gehst mit deinem Zug jetzt weiter drüben, am linken Ufer. Haltet’s mir die Hänge über der alten Staatsstraße unter Beobachtung. Bisher haben wir Glück gehabt, aber jetzt wird es mit jeder Minute heller. Und wenn da die Ersten in ihren MG-Nestern munter werden und merken, was hier unten gespielt wird, dann haben wir einen festen Pallawatsch, das sag ich dir.« »Machma.« Noch so einer, dem die Furcht das Maul verschließt.

    »Herr Oberleutnant, eins sag ich dir –« Na also, geht ja doch, das Reden.

    »Ja, Slezak?«

    »Wir sind Gebirgsjäger. Wir gehören rauf auf die Berg. Net in so a verdammtes Tal, wie aufgestellt, wie die Hirschen bei der Gatterjagd!«

    Da hat er recht, der Slezak. Sie rennen seit fast zwei Stunden die Schotterbänke des Isonzo entlang, vom Bereitstellungsraum gleich bei Tollmein bis hierher, wo schon die ersten italienischen Befestigungen hinter ihnen liegen, niederkartätscht und -granatet von der wundersamen vereinigten Feuerkraft der deutschen und österreichischen Bundesbrüder. Da haben sie sich im Armeekommando was Neues einfallen lassen, nachdem die letzten elf Isonzoschlachten nichts weitergebracht haben. Nichts, außer hunderttausende Mann Verluste natürlich.

    Diesmal, so haben sie gesagt, diesmal machen wir es anders: Die Artillerie macht ein großes Feuerwerk, und die Infanterie rennt in der Mitte durch, das Tal entlang, am Präsentierteller für die italienischen Stellungen in den Bergen. Und bis die draufkommen, was wir da tun, sind wir in ihrem Rücken und schneiden sie ab. Und dann: Eviva Germania.

    Und wenn es schief geht: Generalstäbler kommen bei sowas kaum zu Schaden.

    Aber seltsamerweise scheint es zu funktionieren. Der Oberleutnant Wernitznigg und seine Gebirgsjägerkompanie sind zwar nicht bei der ganz ersten Welle dabei, aber doch so weit vorne, dass man heiße Ohren kriegt, wenn es losgeht. Und das tut es bisher nicht, kein Mensch weiß warum, wegen des Regens wahrscheinlich, wegen der Wolken, die so tief hängen, dass man sie fast greifen kann. Und die den Italienern in ihrer Deckung da oben die ganze Sicht nehmen. Gott sei Dank für den Regen.

    Tak. Taktaktaktak. Taktak. Jetzt hört er auch Gewehrfeuer von vorne. Das klatschende, flache Knallen der österreichischen Sturmgewehre, das rasche, heisere Bellen eines italienischen Maschinengewehrs, mit diesem hohen Sirren im Klang – nach drei Jahren Kampfeinsatz hier kennt er die Unterschiede im Schlaf. Besonders im Schlaf, muss er sagen, so oft, wie er davon träumt. Der Kopf sinkt jetzt noch ein wenig tiefer zwischen die Schultern. »Jetzt geht’s los, Slezak«, ruft er, aber der ist schon wieder weg, bei seinen Männern. Und da scheint das Gefecht auch schon beendet, geht zumindest unter im Artillerielärm. Weiter, weiter.

    Eine halbe Stunde später, beim Sammelpunkt ist es schon taghell. Sie sind jetzt einige Kilometer tief im Feindesland, und immer noch kaum Feindberührung. Was ist da heut bloß los? Haben sie heute alles an Glück, was ihnen in den letzten Jahren gefehlt hat?

    Beim Batailloner sind schon die Kommandanten der dritten und der vierten Kompanie, der Hauptmann Nicolini und der Mayerhofer. »Servus, Wernitznigg!«

    »Grüß euch! Ich will’s ja net verschreien, aber heut schaut’s bisher gut aus.«

    »Die verschlafen’s noch, die Katzelmacher!« Der Nicolini, der aus dem Kanaltal kommt, muss immer besonders scharf tun, kein Wunder, bei dem Nachnamen.

