Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Im Versteck
Im Versteck
Im Versteck
eBook318 Seiten4 Stunden

Im Versteck

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"Wenn wir gestorben sind, wird sich niemand an uns erinnern. Niemand wird unsere Fotos anschauen, und das, was wir nicht erzählt haben, wird nicht in ihren Köpfen fortleben. Es wird sein, als wäre das alles nie geschehen." Matthew Griffins Roman "Im Versteck" erzählt, von einer Beziehung, die keine Spuren hinterlassen hat. Wendell und Frank haben sich in den Vierzigerjahren gefunden und in ein kleines Häuschen am Stadtrand zurückgezogen, weil Gesetze und Moralvorstellungen sie ins Versteck gezwungen haben. Es gibt keinen einzigen Zeugen ihres Glücks, fast nie verlassen sie gemeinsam das Haus. Das Doppelleben ist ihnen so zur zweiten Natur geworden, dass sie es auch dann nicht aufgeben können, als es keinen Grund mehr dafür gibt. Die Schwulenbefreiung geht an ihnen vorbei.
Griffin erzählt von zwei knorrigen Südstaatlern Mitte achtzig. Jeder bedeutet dem andern die ganze Welt, doch als Frank einen Schlaganfall bekommt und langsam dement wird, beginnt ein mal tragischer, mal komischer Kleinkrieg. Der eine kann keine Schwäche zuzugeben, der andere muss stark sein, damit der Alltag funktioniert. Sie sind auf Hilfe angewiesen und haben Angst vor jedem Fremden, der sie "erkennen" könnte. Und was bleibt am Ende, wenn Franks Demenz die Erinnerung an ihr Zusammenleben auslöscht, wenn kein Foto, kein Freund bezeugen kann, was einmal war?

Mit zurückgenommener, doch ungemein eindringlicher Sprache erzählt Matthew Griffin von Höhen und Tiefen dieser lebenslangen Liebe gegen die Gesellschaft. Ein schönes, trauriges, unvergessliches Buch.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Juli 2016
ISBN9783863002251
Im Versteck

Ähnlich wie Im Versteck

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Im Versteck

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Im Versteck - Matthew Griffin

    Großeltern

    Eins

    Gott weiß, wie lange er da draußen schon gelegen hat: lang ausgestreckt mitten im Gemüsegarten. Als ich die Einkäufe in die Küche trage, sehe ich ihn durch das Fenster über der Spüle in der prallen Sonne liegen. Ich bin nicht mehr als eine Stunde fort gewesen. Ich stelle die Tüten hin und gehe schnell zur Hintertür. Zwei weitere Tüten liegen noch im Wagen.

    «Frank», rufe ich, «alles in Ordnung mit dir?»

    Er sagt kein Wort, bis ich mich über ihn beuge und mein Schatten sich auf ihn legt, seine Brust, das karierte Hemd und den Boden. Ohne zu blinzeln, schaut er hoch, direkt in die Sonne. Er hat drei oder vier Tomatenpflanzen unter sich zerdrückt, und ihre silbern-pelzigen Ranken ringeln sich um seine Arme und Knie, als versuchten sie ihn ins Erdreich hineinzuziehen. Bei dem Versuch, sich aufzurichten, hat er einen der Pflanzstöcke zerbrochen und zwei weitere aus dem Boden gerissen.

    «Mir geht’s gut», sagt er. «Musste mich nur mal ein Weilchen hinlegen.»

    «Mitten ins Tomatenbeet?»

    «War wohl zu lange in der Sonne», sagt er. Er nuschelt undeutlich wie ein Betrunkener.

    «Lächle mal», sage ich. Ein Mundwinkel wandert nach oben, doch der andere bewegt sich nicht; er verzerrt das Gesicht zu einem schiefen Grinsen.

    «Kannst du die Arme heben?»

