Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Das Haus Zamis 59 - Das Phantom von Notre Dame
Das Haus Zamis 59 - Das Phantom von Notre Dame
Das Haus Zamis 59 - Das Phantom von Notre Dame
eBook235 Seiten3 Stunden

Das Haus Zamis 59 - Das Phantom von Notre Dame

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Paris 1888: Die Geschichten von dem Phantom von Notre Dame kursieren bereits seit Wochen in der Stadt. Es heißt, der Teufel selbst habe die Kathedrale bezogen und treibe in ihrem Inneren nun sein unheiliges Unwesen. Einige schwören sogar Stein und Bein, den Satan mit eigenen Augen gesehen zu haben! Er sei klein, verhutzelt wie ein böser Gnom. Und in seinen hasserfüllten Augen brenne das Feuer der ewigen Verdammnis.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum6. Sept. 2019
ISBN9783955722593
Das Haus Zamis 59 - Das Phantom von Notre Dame

Mehr von Simon Borner lesen

Ähnliche Autoren

Ähnlich wie Das Haus Zamis 59 - Das Phantom von Notre Dame

Titel in dieser Serie (68)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Horrorfiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Das Haus Zamis 59 - Das Phantom von Notre Dame

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Das Haus Zamis 59 - Das Phantom von Notre Dame - Simon Borner

    Vorschau

    Was bisher geschah:

    Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen. Auf einem Sabbat soll Coco endlich zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut – umso mehr, da Cocos Vater Michael Zamis ohnehin mehr oder minder unverhohlen Ansprüche auf den Thron der Schwarzen Familie erhebt.

    Nach jahrelangen Scharmützeln scheint endlich wieder Ruhe einzukehren: Michael Zamis und seine Familie festigen ihre Stellung als stärkste Familie in Wien, und auch Asmodi findet sich mit den Gegebenheiten ab. Coco Zamis indes hat sich von ihrer Familie offiziell emanzipiert. Das geheimnisvolle »Café Zamis«, dessen wahrer Ursprung in der Vergangenheit begründet liegt und innerhalb dessen Mauern allein Cocos Magie wirkt, ist zu einem neutralen Ort innerhalb Wiens geworden. Menschen wie Dämonen treffen sich dort – und manchmal auch Kreaturen, die alles andere als erwünscht sind.

    Michael Zamis, seine Frau Thekla und Coco reisen nach Rumänien. Dort, auf der Temeschburg, findet die Testamentseröffnung der Fürstin Bredica statt, einer Großtante Michaels. Hier trifft er seine ehemalige Geliebte Florentina wieder – und seine uneheliche Tochter Juna, die er bisher verschwiegen hat. Juna hat eine grausame Vergangenheit hinter sich – die sie auf der Temeschburg einzuholen droht.

    Das in Aussicht gestellte Erbe der Fürstin erweist sich als Lockvogel, damit diese ihre Jugend wiedererlangen kann. Michael, Thekla und Coco Zamis sowie Juna und auch Skarabäus Toth entkommen der tödlichen Intrige nur knapp. Der Rückweg nach Wien führt durch den sagenumwobenen, dämonenverseuchten Hoia-Baciu-Wald. Dort werden sie von einem unsichtbaren Gegner attackiert. Jeder Einzelne muss fortan um sein Leben kämpfen: Coco Zamis gelangt in ein Dorf, das von der Außenwelt abgeschnitten scheint. Bei dem verzweifelten Versuch, daraus zu fliehen, wird sie von Schwärmen von Fliegen attackiert. Ihr Vater, Michael Zamis, hat unterdessen in demselben Dorf eine Unterredung mit einem Dämon namens Beelzebub, der über die Ansiedlung herrscht. Der Dämon versucht Michael dazu zu gewinnen, mit ihm gegen Asmodi vorzugehen, doch Michael lehnt ab …

    Unterdessen wird klar, dass Skarabäus Toth, der Schiedsrichter der Schwarzen Familie, einmal mehr ein doppeltes Spiel betreibt: Er bereitet für Beelzebub dessen Herrschaft in Wien vor.

    Die verbliebenen Zamis-Sprösslinge Adalmar, Lydia und vor allem Georg, der das Erbe seines für tot erklärten Vaters Michael anzutreten anstrebt, halten dagegen.