    »Wir waren net laut genug.« Lachen, dann tritt der Bataillonskommandant dazu, der selten mitlacht, der sogar aufs Offiziers-Du vergisst, weil ein Unterschied muss ja sein zwischen ihm als Berufssoldaten mit zwanzig Jahren Erfahrung an der Front und in der Linie und diesen Reserve-Offizieren, diesen Advokaten und Schulmeistern in Uniform.

    »Meine Herren« – das klingt bei ihm immer wie ein Wort und dauert keine halbe Sekunde, eher so wie »Mei-hean«, aber schon schneidig, das muss man ihm lassen. »Meine Herren, jetzt ist Schluss mit Spazierengehn, jetzt pack ma’s an, meine Herren!«

    Der Oberst breitet eine Karte auf einem der Betontrümmer auf, das in Friedenszeiten wohl das Stück einer Brücke gewesen war. »Wir sind jetzt da.« Er zeigt auf einen Punkt, an dem die Staatsstraße den Isonzo quert: »Direkt unterhalb von Sella, also schon weit hinter dem letzten Frontverlauf. Da und da und da sind italienische Befestigungen, soweit wir wissen. Maschinengewehre, Maschinenkanonen, in unserem Abschnitt liegt ein Sperrbataillon der Alpini, allerdings seit dem letzten Angriff im September schwer dezimiert. Und: Sie schaun in die falsche Richtung, net vergessen! Sie nehmen jetzt ihre Jager und sorgen dafür, dass sie sich umdrahn, aber net zu schnell und mit die Händ oben. Hamma uns verstanden?« Alle nicken, und der Oberst beugt sich wieder über die Karte. »Und Folgendes will ich von Ihnen.« Der Oberleutnant Wernitznigg mit seiner Kompanie soll den Abschnitt oberhalb von Sella nach Norden klären. Ein Dorf mit einer Handvoll Gehöfte gibt es da, rasch befestigt von den Italienern nach ihrem letzten Vorstoß vor sechs Wochen, aber nichts Großes hoffentlich, auch keine schweren Waffen, wenn man der eigenen Aufklärung trauen kann. Er ruft seine Zugskommandanten zu sich und teilt sie ein. »Ich brauch euch net viel sagen, ihr wisst selber, wie gefährlich die Lage ist. Irgendetwas stimmt da nicht, sonst wären wir net so schnell so weit gekommen. Das kann der Zusammenbruch sein, das kann eine Falle sein. Alle Mann die Gasmasken kontrollieren und griffbereit, Meldung von Feindberührung umgehend an mich! Sammeln, wenn nicht anders befohlen, zu Mittag bei der Cote 50, das ist bei der Kapelle, oder was noch davon steht.

    Gleich zu Beginn des Trommelfeuers hat die Artillerie Phosgengranaten verschossen, und er bildet sich ein, dass er immer noch den süßlichen Geruch des Giftgases in der Nase hat. Er macht eine kurze Pause, des Effekts willen: »Heute könnt’s Helden werden!«

    Naja, das Kampfesfeuer hat er in ihnen nicht entzündet, das sieht er schon. Der Wachtmeister Böhm verzieht sogar das Gesicht, auch das hat er gemerkt. Und das wird er sich auch merken.

    Der Aufstieg aus dem Tal kommt rasch voran. Die ersten italienischen Stellungen, Gräben und Erdwälle neben der steil ansteigenden Straße sind verlassen. Sind die wirklich weg? Und wohin? Wernitznigg ist an der Spitze des ersten Zugs. »Von vorne führen«, wie sie an der Offiziersschule gesagt haben. Darum sind auch so viele Leutnants gefallen. Generalstäbler müsst man halt sein. Oder bei der Artillerie …

    »Herr Oberleutnant, da vorn!« Da vorn ist ein halb verfallener Stadel, hier fängt offenbar Sella an. Geschwind sein? Oder vorsichtig? Der Oberleutnant deutet seinen Männern: Weg von der Straße, wir gehen durch den Wald. Die zwei mit dem Maschinengewehr bleiben hinten, die anderen steigen in den Hang hinein, von einem Baum zum andern. Als Buben haben sie das beim »Räuber und Gendarm«-Spiel gemacht, jetzt geht es ums Leben.

