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Jenseits des Tales: Roman
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eBook546 Seiten8 Stunden

Jenseits des Tales: Roman

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Leseprobe:
Natürlich fällt es ihm leichter, nicht an sie zu denken, wenn er wieder weg ist. Schon auf der Heimreise nach Köln, die fast zu einem Ritual geworden ist, versucht er sie zu verdrängen, wenigstens erst mal Abstand von ihr zu gewinnen. Nachdem er sich im Wienerwald mit Dosenbier eingedeckt hat, zischt er vor der Abfahrt seines Zuges in der Bahnhofspinte noch ein kühles Blondes - ah, noch eins, und er wischt sich den Schaum vom Mund, spürt die Wirkung des Alkohols, der sich bereits nach dem ersten Glas wohlig in ihm ausbreitet: eine euphorische Welle scheint sein Bewußtsein zu überschwemmen, es aufzuhellen, für einen Moment sogar zu vergolden, aber das hält ohne Nachschub nicht lange an, verkehrt sich sogar ins Gegenteil, weshalb er auch zu trinken nicht aufhören kann, nein, er hat Angst, die angenehme Heiterkeit, die ihn jetzt warm durchrieselt und alles verklärt, könnte verblassen und ihn, eben noch schwebend, abstürzen lassen in diese furchtbare Depression, die das eh schon Trostlose im nüchternen Zustand noch schrecklicher macht, ihm etwas Monströses verleiht, das er einfach nicht aushält, und so trinkt er während der Zugfahrt eine Dose nach der anderen, geht zwischendurch pinkeln, kichert, wenn sein Strahl im Geschuckel danebentrifft, taumelt zurück in sein Abteil, das bis Düsseldorf meistens leer ist, sich dort aber schlagartig füllt: Typen mit Aktenkoffer und Schlips, junge gepflegte Frauen, die etwas Einschüchterndes für ihn haben, ja, er fühlt sich plötzlich ganz schäbig, hat Angst, sie könnten seine Fahne riechen, und schon rümpft eine die Nase, während sie in ihr Handy spricht und ihn anstarrt, und er senkt schnell die Augen, holt die nächste Dose, die letzte, aus seiner Tasche, trinkt und denkt: blöde Tussi, denkt es gleichsam mit bösem Blick, mit dem er sie nun seinerseits anstarrt, und sie, eben noch arrogant, senkt plötzlich selber die Augen, tut so, als müßte sie ihr Handy verstauen, aber er hat sie durchschaut, spürt ihre Angst, und er grinst vor sich hin, wiederholt im Geiste blöde Tussi und trinkt, sieht hinaus in die Abenddämmerung - blöde Tussi, und er meint damit jetzt seine Mutter, von der er sich, nicht nur räumlich, immer weiter entfernt, froh, nein, eher erleichtert, und auch das stimmt nicht ganz, denn die Erleichterung ist geliehen von der Wirkung des Alkohols, der ihn aufputscht mit fragwürdigem Behagen, das wie durch ein Leck aus ihm rausrinnt, so daß er immerzu nachkippen muß, und der Pißdruck nimmt schon wieder zu.

[...]

SpracheDeutsch
HerausgeberTrotz Verlag
Erscheinungsdatum22. Feb. 2020
ISBN9783966862233
Jenseits des Tales: Roman

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    Buchvorschau

    Jenseits des Tales - Reinard Knoppka

    Titelbild

    Reinhard Knoppka:

    Jenseits des Tales

    Erzählungen

    Für Walter!