    Georg hat jedoch keinen leichten Stand. Er wird von den Wiener Dämonen nicht akzeptiert. Da tauchen Coco und ihre Eltern unverhofft wieder auf. Michael Zamis nimmt das Zepter wieder in die Hand, und es gelingt der vereinten Familie, Baalthasar Zebub zu schlagen …

    Die intriganten Spiele, auch innerhalb der Zamis-Sippe, gehen unvermindert weiter. Dabei erfährt Coco Zamis einen ganz besonderen Exorzismus: Ihre böse Seite gewinnt die Oberhand. Mit wessen Hilfe Michael Zamis das geschafft hat, bleibt erstmal sein Geheimnis.

    Coco wird unterdessen aufgewiegelt, dass ihre Halbschwester Juna ihr das Café streitig machen wolle. Kurzerhand versetzt Coco sie mithilfe des Zwerges Ficzkó in die Vergangenheit – in die Dienste der berüchtigten Blutgräfin.

    Doch Juna taucht in der Gegenwart wieder auf – als Puppe. Georg Zamis, der inzwischen seine Gefühle für Juna entdeckt hat, entführt sie kurzerhand und versteckt sich mit ihr im Haus der Callas. Coco findet es heraus und zwingt Ficzkó, Juna erneut auf magische Weise in die Vergangenheit zu entführen. Sie bringt Ficzkó einen Zauber bei, den dieser anwenden soll, sobald er Junas habhaft wird. Von Georg verfolgt, flüchtet Ficzkó in einen Schrank und versetzt sich und Juna in die Vergangenheit. In letzter Sekunde springt Georg hinzu. Alle drei werden von dem Sog erfasst und gelten seitdem als verschollen.

    Doch etwas ging schief: Fortan ist ein Durchgang zu anderen – höllischen – Dimensionen entstanden. Ein neuer Dämon taucht so in Wien auf: Monsignore Tatkammer. Niemand weiß, woher er stammt, doch er sät Böses, wo immer er ist. Noch ist die Schwarze Familie nicht auf ihn aufmerksam geworden, sodass er ungehindert wirken kann.

    Unterdessen wird der verschwundene Schiedsrichter der Schwarzen Familie, Skarabäus Toth, in Wien gesichtet. Michael Zamis hatte ihn, um ihn loszuwerden, in ein Chamäleon verwandelt. Offensichtlich aber hat Toth eine Möglichkeit gefunden, zumindest als Geistererscheinung auf seine verzweifelte Lage aufmerksam zu machen. Michael Zamis will ihn daher endgültig loswerden und beauftragt dafür Coco.

    Sie macht sich widerwillig auf die Reise und lässt den Sarg mit Toth über dem Ätna abwerfen.

    Auftrag erledigt, doch sie zieht es nicht sofort nach Wien zurück, denn dort warten weitere Probleme auf sie. Nicht zuletzt ein Dämon namens Youssef.

    Erstes Buch: Das Phantom von Notre Dame

    Das Phantom von Notre Dame

    von Simon Borner

    nach einem Exposé von Uwe Voehl

    Kapitel 1

    Der Abend war stürmisch und kalt. Ein scharfer Wind pfiff um die Ecken der alten Kathedrale, und der Regen prasselte gegen die gläsernen Fenster wie Hagel.

    Estelle Dutroux schlug den Mantelkragen höher und vertiefte sich noch mehr ins Gebet. Hier im Inneren von Notre Dame konnte das Unwetter ihr zwar nichts anhaben, doch Estelle fühlte sich trotzdem so, als kröchen die Kälte und der Regen auch ihr sekündlich mehr in die Knochen. Am liebsten wäre sie zu Hause geblieben.

    »Aber ich kann nicht anders«, murmelte sie, hob den Blick und schaute zu dem Kreuz über dem Altar. »Ich muss zu dir. Nur du kannst uns noch helfen.«

    Der Heiland schwieg, doch Estelle spürte, dass er sie hörte. Seit Tagen schon lag Henri, ihr Mann seit mehr als vierzig Jahren, krank im Bett. Die Ärzte und sogar die Nachbarn warteten eigentlich nur noch darauf, dass er starb. Niemand, so sagten sie, könne dermaßen viel Blut aushusten und eine so ungesunde Gesichtsfarbe bekommen, ohne daran zu sterben. Doch Estelle Dutroux scherte sich nicht viel um die Meinung anderer. Sie hatte ihren Herrn. Wer brauchte da schon Medizin?