    Beim Stadel ist niemand. Nachkommen!, deutet er und läuft schon weiter. Geduckt geht es einen Weidezaun aus Holzplanken entlang, da vorn ist schon das Dorf. Wiesen jetzt, kein Wald mehr, ein paar Zwetschkenbäume müssen als Deckung dienen, ein Holzstoß, Wernitznigg schlägt Haken wie ein Hase, seine Leute hinter ihm auch, dreißig Mann beim Hupfen mit vollen Hosen, denkt er, als er sich umschaut, wenn’s nicht so todernst wär, wär’s fast lustig.

    Nichts, keine Bewegung, kein Feind, kein Schuss. Was ist da los? Man könnte glauben, es wäre Frieden, wenn nicht immer noch das Artilleriefeuer von der Front dröhnen würde, und wenn das Dorf nicht zerschossen und zerteppert wäre, kein Dach intakt, die Fenster hin. Er stoppt seinen Zug hinter der letzten Böschung vor dem Ortsanfang. Die Hollerstauden hier sind in den letzten drei Jahren Krieg zu einem halben Urwald geworden.

    »Mallnitzer!«, der Fähnrich ist wieder bei ihm: »Böhm, Grabher, kommt’s her!« Die beiden Unteroffiziere kommen ebenfalls gebückt gelaufen und kauern sich neben ihn. »Wir marschieren da jetzt nicht wie die Pfingstprozession rein, sondern fünf Mann kommen mit mir, und der Rest verteilt sich und gibt Feuerschutz.« Wären doch bloß die zwei mit dem Maschinengewehr schon da. »Böhm, Sie suchen sich vier aus und gehen mit mir. Mallnitzer, du bleibst beim Grabher! Auf mein Kommando geht’s los.« Der Böhm verzieht schon wieder das Gesicht, also bitte. Er versteht’s. Aber er kann es nicht tolerieren. Den wird er sich holen, am Abend beim Appell. Wenn sie dann noch leben.

    Er schaut über die letzten dreißig, vierzig Meter bis zu den Häusern: Bewegt sich was in den Fenstern? Er fühlt sich so angespannt wie eine Uhrwerksfeder, wie wenn er aus Eisen wär. Als ob Kugeln an ihm abprallen könnten. Ist halt leider nicht so. »Los!«

    So geduckt wie es nur geht, die Waffe in der Hand, die Füße trommeln in den Boden, die Augen drückt’s fast aus dem Kopf, und dennoch sieht er wie durch einen Tunnel, nicht links, nicht rechts, nur das Haus vor ihm, die nächste Deckung.

    Schneller, schneller, wie weit können vierzig Meter sein? Schießen sie schon? Noch schneller.

    Endlich die Mauer. Sie haben nicht geschossen. Aber sie könnten gleich ums Eck sein. Die Hausmauer entlang, ums Eck: Nichts. Niemand.

    Er dreht sich zu den fünf, die keuchend, schwitzend, schneeweiß im Gesicht hinter ihm stehen. »Jetzt wird’s leichter, jetzt gibt’s Deckung.« Sie schieben sich zum Hauseingang, die Tür ist aus den Angeln, rein in den Flur, einer nach dem anderen, und jetzt zu den Fenstern zur Straßenseite hin. Der Oberleutnant späht hinaus. Und schreckt sofort zurück: »Da sind’s!« Sein Herz schlägt bis zum Hals. Noch einmal hinschauen, auch wenn er fast starr ist vor Angst. Nein, da sind sie doch nicht, aber da waren sie, vor kurzem noch: Auf der Straße stehen Leiterwägen mit Proviant, Munitionskisten, eine Feldküche. Das gehört den Alpini. Aber sie sind nimmer da.

    Eine Minute schaut er hinaus, zwei, dann dreht er sich um: »Böhm, der Rest vom Zug soll aufrücken. Und wir schaun uns das Ganze da einmal an.«

    »Mir gefallt das nicht, Herr Oberleutnant. Da gibt’s hundert Verstecke, und wir haben nix.«

    »Jetzt rennen S’ schon, Böhm, und holen S’ die anderen!« Obstinat ist der, also wirklich. Auch wenn er recht hat: Einen Panzerwagen, den sollte man jetzt da haben.

