Seewölfe - Piraten der Weltmeere 493: Der Scharfrichter
Von Roy Palmer
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Buchvorschau
Seewölfe - Piraten der Weltmeere 493 - Roy Palmer
7
1.
Wie verlorene Seelen taumelten die Galeonen in der kabbeligen See. Es schien, als hätten sie jeglichen Kurs verloren, als mangele es ihnen an Führung. Soeben war ein schwerer Sturm über den aus vier Dreimastern bestehenden Verband hinweggezogen.
Verwirrt blickten sich die Männer und Frauen um, die sich als erste wieder an Oberdeck wagten. Noch war der Himmel grau verhangen. Regen und Gischt sprühten über die Decks der Schiffe. Schäden hatte es gegeben: hier war der Bugspriet weggeknickt, dort hatte es den Fockmast abgetakelt, überall hingen die Segel in Fetzen, und auf einer Galeone war das Ruder ramponiert.
Verzweiflung und Resignation breiteten sich unter den Besatzungen aus. Es hatte sich schon so viel ereignet, seit man die Alte Welt verlassen hatte. Sturm und Krankheit – die Geißel Gottes schien die vormals so Mutigen zu züchtigen, die ausgezogen waren, das Gelobte Land zu suchen und zu finden.
Doch nun war es wieder die Stimme des Großmeisters, des Erhabenen, die alle wachrüttelte und zu neuen Taten antrieb. Jeremiah Josias Webster – er, das „Flammenschwert Gottes, wie er sich selbst zu nennen pflegte, kommandierte in alter Frische und Stärke vom Achterdeck seines Flaggschiffes „Kyrie eleison
aus. Seine Donnerstimme verlieh den Jüngern und den „Bräuten Christi" neue Energien, sie war ein labender Balsam für die Erschöpften und Ermatteten.
So fanden die vier Schiffe wieder zueinander, und Webster legte erneut den Kurs fest, den man im Wetter verloren hatte. Gen Westen – in die Neue Welt! Neue Segel wurden gesetzt, das Rigg der Galeonen wurde überholt. Hämmern und Klopfen, Sägen und Klappern ertönte von den Decks und aus dem Inneren der Schiffe. Die Schäden wurden ausgebessert, Lecks abgedichtet, Wasser abgepumpt.
Orman Smead, einer der Pilger an Bord der „Kyrie eleison", enterte zu den Frauen ab, die in einem großen Raum gleich neben dem eigentlichen Mannschaftslogis untergebracht waren.
Er trat an die Koje, in der seine Frau Judith lag, und sprach mit fester Stimme: „Judith, es ist vollbracht."
Judith Smead hatte Fieber. Sie war wachsbleich im Gesicht und wurde hin und wieder von Schüttelfrost gepackt. Noch wußte keiner, um welche Art von Krankheit es sich handelte. Vielleicht nur Erkältung, vielleicht aber auch Schlimmeres. Webster hatte vorgeschlagen, die Frau in eine andere Kammer zu legen, beispielsweise ins Achterdeck. Doch die Frauen hatten einmütig erklärt, sie wollten sich lieber hier im Vordeck der Kranken widmen. Judith Smead war bei allen beliebt, sie hatte sich stets aufopfernd für Hilfsbedürftige eingesetzt – sowohl in ihrer Heimat als auch während der Überfahrt.
„Was – ist vollbracht?" fragte die Frau leise.
„Wir segeln wieder", antwortete ihr Mann stolz.
„Du glaubst, wir schaffen es?"
„Er sagt es."
„Und er irrt sich nicht?" fragte sie zweifelnd.
„Das darfst du nicht sagen, tadelte Orman Smead. „Das ist Sünde. Der Erhabene irrt sich nie. Sein Wort ist das Wort Gottes.
„Du meinst, wir werden die Neue Welt erreichen?"
„Wir schaffen es."
„Auch ich werde die Neue Welt noch sehen?" fragte Judith Smead.
Ihr Mann berührte mit den Fingern der rechten Hand ihre Stirn. „Aber sicher doch. Ich habe nie daran gezweifelt. Der Herr ist mein Hirte, er weist mir den Weg."
Es stimmte: Orman Smead hatte nie den geringsten Zweifel an dem gehegt, was der Großmeister Webster suggerierte und auferlegte. So ging es auch den anderen. Websters Wort war Gebot und Gesetz zugleich.
Er war der Führer dieser Sekte, und alle folgten ihm bedenkenlos. Kritik war nicht üblich. Kritik war Sünde. Die Pilger waren ausgezogen, das Gelobte Land zu besiedeln und die Burg Zions zu erbauen. Nichts und niemand konnte sie davon abbringen.