    Er hebt beide an, doch einer sackt sofort wieder hinunter, vom Lehmboden angezogen wie von einer energischen, unsichtbaren Hand. Ich greife nach der anderen und drücke sie. Seine Finger riechen nach grünen Tomaten.

    «Du bleibst schön liegen», sage ich und gehe so schnell wie möglich zurück in die Küche; von dort rufe ich den Krankenwagen. Die Frau in der Telefonzentrale macht nicht den Eindruck, als würde sie sich beeilen, und ich bin ziemlich sicher, dass sie Doughnuts isst. Alles, was sie sagt, klingt fettig. Es dauert eine Ewigkeit, bis sie Franks Namen und Adresse notiert hat.

    «Und bitte kommen Sie schnell», sage ich. «Es ist ein Notfall.»

    «Das sagen sie alle, Sir.»

    Das Telefon ist an der Wand befestigt. Ich lege nicht auf, lasse den Hörer am Kabel über dem Fußboden pendeln, falls sie den Anruf nachverfolgen wollen, um uns zu finden – es würde mich nicht besonders wundern, wenn sie unsere Adresse falsch notiert hätte –, und bringe Frank ein Glas Wasser nach draußen. Ich führe es an seine Lippen, aber dann fällt mir ein, dass er vielleicht nicht richtig schlucken kann, wenn nur noch eine Seite von ihm funktioniert. Er könnte ersticken, bevor sie kommen, um ihn abzuholen, denn er ist so schwer, dass ich ihn alleine kaum auf den Bauch drehen könnte. Schnell ziehe ich das Glas von seinen Lippen zurück, bevor er einen Schluck nehmen kann, aber ihm scheint das ohnehin egal zu sein, er sieht mich nur mit diesem leicht benebelten Gesichtsausdruck an. Seine alte blaue Baseball-Mütze ist weit nach hinten gerutscht und ihm fast ganz vom Kopf gefallen. Er setzt sie so locker auf, dass sie ihm jeder Windstoß vom Kopf pusten kann, und oft passiert das auch, weshalb er dauernd damit beschäftigt ist, seiner Mütze hinterherzulaufen. Aber er kann es nicht leiden, dass etwas seinen Schädel einengt.

    «Nun ja», sagt er, wie um nach einer längeren Pause einen abgerissenen Gesprächsfaden wiederaufzunehmen.

    «Hast du Schmerzen?»

    Er zieht die Augenbraue, die er bewegen kann, in die Höhe. Dabei verschiebt sich auch seine Mütze. «Die eine Hälfte fühlt sich komisch an. Als ob sie gar nicht richtig da wäre.»

    Ich nehme ihm die Mütze vom Kopf. Das innere Hutband ist schweißdurchtränkt und der Stoff an manchen Stellen blassgrün verfärbt. Mir kommt es wie zwei Stunden vor, dass ich neben ihm in der prallen Sonne stehe und ihm mit der Mütze Luft zufächere, die stickige Luft zu einer ziemlich armseligen Brise verquirle, die kaum stark genug ist, dass seine weißen Haare sich ein wenig bewegen. Die ganze Zeit lächelt er mit einem schiefen Grinsen zu mir herauf, von dem ich eine Gänsehaut kriege.

    «Hör auf zu lächeln», sage ich. «Ich kriege davon eine Gänsehaut.»

    Der emporgezogene Mundwinkel rutscht langsam wieder nach unten, in Richtung Kinn.

    «Draußen ist es jetzt viel zu warm. Du hättest hier überhaupt nicht arbeiten sollen.» Er ist dreiundachtzig, verdammt noch mal. Ein Dreiundachtzigjähriger hat an einem solchen Tag in der Mittagszeit draußen nichts zu suchen. Ich bin sicher, es hat eine Hitzewarnung gegeben, damit die Leute ihre Haustiere und älteren Angehörigen im Haus behalten, im Schutz der Klimaanlagen. Und natürlich hat er seine Hemdsärmel nur bis zur Hälfte des Unterarms aufgekrempelt: niemals einen Zentimeter höher, auch nicht in der prallen Sommerhitze.