    »Du warst immer bei mir«, sagte sie dem Mann dort vorn am Kreuz nun. »Sei es auch jetzt. Hilf uns. Mach meinen Henri wieder gesund.«

    Kerzenschein flackerte und spiegelte sich auf dem Kreuz. Er warf Schatten an die dunklen Wände von Notre Dame und tauchte das Innere der großen Kirche in ein gelbliches Dämmerlicht – helle Inseln in einem Meer, das ansonsten nur Schwärze bot.

    Außer Estelle war zu dieser späten Stunde keine Menschenseele mehr in der Kirche. Das Wetter hielt selbst die Verzweifeltsten davon ab, vor die Tür zu treten. Niemand wollte sich den Tod holen. Nur Estelle ließ sich von Wind, Regen und Dunkelheit nicht davon abhalten, ihren Heiland um Unterstützung zu bitten. Persönlich und aus nächster Nähe.

    »Du bist mein Hirte«, sagte sie, sehnsuchtsvoll und leise wie ein Hauch. »Behüte mich. Behüte Henri.«

    In diesem Moment hallte ein ohrenbetäubender Knall durch das leere Kircheninnere. Estelle zuckte zusammen und drehte sich erschrocken um. Der Knall war von der Tür gekommen, hinten am anderen Ende des Innenraums. Doch da war nichts.

    Ein Ast, ahnte sie. Der Sturm hat bestimmt einen Ast von einem Baum gerissen und gegen das Holz der Tür geblasen.

    Die Annahme ergab Sinn. Es standen Bäume vor dem Eingang der Kirche. Die Verwaltung hatte sie erst vor fünf Jahren dort pflanzen lassen, im Sommer 1883. Gut möglich, dass das Wetter dieser Nacht auch ihnen zu schaffen machte.

    Dennoch zog ein eisiger Schauer über Estelles Rücken. Denn sie wusste, dass nicht nur das Wetter daran schuld war, dass die Menschen Notre Dame mieden.

    Meine Nachbarn würden jetzt sagen, ich hätte das Phantom gehört. Die alte Pariserin schüttelte den Kopf. Was sind das bloß für abergläubische Narren.

    Die Geschichten von dem Phantom von Notre Dame kursierten bereits seit Wochen durch das Viertel und vermutlich sogar durch den Rest der Stadt. Es hieß, der Teufel selbst habe die Kirche bezogen und treibe in ihrem Inneren nun sein unheiliges Unwesen. Madame Curdin von gegenüber schwor sogar Stein und Bein, den Satan mit eigenen Augen gesehen zu haben! Er sei klein gewesen, verhutzelt wie ein böser Gnom. Und in seinen hasserfüllten Augen habe das Feuer der ewigen Verdammnis gebrannt.

    Das war natürlich Unfug. Estelle wusste es genau. Es gab keine dämonischen Gnome, erst recht nicht in der Kirche des Herrn.

    Trotzdem: Sie fröstelte. Und das nicht allein wegen der Kälte. Nein, nicht einmal ansatzweise deswegen.

    Wieder ein Knall, lauter als zuvor und … näher!

    Dutroux stand auf. Sie hatte vor dem Altar gekniet, nun drehte sie sich um und spähte unsicher in die Dunkelheit jenseits der Inseln aus Kerzenlicht.

    »Hallo?«, flüsterte sie. »I… Ist da jemand?«

    Irgendetwas raschelte, oder bildete sie sich das ein? Flackerten da nur die Kerzen oder bewegte sich tatsächlich eine bizarre Gestalt durch die Schatten? Ein Wesen, klein wie Zwerg und seltsam missgebildet?

    Das Phantom! Die alte Pariserin keuchte innerlich. Ihr Herz schlug schneller, und ihr Mund wurde ganz trocken. Es … Es ist wirklich hier!

    »Unsinn«, flüsterte sie und tadelte sich selbst für ihre Leichtgläubigkeit. »Du hörst nur den Sturm vor den Mauern von Notre Dame. Nichts Böses kann über diese Schwelle kommen. Du bist beim Herrn, Estelle. Niemand kann dir hier etwas anhaben. Das weißt du genau.«

    Einen Herzschlag später preschte die Gestalt vor. Sie war tatsächlich so klein wie ein Kind, hatte aber immens breite Schultern und muskulöse Oberarme. Ein gewaltiger Buckel verunstaltete ihren Rücken, und die bizarre Kleidung, die diese Kreatur trug, schien zu einem Wanderzirkus zu gehören … oder zum Kostümfundus einer Irrenanstalt.