    Die Italiener müssen gerade erst abgezogen sein, die Feldküche ist noch brennheiß, als die Leute sie inspizieren. Sie finden Decken, Strohsäcke, Uniformteile in den Häusern, keine Waffen. Da hatte es jemand eilig gehabt, aber es war offenbar noch Rückzug, nicht Flucht. Der Oberleutnant läuft von einem Haus zum anderen. Nichts.

    Da, plötzlich, doch noch etwas: Hinter dem Keller am anderen Ortsausgang bewegt sich was. Ist da noch wer? Den brauchen wir, damit wir wissen, was passiert ist, wohin die alle verschwunden sind. »Halt, stehen bleiben!«

    Der dreht sich her, hat ein Gewehr im Anschlag. Der Oberleutnant sieht es blitzen, hört es krachen, dann spürt er es. Einen Schlag in der Brust, der reißt ihn nach hinten. Er schaut jetzt nimmer nach vorn, sondern in den Himmel. Immer noch die Regenwolken. Das war’s dann wohl. Ist Sterben so banal? War es das? Dann: Nichts mehr.

    Die zwölfte Isonzoschlacht, bei der mein Urgroßvater durch einen Lungendurchschuss schwer verwundet wurde, war in der Tat anders als die elf davor: In den vier Tagen vom 23. bis zum 27. Oktober 1917 bricht die italienische Front zusammen, ein mehr als zweijähriger Stellungskrieg endet mit dem fluchtartigen Rückzug der Italiener bis zum Piave, kurz vor Venedig. Relativ gering auch die Opferzahlen dieses Kampfes: Während die elfte Isonzoschlacht noch Verluste von 100.000 Mann auf Seiten der Mittelmächte und von 150.000 Mann auf Seiten Italiens gekostet hatte, verloren bei der letzten und zwölften Isonzoschlacht »nur« elftausend Soldaten das Leben, davon etwa tausend auf Seiten der Österreicher und Deutschen.

    2

    Zwei Leben

    Sierning, Oktober 1918

    Otto und Maria, 1918


    Der Magen knurrt. Noch zwei Stunden bis zum Mittagessen, und er ist schon wieder hungrig. In der Früh hat es zwei Scheiben von diesem grauen Brot gegeben, das schmeckt, als wäre es aus Sägemehl gebacken. Dazu einen Patzen Margarine und einen Kleckser von dieser undefinierbaren Marmelade, wo man nie weiß, was für ein Obst die je gesehen haben soll. Außerdem noch Ersatzkaffee und Magermilch. Und das nennt sich Erholungsheim.

    Sicher haben die im Feld auch nicht mehr, aber dort bemerkt man es wahrscheinlich nicht, dort geht’s ums Überleben und nicht ums Erholen, wie bei ihm. Vor drei Tagen war es ein Jahr, dass es ihn erwischt hat, unten am Isonzo. Er hatte mit seiner Kompanie ein Dorf zu besetzen gehabt, und in den letzten Häusern am Dorfrand waren sie noch auf die Nachhut der Alpini gestoßen, die eigentlich schon auf der wilden Flucht waren. Die aber gerade noch genügend Zeit hatten, um auf ihn zu schießen. Das hat ihm der Mallnitzer später erzählt, als sie ihn im Lazarett wieder halbwegs zusammengeflickt hatten. Der Mallnitzer, der Wachtmeister Böhm und noch drei Mann waren fast schon bei ihm gewesen, als sie den Schuss hörten. Sie hatten dem Böhm dann Feuerschutz gegeben. Und der hatte ihn in die Deckung gezogen und die Wunde so versorgt, dass er nicht verblutet war.

    Schlimm hat es trotzdem ausgeschaut, erzählte der Mallnitzer. Und wär mehr losgewesen bei dieser einen Schlacht, er hätt nicht drauf wetten wollen, dass sich die Ärzte im Feldspital ausgerechnet bei seinem fast aussichtslosen Fall so viel Zeit genommen hätten. Offizier hin oder her.