    Der Schweiß läuft mir den Rücken hinunter. Ich hasse Schweiß.

    Schließlich ist von der Straße das Jaulen der Sirene zu hören, und auf dem Kiesweg, der zwischen den Bäumen hindurch zum Haus führt, knirschen die Reifen des Krankenwagens. Die Sonne blendet so stark, dass ich nicht einmal das rotierende Blaulicht erkennen kann; unsichtbar gleitet es über das Laub und die weißen Vinylpaneele der Hauswand. Ich öffne das Holztürchen zum Garten und führe die Sanitäter zu ihm. Panik zuckt über seine gelähmten Gesichtszüge, als sie sich über ihn beugen.

    «Mit mir ist alles in Ordnung», sagt er, «hab nur zu viel Sonne abgekriegt», bevor sie auch nur das Stethoskop auf seine Brust setzen und ihn nach seinen Symptomen fragen können.

    «Sie können wieder gehen», sagt er.

    Erst nach längerem Hin-und-hergezerre gelingt es den beiden, ihn vom Boden aufzuheben und auf eine Trage zu betten. Die Tomaten an seinem Rücken bluten wie Schusswunden. Ich leere das Wasserglas über den zerdrückten Pflanzen; der Boden färbt sich dunkel, bis das Wasser nach und nach versickert.

    «Kommen Sie mit?», brummt einer der Sanitäter, als sie die Trage in den Krankenwagen schieben. Ihr Anblick ist mir unangenehm, diese dicken, schmierigen Schnauzbärte über den feuchten Mündern, und wenn möglich meide ich enge, geschlossene Räume wie diesen Krankenwagen. Alles ist voller Keime, und wer weiß, was für Schleim und nässende Wunden sie schon berührt haben.

    Als sie ihm die Sauerstoffmaske über Mund und Nase ziehen, starrt Frank mich verängstigt mit aufgerissenen Augen an.

    «Warten Sie einen Moment», sage ich.

    Die Wagentür steht noch weit offen und das Alarmsignal piept; auf der Rückbank liegen zwei Einkaufstüten, die hineingetragen werden müssen. Ich schließe die Tür, gehe zurück zum Krankenwagen und lasse mir von einem der Sanitäter beim Einsteigen helfen. Frank und ich vermeiden, uns zu oft anzuschauen. Sie schließen die Tür und fahren schnell den Weg hinunter. Zischend graben die Reifen Furchen in den Kies, und das Heulen der Sirene folgt uns; als das Haus schon längst hinter den Bäumen verschwunden ist, scheint sie noch immer in unserem Garten zu jaulen.

    Im Krankenhaus erzähle ich der erschöpften Frau am Empfang, dass ich sein Bruder bin. Erspart uns die Hässlichkeit gewisser Auseinandersetzungen. Die ersten Male, als ich das gemacht habe, war ich ganz unruhig und nervös und dachte, dass sie mich durchschauen, aber inzwischen denke ich kaum noch darüber nach. Manchmal macht es mir sogar ein wenig Spaß.

    «Würden Sie sich bitte ausweisen», sagt sie. Ihr Kittel ist über und über mit tanzenden Bären bedruckt.

    Ich greife zur Gesäßtasche und tue so, als merkte ich gerade, dass meine Brieftasche nicht da ist. Mein Nachname steht klar und deutlich in meinem Führerschein, wie es üblich ist, seit so viele Menschen auf dieser Welt leben, dass wir fotografische Beweise dafür verlangen, dass man seine Identität nicht erfunden oder jemand anderem gestohlen hat. Und Brüder müssen den gleichen Nachnamen haben. Zumindest war das so, bevor Frauen mit so vielen Männern sie wollten Kinder bekommen konnten, ohne dass ihre Familie sie rauswarf.