    Estelle kam nicht dazu, all diese Gedanken zu beenden. Ehrlich gesagt, kam sie kaum dazu, sie zu formulieren. Denn binnen eines einzigen Sekundenbruchteils war die Kreatur aus den Schatten direkt neben ihr am Altar – und reckte den mitgebrachten Dolch in die Höhe. Die Klinge der Waffe war scharf und lang.

    Ein lauter Schrei hallte durch das Innere von Notre Dame de Paris. Und nicht Henri war es, der in dieser von allen guten Geistern verlassenen Nacht starb. Seine gottesfürchtige Frau kam ihm um wenige Stunden zuvor.

    Ficzkó stöhnte, als er sich aufrichtete. Blut klebte an seiner Kleidung, und Blut troff von seinen kräftigen Fingern. Fast schon triumphal hob er die Hände in die Höhe und präsentierte dem Mann am Kreuz seinen Lohn.

    Das Herz der alten Vettel war noch warm. Ficzkó hatte einige Mühe gehabt, es aus ihrem Brustkorb zu reißen. Anfangs hatte die Alte sich noch nach Kräften gewehrt, doch zwei gezielte Schnitte durch die Kehle hatten ihrem Widerstand ein schnelles Ende bereitet. Danach waren nur noch die Rippenknochen im Weg gewesen. Und mit denen kannte Ficzkó sich inzwischen bestens aus. Sein Werk kostete Mühe, aber es war ganz und gar nicht unmöglich.

    Wieder eins, dachte der Zwerg zufrieden. Schweiß prangte auf seiner Stirn, und er spürte das Schlagen des eigenen Herzens deutlicher als seit Tagen. Er spürte endlich wieder, wie sehr er lebte. Siehst du, du ach so heiliger Mann? Ich habe wieder eins. Direkt vor deinen Augen habe ich es mir genommen, hier in deinem eigenen Haus. Denn du kannst mir nichts. Du bist so unnütz wie die Gegenwehr dieser alten Vettel. Du bist Geschichte … und ich bin jetzt hier.

    Eine Turmuhr schlug zur Mitternacht. Bis zum Sonnenaufgang blieben noch gute fünf Stunden. Mehr als genug Zeit also, um die Leiche zu entsorgen – schließlich waren es bis zur Seine nur eine Handvoll Schritte. Ficzkó mochte kein Riese sein, aber stark genug, um den Körper einer Toten ans Flussufer zu zerren, war er allemal. Und bei diesem Wetter würde ihn auch nichts und niemand dabei beobachten.

    Er packte seine Trophäe sicher beiseite. Dann griff er nach den Fußgelenken der Alten und begann sein Werk. Nach wenigen Schritten hielt er inne und sah hinter sich.

    Ob er das Blut vom Altarboden wischen sollte? Spur war Spur, oder etwa nicht? Selbst wenn die Leiche fort war und nie gefunden werden würde – das Blut dort auf dem Boden sprach eine deutliche Sprache.

    Ficzkó lächelte grimmig. »Sollen sie es ruhig finden«, murmelte er, und seine böse Stimme wehte wie ein dämonischer Odem durch das menschenleere Innere der alten Kathedrale. »Sie denken ja sowieso schon, ein böses Phantom sei in ihre Kirche eingezogen. Da schadet es nicht, ihren Glauben zu unterstützen.«

    Er lachte leise, als er erneut nach den Fußgelenken seines Opfers griff. Und die Seine verschluckte die Alte so dankbar wie der unendliche Ozean.

    Kapitel 2

    Zuvor

    Georg Zamis erwachte keuchend. Ruckartig richtete er sich auf, schnappte nach Luft. Seine Muskeln zuckten wie nach langer Anstrengung, und sein Schädel dröhnte wie nie zuvor.

    »Wo … Wo bin ich?«

    Das Sprechen fiel ihm schwer. Seine Stimme klang, als würde sie über Schmirgelpapier gezogen und gleichzeitig mit einer Käsereibe traktiert. Auch hatte er Schwierigkeiten, Worte zu finden.

    Nein, begriff er dann. Nicht nur Worte.