Der Glaube versetzte bekanntlich Berge. Drei Monate waren vergangen, seit der Verband Plymouth verlassen hatte. An Bord der Galeonen hatten sich insgesamt fast 450 Menschen befunden, zusätzlich das Getier, das während der Reise als Frischverpflegung diente.
Inzwischen waren es nur noch etwas über vierhundert Männer und Frauen – doch auch der Sturm hatte ihren Willen, die Neue Welt zu erreichen, nicht ganz zerstören können. Kaum ließ Jeremiah Josias Webster die Posaune des Erzengels Gabriel ertönen, schufteten die Frommen wieder wie die Besessenen.
Später, als die wichtigsten Ausbesserungsarbeiten vollzogen waren, ließ Webster eine Andacht anberaumen. Die Gläubigen stimmten einen schmetternden Choral an. Am lautesten sang Webster. Daß er beim Singen aber die jungen Frauen beobachtete, die sich unter ihm auf der Kuhl ganz in der vordersten Reihe der Gemeinde versammelt hatten, fiel keinem auf. Ihr Hühnchen, dachte er selbstgefällig und zufrieden, bald ist wieder eine von euch dran.
Er war ein stiernackiger und grobschlächtiger Kerl, dieser Jeremiah Josias Webster. Sein Gesicht war kein richtiges Gesicht, sondern eher eine Hauklotzvisage, doch darüber sahen die Gläubigen gern hinweg. Mußte der Messias denn unbedingt ein Adonis sein? Und wie sah Jehova überhaupt aus? Du sollst dir kein Bild von Gott machen, hieß es in der Bibel. Also war es Sünde, den Herrn auf Gemälden darzustellen. Dies war der Grund, warum der „Erleuchtete", wie Webster gelegentlich auch genannt wurde, es seiner Gefolgschaft verboten hatte, Bilder vom Herrn zu zeichnen. Es gab auch keine Heiligenbilder in der Gemeinde. Puritanisch karg und sparsam lebten diese Menschen – und vor allen Dingen selbstzüchtig.
Nach der Andacht zog sich Webster an diesem Abend in seine Kapitänskammer im Achterdeck der „Kyrie eleison" zurück. Er ließ sich auf dem Gestühl hinter dem Pult nieder und grinste. Seine hellen Augen funkelten. Na, war es nicht großartig, wie er diese Hammelherde im Zaum hielt?
Eine Weile dachte er darüber nach, dann erhob er sich wieder, trat an eins der Schapps und holte eine Flasche Rotwein heraus. Natürlich war es den Pilgern nicht gestattet, zu saufen, zu huren und der Völlerei zu frönen. Was er aber, der Großmeister, tat, stand auf einem ganz anderen Blatt. Im übrigen war es den gemeinen Sterblichen nicht gestattet, das Allerheiligste des Erhabenen zu betreten. Was er hier trieb und welchen Gepflogenheiten er nachging, war einzig und allein seine Sache.
Webster bewaffnete sich mit der Flasche und einem großen Zinnbecher und kehrte zum Kapitänspult zurück. Mit einem Seufzer setzte er sich. Er öffnete die Flasche, drehte den Korken zwischen den Fingern und rieb ihn an dem bauchigen Behältnis auf und ab. Das erzeugte ein neckisches Quietschen. Der Großmeister lachte glucksend. O ja: auch wenn er seiner Gefolgschaft menschliche Gelüste verbot – er selbst wußte nur zu gut, was Genuß bedeutete.
Mit zufriedenem Gesicht füllte Jeremiah Josias Webster den Becher. Er roch erst einmal an dem Wein, bevor er ihn trank, und atmete den blumigen Duft des schweren, herben Rebensaftes voll ein. Seine Miene war jetzt verzückt. Er konnte sich zu der Idee, vor der Abreise aus England zwei Dutzend Fässer Wein eingekauft zu haben, nur immer wieder gratulieren. Spanischer Rotwein aus Murcia – ein vorzüglicher Tropfen! Aber nur er konnte beurteilen, welchen Wert dieser Wein hatte. Die Gläubigen kannten sich ja nicht einmal mit gewöhnlichem Bier aus.
Die meisten Weinfässer hatte Webster seiner Gemeinde gegenüber natürlich als Essig deklariert, damit keiner auf den Verdacht verfiel, der Erhabene sei vielleicht ein heimlicher Säufer. Der Rest der Partie Rebensaft war Abendmahlswein. Selbstverständlich mußte man