    «Ach herrje», sage ich, klopfe auf die anderen Taschen meiner Hose und wühle darin herum. «Herrje, tut mir leid, ich fürchte, ich habe … in der Aufregung …»

    Sie stößt einen tiefen Seufzer aus. «Wir sagen Bescheid, wenn Sie zu ihm können», sagt sie. Die Verwirrten-Nummer funktioniert meistens. Frauen, die so unhöflich sind, einen älteren Herrn nach seinem Ausweis zu fragen, fehlt meistens auch die Geduld, seine nachlassenden Fähigkeiten zu ertragen. Sie zeigt mir den Weg zum Wartezimmer, wo ich zwischen hustenden, besorgten und leise weinenden Menschen Platz nehme. Eine Familie hat einen großen Kreis gebildet. Sie halten sich an den Händen, und einer nach dem anderen spricht demonstrativ eine Art von Rundgebet. Ich hasse Krankenhäuser. Sie sind so voller Pietät und Geflüster, die Luft ist kalt und schal, und allein der Geruch des Jods, das sie auf all die gelblich-welken Handgelenke schmieren, würde ausreichen, dass einem übel wird, wenn man nicht schon krank wäre. Um in Frieden zu Hause sterben zu können, muss man Opfer eines Gewaltverbrechens werden.

    Ich blättere ein wenig in den zerknickten Zeitschriften, die auf dem Tisch liegen, aber die Seiten fühlen sich vom Schweiß vieler Hände und anderen Ausscheidungen so schmierig an, dass ich mich davor ekle, sie anzufassen. Nach einer ganzen Weile kommt ein Arzt in den Raum geschlendert. So wie er aussieht –, helle, funkelnde Augen und glänzendes Haar, das bestimmt stundenlang gestylt wurde, damit es so zerzaust wirkt –, ist er höchstens zwanzig Jahre alt. Jeder im Raum hält ein mit dem, was er gerade tut, und sieht ihn an, voller Hoffnung oder Furcht, dass der eigene Name aufgerufen wird. Der Gebetskreis hebt seine multiplen Gesichter in verzückter Erwartung.

    «Mr Clifton?»

    Ich nicke und stemme mich aus dem Stuhl in die Höhe. Das geht nicht mehr so schnell, wenn ich lange gesessen habe.

    «Hallo», sagt er, etwas zu enthusiastisch für meinen Geschmack, und streckt mir die Hand entgegen. Er sieht wie einer von diesen Typen aus, die gewohnt sind, von allen gemocht zu werden. «Ich …»

    «Wie geht’s ihm?»

    «Na ja», sagt der Arzt, «er hatte einen leichten Schlaganfall.»

    «Das weiß ich. Wie geht’s ihm?»

    «Sein Zustand ist stabil, aber wir …»

    «Lag’s an der Hitze? Ich hab ihm gesagt, er soll bei dieser Hitze nicht rausgehen.»

    «Die Hitze hat wahrscheinlich dazu beigetragen. Aber soweit ich sehe, war es nur eine Frage der Zeit, bis eine der Arterien schlappmachte.» Er sagt das alles so nett und freundlich, als würde er mit einem Kind reden. «Wir haben ihn jedenfalls erst einmal an den Tropf gehängt und pumpen ihn voll mit Abflussreiniger, also müsste bald wieder alles in Ordnung sein. Doch eine Weile wird er noch im Krankenhaus bleiben müssen.»

    «Aber er wird wieder gesund?»

    «Oh, na klar. Ganz bestimmt wird’s ihm wieder besser gehen. Es ist noch etwas zu früh, um zu sagen, wie viel besser. Aber Sie haben ihn ja sehr schnell hergebracht, also …»

    Ich warte, dass er den Satz zu Ende spricht. Er lächelt mich freundlich an.

    «Wie lange praktizieren Sie schon?», frage ich.

    «Wir machen uns auch ein wenig Sorgen wegen seines Herzens.»

    «Sein Herz? Sein Herz ist tipptopp. Er hat erst vor ein paar Jahren eine neue Klappe bekommen.»