    Eisiger Schrecken ergriff ihn, als ihm klar wurde, dass er einen Blackout hatte. Da klafften Lücken in seiner Erinnerung! Wo befand er sich? Was war geschehen?

    Georg hatte auf kaltem Kopfsteinpflaster gelegen. Nun erhob er sich endgültig von den nackten Steinen. Seine Knie wackelten, als er aufstand und sich fragend umsah. Sein Blick fiel auf Häuserfassaden, keine höher als drei Stockwerke. Die gepflasterte Straße war schmutzig und ziemlich abschüssig. Die Luft war klar und abendlich kühl, roch aber nach einem satten Sommer. Von irgendwo her erklang leise Musik.

    »Wo bin ich?«, murmelte er erneut.

    Vorsichtig machte er ein paar Schritte, sah sich abermals um. Niemand begegnete ihm. Etwas weiter hinter sich konnte er die steinernen Stufen einer langen Treppe erkennen. Das gelblich-trübe Licht einer altmodischen Straßenlaterne erhellte sie. Und als er den Blick hob, um den Stufen nach oben zu folgen, stutzte er.

    Da stand ein Gebäude am oberen Ende der Treppe. Georg sah nur schattenhafte Umrisse vor einem sternenklaren Nachthimmel, aber er erkannte es trotzdem. Die runden Kuppeln, die spitzen Türmchen …

    »Montmartre?«, wunderte er sich. »Was mache ich denn bei Montmartre?«

    Wieder suchte er in seinen Erinnerungen nach Erklärungen, die nicht da waren. Stattdessen fand er bloß weitere Fragen. Zum Beispiel: Warum kam ihm diese Nacht so eigenartig still vor? Wenn er in Paris war – wie und warum auch immer –, wo war dann der allgegenwärtige Autolärm? Warum stank es hier nicht nach Abgasen? Und warum verunstaltete nicht ein einziges Flugzeug diesen stattlichen Sternenhimmel mit seiner Präsenz?

    Er wusste es nicht. In diesem eigenartigen Augenblick wusste Georg Zamis gar nichts mehr.

    Deshalb zog er los, hilf- und ratlos wie ein kleines Kind. Die Musik spielte nach wie vor – flotter, melodischer Geigenklang wie von einem Zigeuner –, und Georg ging ihr entgegen.

    Die melodische Spur führte die Stufen hinauf. Auf halbem Weg gelangte er an einen kleinen Platz – weiße Steinklötze, grünes Gras –, auf dem ein Mensch stand.

    Der Mann war Anfang zwanzig und hatte rötliches Haar. Seine Kleidung sah aus wie aus einem Theaterfundus und wirkte zerschlissen. Die schmalen Wangen und die knochigen Arme ließen darauf schließen, dass auch seine Vorratskammer nicht gerade im Überfluss lebte. Der Mann hielt eine hölzerne Geige und spielte sie mit geschlossenen Augen und einer Innbrunst, als hinge sein Leben von den nächtlichen Tönen ab.

    Als er Georg bemerkte, hielt er inne und ließ das Instrument sinken.

    »Nein, bitte«, sagte Georg. »Lassen Sie sich nicht stören. Ich wollte nur …«

    Der Mann lächelte wissend. »Du wolltest nur die Musik der Nacht genießen. Ja, das kenne ich. Mir geht es da ganz genauso.« Ohne Vorwarnung streckte er die Hand aus. »Marius. Marius Jarvert. Freut mich, dich kennenzulernen.«

    »G… Georg«, erwiderte er völlig überrumpelt und war gerade noch geistesgegenwärtig genug, die französische Aussprache gleich hintendranzuhängen. »Georges.«

    »Also dann, Georg Georges«, lachte sein Gegenüber. »Willkommen bei meinem Konzert. Ich spiele jeden Abend hier oben ein paar Stücke. Für die Stadt. Für die Nacht. Und, na klar, auch für mich. Danach ziehe ich weiter. Und du? Was führt dich zu dieser späten Stunde noch auf die Straßen von Montmartre?«

    Georg wusste nicht, was er antworten sollte. Die Situation war zu eigenartig, zu fremd. Irgendwie wurde er diese elende Orientierungslosigkeit nicht los. Schnell wechselte er das Thema. »Du ziehst weiter? Wohin denn?«

    Jarvert lächelte. »Ein Mann, der Anschluss sucht. Das kann ich gut verstehen.« Er klemmte sich die

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1