    Die ersten Monate waren kritisch gewesen. Ein Dahindämmern, weil zur Schussverletzung auch noch Entzündungen gekommen waren. Aber jetzt geht’s ihm eigentlich schon länger gut. Wenn er ganz ehrlich ist, dann wäre er schon seit zwei, drei Monaten wieder einsatzfähig. Aber wenn er ganz, ganz ehrlich ist, dann zieht es ihn gar nicht mehr hin an die Front, in diesen gigantischen Fleischwolf.

    Auch der Vater wird mit seinen Verbindungen ein wenig dafür gesorgt haben, dass der einzige Sohn nicht gleich wieder raus ins Stahlgewitter musste. Eine ausführliche Rehabilitation also, im Offiziers-Erholungsheim »Forsthof« in Sierning, in Oberösterreich. Karlsbad ist es nicht gerade, oder Ischl, oder Baden bei Wien. Aber weit weg von der Front, das ist wichtig. Und hier, auf dem Land, gibt es immer noch ein wenig mehr zu essen als in der Stadt. Und das ist kein kleiner Vorteil in diesem vierten Kriegsjahr. Oder eigentlich dem fünften: Der Krieg hat im August 1914 begonnen, und nun ist Ende Oktober 1918.

    Jetzt müsste es eigentlich dem Ende zugehen: Was man aus den Zeitungen trotz Kriegszensur herauslesen konnte, deutete alles auf einen raschen Zusammenbruch. Aber das Kriegsglück und Kriegs­pech hatte sich in den letzten Monaten so oft gedreht, dass der Oberleutnant Wernitznigg nichts mehr drauf verwetten wollte: Nach der letzten, »seiner« Isonzoschlacht hatte es schließlich auch ganz danach ausgeschaut, als sei Italien bereits gefallen. Und binnen Monatsfrist war wieder alles ganz anders gewesen.

    Egal. Er würde auf alle Fälle einmal in den Aufenthaltsraum des Forsthofes gehen, vielleicht waren ja frische Zeitungen da.

    Im Raum neben der großen Wirtsstube, den sie ihr »Casino« nennen, sitzen schon der Nöttling und der Gross-Rechtenfels. »Grüß euch!« Die zwei nicken ihm zu. »Und was ist die heutige Neuigkeit? Lebt der Kaiser noch?

    »Der lebt und tut, als wenn nix wär.« Der Nöttling schaut aus seiner Zeitung auf. »Grad ist er in Ungarn und sperrt dort eine Universität auf. Das brauchen wir jetzt ja auch am nötigsten.«

    Wernitznigg setzt sich zu den beiden und schaut: Noch keine Zeitungen von heute da, er nimmt also noch einmal die Reichspost in die Hand, die er gestern nur überflogen hat. Die ist bis zum Rand voll mit Berichten über die »provisorische Nationalversammlung« vor knapp einer Woche: Ein »deutsch-österreichischer« Staat soll kommen, der dann mit den anderen Nationalstaaten der Monarchie eine Föderation bilden soll. Wernitznigg versteht nicht, was das sein soll: eine Monarchie, in der man weiter mit den Tschechen und den Kroaten und den Ungarn zusammengebunden ist? Wozu, bitte? Sie sind Deutsche, was sollen sie mit die Böhm und die Pollacken?

    »Ich schau am Nachmittag nach Steyr. Kommst mit?«, fragt ihn jetzt der Nöttling. Wieso eigentlich nicht? Der militärische Drill mit Anwesenheitspflicht und Standeskontrolle ist schon vor ein paar Wochen endgültig zu einem Ende gekommen. So streng war er sowieso nie für die Herren Offiziere, aber jetzt ist es überhaupt zur heeresministeriell verschriebenen Vollpension geworden, mit zweimal wöchentlicher Untersuchung beim Arzt. Und mit karger Kost, wie gesagt. »Mhmm. Du auch, Gross?« Der schüttelt den Kopf. Mit dem ist schon länger nichts Rechtes mehr anzufangen.