    Er schreibt etwas auf seinem Klemmbrett, als wäre ihm das neu, obwohl Frank ein Silberarmband am Handgelenk trägt, auf dem das eingraviert ist, und obwohl dieses Krankenhaus eine Akte über ihn führt, die so dick ist wie sein Handgelenk.

    «Hat er früher schon Probleme mit dem Herzen gehabt?»

    «Natürlich hat er das. Er hatte einen Herzinfarkt. Warum sollte man ihm sonst eine neue Herzklappe einsetzen?»

    Auch das notiert er sich, den Kopf tief über sein Klemmbrett gebeugt. Als er ihn wieder hebt, sagt er, «Das erklärt so manches. Wirklich so manches. Wir müssen noch ein paar Untersuchungen machen, um ganz …»

    «Sie können untersuchen, was Sie wollen», sage ich, «aber sein Herz funktioniert bestens. Es wurde schon behandelt. Über sein Gehirn sollten Sie sich Gedanken machen.»

    «Alles klar», sagt er und lächelt in sich hinein, höchst amüsiert über meine Dummheit, und tippt dann zweimal mit dem Stift auf sein Klemmbrett, als wollte er mit diesen Schlägen das offizielle Ende der Besprechung verkünden. «Sie können jetzt zu ihm gehen. Zimmer 214, den Gang hinunter und um die Ecke.» Konkret bedeutet das, den Gang hinunter, um die Ecke und durch ein Labyrinth von Türen und Abzweigungen; ich brauche zehn Minuten und die herablassende Hilfe von zwei Krankenschwestern, um ans Ziel zu kommen. Überall an den Wänden der Flure stehen leere Betten und elektrische Apparate, deren tote Monitore nichts mehr überwachen.

    Wie er da im Bett liegt, wirkt er so faltig und dünn, die Haut farblos wie die verschlissenen Krankenhauslaken, in die man ihn gewickelt hat, dass ich mich erst einmal am Türrahmen festhalten muss. Seine Wangen sind eingesunken, als würden die Knochen ihnen keinen Halt geben, und alle paar Sekunden flattern sie leicht mit dem Atem. Seine Hand hängt kraftlos über der Bettkante, und am Handrücken sind Schläuche angebracht – direkt in den knotigen purpurfarbenen Venen – wie Verlängerungskabel, die man durch kleine Schlitze aus seiner Haut herausgezogen hat.

    Ich setze mich neben dem Bett auf einen Stuhl und lege die Hand auf seinen Unterarm. Die Haare darauf fühlen sich staubig und trocken an. Auf der anderen Seite des tristen rosa Vorhangs, der den Raum trennt, hört man jemanden wimmern.

    «Da bin ich», sage ich, aber Frank hört mich nicht. Er schläft und schläft.

    Ich sitze neben dem Bett und schaue ihn an, während das letzte Sonnenlicht dahinschwindet, das von der anderen Seite auf den Vorhang scheint, und die grauen, fluoreszierenden Lichter scheinbar immer heller werden und den Raum sterilisieren. Im Fernsehen kommt Win, Lose, or Paw, eine Gameshow, in der es darum geht, wie gut sich Haustiere und ihre Eigentümer verstehen. Es ist seine Lieblingssendung. Doch er rührt sich nicht, dreht nicht einmal den Kopf, und seine Hand baumelt leblos hinab.

    Eine schwarze Krankenschwester kommt herein, um nach ihm zu sehen; sie ist groß und dünn. «Möchten Sie etwas zu essen?», fragt sie mit einem Blick auf den Pegelstand der Kochsalzlösung im Infusionsbeutel.

    «Nein, vielen Dank.» Ich esse nichts, was aus einem Krankenhaus kommt, vor allem nicht das pürierte Zeug, das die Kranken bekommen. Sie nimmt sein Handgelenk und drückt zwei Finger dagegen. Ihre Lippen zählen leise mit, während sie den Wirrwarr der Tattoos betrachtet, die sich von seiner Schulter bis zum Unterarm ranken. Im wachen Zustand hätte er sofort versucht den Arm unter dem Bettlaken zu verstecken.

    «Sie sollten nach Hause gehen und sich ausruhen», sagt sie. «Sie sehen schon fast so erschöpft aus wie er.»

    «Mir geht’s gut», sage ich. «Ich muss hier sein, wenn er aufwacht.»

    «Die haben ihm ordentlich was verpasst», sagt sie. «Er wird die ganze Nacht schlafen.»

    Ich weiß nicht, wie sie es schafft, zur selben Zeit zu zählen und zu reden, aber sie scheint der erste Mensch zu sein, den ich heute treffe, der wirklich weiß, was er tut. Ich deute mit dem Kopf auf ihre Finger an seinem Handgelenk. «Kann das nicht auch die Maschine machen?»

    «Es gibt Sachen, die merkt die Maschine nicht.»

    Ich hatte gedacht, die Maschinen würden alles merken. Ich dachte, die Welt der Zukunft würde aus lauter Robotern bestehen, wohin man auch blickt, und sie würden sämtliche Arbeiten übernehmen, damit man sich nie wieder Sorgen zu machen braucht, weil man auf etwas so Schlampiges und Fehlbares angewiesen ist wie das menschliche Wesen.

    Sie sieht auf die Uhr, lässt sein Handgelenk los und schreibt seinen Puls und ein paar Hieroglyphen mit rotem Filzstift auf ein Whiteboard an der Wand.

    «Ich bleibe noch ein wenig», sage ich. «Für alle Fälle.»

    Sie nickt. «Aber übernehmen Sie sich bloß nicht schon gleich zu Anfang, okay? Sie werden in den nächsten Wochen noch oft genug hier sein.»

    «Wochen?»

    Sie nimmt seine andere Hand, die bisher über die Bettkante gehangen hatte, und legt sie neben seinem Körper auf das Laken.

    «Danke», sage ich. Etwas rumort in meiner Brust und steigt mir in den Hals.

    «Sagen Sie Bescheid, wenn Sie was brauchen», sagt sie sanft und verschwindet hinter dem Vorhang.

    Ich erwache um acht Uhr morgens auf der Liege neben seinem Bett. Der Nacken tut mir weh, und alles um mich her sieht hell aus, als läge es in sonnigem Dunst. Frank liegt noch genauso da wie am Abend, nicht einmal den Arm hat er bewegt.

    Eine andere Schwester kommt herein, um nach ihm zu sehen. Diese hat ein rotes Gesicht und ist in Eile.

    «Er hat sich nicht bewegt», sage ich.

    «Er ruht sich aus», sagt sie.

    «Liegt er im Koma?»

    «Nein», sagt sie. «Er liegt bestimmt nicht im Koma.»

    «Warum hat er sich dann nicht bewegt?»

    «Er ruht sich aus.»

    «Ich glaube, er liegt im Koma. Sie müssen jemand holen, der ihn untersucht. Leuchten Sie mit der Taschenlampe in seine Augen.»

    Sie sticht mit einer Spritze in seinen Infusionsschlauch. Ich beuge mich so weit vor, dass ich sehen kann, ob sie auch keine Luftblasen hineinpumpt.

    Auf der anderen Seite des rosa Vorhangs stöhnt jemand.