    Er hat aber sowieso keine rechte Lust aufs Reden, und da er am Nachmittag ohnehin in Steyr ist, kann er sich die alten Zeitungen hier sparen. Besser ein bisserl Luft schnappen draußen, es ist ein so schöner Spätherbst dieses Jahr.

    Als er vor die Tür des großen Vierkanters tritt, sieht er gleich noch etwas Schönes: Die Maria kommt grad, von der Bäckerei Zachhuber. Ein wirklich fesches Mädl, dunkle Haare, dunkle Augen, schmal – so wie alle in diesen Zeiten. Aber er kann einfach nie anders, als ihr auf den Busen zu schauen: Der kann schon was, meine Herrn!

    »Guten Morgen, Fräu’n Zachhuber!« – »Guten Morgen, Herr Oberleutnant!« Die Maria schaut ihn freundlich an, geht aber gleich weiter, hat sicher viel zu tun. Und für ihn interessiert sie sich sowieso nicht, er ist kein Feschak wie der Nöttling, kein Adeliger wie der Gross, er ist nicht hässlich, aber auch nicht schön, Durchschnitt halt. Mittelgroß, mittelblond. Schlank ist er, aber, wie gesagt, das sind in diesen Zeiten alle.

    Er schaut ihr nach, bis sie um die Ecke ist. Er schaut, bitteschön, er starrt nicht, darauf legt er schon Wert. Auch wenn er, seit er überm Berg ist, fast jede Nacht stundenlang daliegt und an Frauen denkt. Auch wenn er dann aufsteht und sich am Klo selber hilft, weil: Man kann es ja nicht rausschwitzen – er hat sich trotzdem im Griff. Er hat Kinderstube. Und er ist ein kaiserlich-königlicher Offizier!

    Wär er das nicht, und wär der Krieg nicht, dann wär er sicher schon verheiratet. Er wüsste auch schon, mit wem, denkt er, während er die Bad-Haller-Straße entlang schleudert. Die Konstanze, mit der er beim Tanzkurs immer den Schlusswalzer getanzt hat, die aus einer genauso guten Familie kommt wie er – die Väter sind sogar miteinander bekannt –, die Konstanze, die hat ihm immer gefallen. Und noch wichtiger: Er hat auch ihr gefallen.

    Nach dem Mittagessen hat der Nöttling bereits ein Fuhrwerk organisiert, das sie bis Garsten mitnimmt, von dort sind sie in einer halben Stunde zu Fuß am Steyrer Stadtplatz. Schön ist der. Die alten gotischen Giebelhäuser, die Stadtpfarrkirche am oberen Ende, gut gefällt’s dem Oberleutnant Wernitznigg in Steyr, und sogar zwei recht anständige Kaffeehäuser gibt’s, fast so schön wie in Graz. Auch wenn es derzeit mit dem Kaffee nicht weit her ist: Muckefuck nennen sie ihn. Und so schmeckt er auch.

    Aber alle Wiener Zeitungen haben sie im »Schwan« am Stadtplatz, alle großen Hauptstadtblätter bis hin zur Arbeiterzeitung, und die holt sich der Oberleutnant Wernitznigg jetzt, nachdem alle Exemplare der Neuen Freien Presse schon besetzt sind.

    »Ich werd mich in den nächsten Tagen absentieren«, sagt jetzt der Nöttling zu ihm. »Ich geh heim nach Aschach, ist ja nicht weit, zur Not bin ich in einem knappen Tag auch zu Fuß dort.« Jetzt, wo der zivile Eisenbahnverkehr de facto eingestellt ist und die meisten Rösser requiriert, sind die Entfernungen auf einmal wieder so schwer zu überwinden wie vor hundert Jahren.

    »Du willst desertieren?« Wernitznigg schaut mit großen Augen von der Zeitung auf.