    «Der Mann braucht Ihre Hilfe», sage ich, aber sie fummelt nur an der Plastikklammer herum, die sie auf Franks Mittelfinger gesteckt haben. «Das hört sich ernst an.» Um sein Stöhnen zu übertönen, schalte ich den Fernseher an, der hoch oben an der Wand angebracht ist und aussieht, als würde er jeden Augenblick auf uns herunterkrachen. Schließlich trottet sie hinter den Vorhang. In den Morgennachrichten wird eine Suchmeldung nach einem acht Monate alten Jungen durchgegeben, der in Virginia vermisst wird, nur ein paar Stunden von hier entfernt. Seine Mutter hatte ihn in die Wiege gelegt, um ein Bad für ihn einzulassen, und als sie zurückkam, war er verschwunden. Sie blenden immer wieder die Textzeile Haben Sie den kleinen Larry gesehen? ein, schwarz auf gelbem Grund, wie das Plastikband, das die Polizei benutzt, um einen Tatort abzusperren; darüber ein Bild des Jungen, eingewickelt in eine blaue Decke, er sieht aus wie jedes andere Kind auf dieser Welt.

    Der Nachrichtensprecher sagt, die Wiege habe sich noch bewegt.

    Eine Hand legt sich schwer auf meinen Arm. Ich drehe mich um, und Franks Augen sind offen, trübe, aber bei Bewusstsein; er blickt sich im Raum um.

    «Wo sind wir?», fragt er, sehr langsam.

    «Im Krankenhaus», sage ich.

    «Was? Das ist doch Unsinn.»

    «Schau dich um. Was meinst du denn …»

    «Wie lange bin ich schon hier?»

    «Seit gestern Nachmittag.»

    «Hast du den Garten gewässert?»

    «Natürlich», lüge ich.

    «Gut. Pass auf, dass das Unkraut nicht überhandnimmt.» Er tätschelt kraftlos meine Hand und lächelt, der eine Mundwinkel bewegt sich schnell, der andere folgt ihm langsam. Er holt tief Luft und dämmert wieder weg.

    Ich ziehe meine Hand zurück.

    «Schwester», rufe ich. «Schwester.»

    Seit zwei Tagen ist er hier, und schon wird er zappelig. Sie haben noch eine Reihe von Untersuchungen durchgeführt und ihn in ein Einzelzimmer verlegt; kaum kann er aufrecht sitzen, das Essenstablett vor der Brust, da fragt er schon, «Wann kann ich nach Hause?»

    «Du kommst ja nicht mal alleine aus dem Bett», sage ich.

    «Mir geht’s gut.»

    «Das hast du vorgestern auch gesagt. Als dein Gehirn nicht mehr durchblutet wurde.»

    «Tu mir den Gefallen», sagt er und schaut böse. Er lallt noch immer ein wenig, die Worte klingen irgendwie aufgequollen. Dass er in aller Öffentlichkeit so mit mir redet, muss an den Medikamenten liegen. Nach seiner Herzoperation war ich mir beinah wie ein furchterregendes Monster vorgekommen, so beharrlich hatte er vermieden mich auch nur anzublicken.

    «Hier sind zu viele alte Leute», sagt er und lugt argwöhnisch aus der Tür. «Die ganze Nacht lang haben sie sie vor meiner Tür hin und her geschoben.»

    «Wie willst du das wissen? Du warst die ganze Zeit durch die Schlafmittel bewusstlos.»

    «Das Quietschen der Räder hört man noch im Traum», sagt er.

    Aus Angst vor der Nutzlosigkeit zittern seine Hände auf dem Laken und sein Kiefer kaut unsichtbare Speisen. Er selbst scheint das nicht zu merken.

    «Der Arzt wird gleich für einen Moment vorbeikommen», sage ich. «Du musst dein Mittagessen aufessen.»

    «Ich weiß nicht einmal, woraus mein Mittagessen besteht.» Jedes Fach auf seinem Plastiktablett ist mit einem andersfarbigen Mus gefüllt. «Ernähren sie mich denn nicht schon damit?» Er greift nach dem Bündel Schläuche, die vom Tropf hängen. Die farbige Krankenschwester hatte sie mit einem Klettband zusammengebunden, damit er sich nicht darin verheddert.

    «Das ist nur Zuckerwasser», sage ich. «Iss. Du musst zu Kräften kommen. Je schneller das geht, desto eher können wir nach Hause. Mein Hintern ist schon ganz wund, weil ich den ganzen Tag auf diesem Stuhl sitze.»

    Er sieht mutlos aus, nimmt aber den Löffel. Seine Finger zittern so sehr, dass sie ihn kaum halten können. Und das ist die gesunde Hand. Die andere kann er noch nicht einmal zur Faust ballen.

    «Wovor hast du Angst?», sage ich. «Dem Apfelmus?»

    Er blickt zornig auf seine Finger, als könnte er sie mit einem strengen Blick zur Ruhe zwingen, und schließt sie, entschlossen und fest, um den Griff des Löffels. Er bekommt sie unter Kontrolle, aber es sieht aus, als hätte er das Zittern hinauf ins Handgelenk gepresst: Seine ganze Hand zuckt so heftig vor und zurück, dass die Hälfte in seinem Schoß liegt, bevor er mit dem Löffel den Mund erreicht. Er wird wohl eine Zeit lang einen Latz tragen müssen.

    Ich habe die Polizeinachrichten eingeschaltet; die Mutter des kleinen Larry gibt eine Pressekonferenz und zeigt Phantomzeichnungen eines fremden Mannes, den sie an den Tagen, bevor ihr Baby verschwand, mehrmals gesehen hat – als er so tat, als würde er auf dem Parkplatz ihres Wohnhauses einen Busch beschneiden, am Getränkeautomaten im Waschcenter, in einem Fenster im dritten Stock der verlassenen Zigarettenfabrik gegenüber von ihrem Schlafzimmer.

    «Oh», sagt Frank. Er richtet sich aus eigener Kraft im Bett auf, um besser sehen zu können. Morde, Entführungen und solche Sachen begeistern ihn. Der Verdächtige hat dunkle Augen und ist glatt rasiert, sein schwarzes Haar ist mit Haaröl sorgfältig aus der blassen Stirn nach hinten gekämmt und hängt an der einen Seite gerade herunter, so wie ich sie früher auch getragen habe.

    «Sie hat es getan», sagt Frank.

    «Glaubst du?»

    «Sieh doch, wie viel Make-up sie trägt.» Das Make-up ist so dick auf ihr Gesicht gespachtelt, dass am Kinn die Kante zu sehen ist, wo es aufhört; die Haut über der Kante hat eine völlig andere Farbe als die Haut darunter. Ihr blondes Haar hat sie zu Locken gedreht und mit Haarspray fixiert, als würde sie zu einer schicken Party gehen, und die oberen drei Knöpfe ihrer engen Bluse sind offen; es ist reiner Zufall, dass ihr Büstenhalter nicht zu sehen ist. Mascara läuft in wolkigen schwarzen Tränen ihre Wangen hinunter und hinterlässt tiefe Schneisen im Rouge.

    «Wenn das nicht das Gesicht der Schuld höchstpersönlich ist», sagt er, «was ist es dann?»

    «Bitte», sagt sie, «wenn jemand diesen Mann gesehen hat, gehen Sie zur Polizei. Und wenn dieser Mann jetzt zuschaut, bitte, bringen Sie mein Baby zurück. Bringen Sie den kleinen Larry heim, ich bitte Sie. Ich werde auch … Ich tue alles, was Sie wollen. Alles. Ich will nur meinen kleinen Jungen zurück. Das ist alles.» Ihr Gesicht verzieht sich zu einem Schluchzen. Sie muss sich am Pult festhalten, um nicht zu Boden zu sinken.

    «Sieh doch, wie sie weint», sage ich.

    «Willst du etwa sagen, dass du ihr glaubst?»

    «Natürlich tue ich das. Niemand, der so viel Wert auf sein Aussehen legt, zeigt sich ohne Grund so verheult im landesweiten Fernsehen.»

    Er seufzt. «Von solchen Sachen hast du noch nie besonders viel verstanden.»

    Der Sheriff legt ihr den Arm um die Schultern und führt sie vom Podium zu einer Gruppe von Deputys,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1