    »Aber hör doch auf! Desertieren. Wie melodramatisch klingt das denn? Ist doch eh schon alles aus und vorbei. Zusammenbruch und Chaos, an der Front und daheim, du liest doch selber auch Zeitungen. Ich geh heim, der Vater braucht mich sicher mehr in der Fabrik als der Kaiser im Offiziers-Erholungsheim. Was mach ich da noch?«

    »Schon, schon, aber trotzdem ist es juristisch eine Desertion«, beharrt der Oberleutnant Wernitznigg. »Wir haben den Eid auf den Kaiser geschworen, und nur der kann uns entlassen.« Das klingt ihm nun doch etwas zu geschwollen und hochgestochen, darum versucht er es noch einmal pragmatisch. »Ohne Marschbefehl kann dich die Feldgendarmerie jederzeit festnehmen, da hilft dir auch deine fesche Leutnantsuniform nicht. Und wenn du daheim bist, brauchst du ja auch die Papiere, was machst du, wenn sie dich in Aschach am Gemeindeamt fragen: Wo haben S’ den Entlassungsschein, Herr Nöttling? Du kriegst ja nicht einmal Lebensmittelkarten. Wovon willst du leben?«

    »Da mach dir keine Sorgen. Mein Herr Vater ist mir als Lebensversicherung lieber als dein geliebter Kaiser.«

    »Ich hab keinen geliebten Kaiser!« So was musste er sich auch nicht sagen lassen! Bei den Wernitzniggs daheim war man immer deutsch-fortschrittlich gesinnt gewesen und nicht habsburgisch-kerzlschlickerisch-katholisch.

    »Na, was machst du dann noch da?«, setzt der Nöttling nach. Wernitznigg zieht es vor, mit den Achseln zu zucken, in Ermangelung einer sinnvollen Antwort.

    Er ist da, weil … weil … weil es halt die Pflicht ist. Herkommandiert, dageblieben. Und es wartet nicht viel auf ihn. Beruf hat er keinen richtigen, außer den des Schießens und Duckens und Gehorchens und Kommandierens. Bleibt er da, ist er wenigstens Offizier, geht er heim, ist er Lehreranwärter, der noch nie vor Kindern gestanden ist und sicher auch schon wieder alles vergessen hat. Differenzieren, Integrieren, Ablativus und »333 – Issos-Keilerei« sind ihm in Serbien und am Isonzo abhanden gekommen. Und er weiß auch nicht, ob er sie je wieder finden will.

    »Ich weiß nicht«, sagt er jetzt nach einer guten Weile des Nachdenkens und Sinnierens und verzieht das Gesicht. »So halt.« Der Nöttling hört es schon nimmer, den hat gerade eine Not in die dafür vorgesehenen Räume getrieben.

    Wenn der Krieg jetzt wirklich aus ist, weiß er nicht, was er dann soll. Wieder zum Vatern gehen, ins Kabinett einziehen, mit bald sechsundzwanzig? Er schaut ins Leere.

    »Genosse Oberleutnant, kann ich die Arbeiterzeitung haben?« Ein bulliger, dunkler Mann in Marineuniform ist an ihn herangetreten, offensichtlich ein Obermaat. »Wie bitte, was? Ach so, die Zeitung, da ham S’!« Er gibt ihm geistesabwesend das Zentralorgan der Wiener Sozialdemokratie, aber dann kommt es ihm erst: Da muss er schon noch was klarstellen. »Ich bin kein Genosse, Obermaat. Bloß weil ich hin und wieder les, was die schreiben, bin ich sicher kein Sozialist« Er ist sich nicht ganz sicher: War das jetzt eine Unverschämtheit und Insubordination. Oder sind die Zeiten jetzt wirklich so?

    Der Obermaat jedenfalls wirkt so, als seien sie so. Da ist nichts Aggressives an ihm, aber etwas ungemein Selbstbewusstes. Das ist kein Zweifler wie er selbst, denkt Wernitznigg. »Vielleicht sind Sie es bloß noch nicht, Herr Oberleutnant.« Der Matrose lächelt – oder grinst er? Es geht wirklich dem Weltenende zu, wenn die Unteroffiziere schon so vertraulich werden.

    Wernitznigg ist fast ein bisserl perplex, jedenfalls fällt ihm keine schlagfertige Antwort ein, also schweigt er. Der Obermaat wertet das als Zustimmung. »Wissen S’ was, Herr Oberleutnant: Wenn Sie heut Abend noch nix vorhaben,

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