    Verlag & Vertrieb:

    www.trotz.medien-vvg.org

    trotz@medien-vvg.org

    ISBN eBuch: 978-3-96686-226-4

    9783966862264

    © Trotz Verlag

    Köln 2014

    Alle Rechte vorbehalten

    978-3-96686-226-4

    Reinhard Knoppka

    Jenseits des Tales

    RomanIhn heilten nur zwei knabenfrische Wangen. Börries Freiherr von Münchhausen © Trotz Verlag Umschlaggestaltung: R. Knoppka Köln, 2014Lauge Stricknadel Blutsturz Bleich ist sie, ein Gespenst, die Dauerwelle in Auflösung, nur noch ein Geschlinge nicht mehr sitzender weißer Haare, die Kopfhaut ebenso farblos, und darunter dieses schlaffe Gefältel eines eingefallenen, erloschen wirkenden Gesichts, aus dem als einziger Kontrast ein roter Fleck auf der linken Wange aufleuchtet, eine blutig gekratzte Stelle: kann sie mal wieder das Piddeln nicht lassen, denkt Luz, ihr Sohn, der, die Umhängetasche geschultert, müde, mit schmerzenden Gelenken, die steile, sich in den zweiten Stock windende Treppe hinaufgestiegen und so in ihr Blickfeld gelangt ist, zuerst mit dem Kopf, auf dem die beginnende Glatze wie eine Tonsur schimmert im dämmrigen Treppenhauslicht, ein Signal, stellt er sich vor, das keine Freude in ihr auslöst, sondern Mißtrauen, sogar Angst, jedenfalls heitert sich ihr Gesicht nicht auf, sondern zieht sich zusammen, als hätte sie in etwas Saures gebissen - oder bildet er sich das nur ein? Hallo - hallo. Matt wird diese Begrüßungsformel gewechselt, zu der auch sein „Wie geht’s? gehört, dem sie gleich den Wind aus den Segeln nimmt mit einem Schulterzucken, das er übersetzt mit: wie soll’s schon gehen? Da ist er also - er möchte am liebsten auf dem Absatz kehrt machen und wieder abhauen, zurück die Strecke durch das öde Industriegebiet dieser Stadt: wie konnte sie nur hierhin ziehen, in diese häßlichste Ecke von Münster? Jedesmal bekommt er einen Depressionsschub, wenn er an der Alten Reitbahn aus dem Bus steigt, durch diese leblose Landschaft wandert, verschandelt von Wellblechhallen, Möbellagern, Gartencentern oder Stellplätzen mit Hunderten neuer oder gebrauchter Autos, doch es gibt keinen anderen Weg - da drüben standen früher die Nutten auf dem Straßenstrich, weshalb dieser Stadtteil, zumindest bei seinen Kameraden, einiges Interesse hervorrief, bei ihm aber immer nur Grauen, nicht wegen der auffälligen Frauen am Straßenrand, sondern wegen dieser einen total un4auffälligen Frau in dem versteckten, zurückgesetzten Zweifamilienhaus, dessen ausgebautes Dachgeschoß sie bewohnt, seine Mutter, zu der ihn nichts hinzieht, die er aber einmal im Monat besuchen muß. Aller Schwung des Weitgereisten, aus der Ferne Zurückgekehrten fällt angesichts ihres Schulterzuckens von ihm ab, und er nimmt den Geruch wahr, der von ihr ausgeht und ihm Übelkeit bereitet, aber auch Panik, daß es schon so weit sein könnte: sie wäre nicht mehr imstande, sich selber sauberzuhalten, er müsse nun doch den Pflegedienst für ihre tägliche Körperpflege bestellen, obwohl das mit der Finanzierung nicht geklärt ist, solange die Pflegekasse sich querstellt, und er spürt wieder den Haß auf alles Bürokratische, in dem er sich wie in einem Labyrinth fühlt, wo es nur Hindernisse und die Sehnsucht nach einem Ziel, nie aber eine Lösung gibt. Zögernd, fast widerwillig macht sie die Tür frei, weicht zurück in ihre Wohnung, er hinterher, schnüffelnd: ewig nicht mehr gelüftet, denkt er, ist aber erleichtert, nichts Bedrohliches zu riechen, nur diesen Achselschweiß, ein Hinweis darauf, daß sie ihre Bluse wechseln müßte, und er hat das Bedürfnis, die Fenster aufzureißen, frischen Wind hereinzulassen in diesen Mief, der nicht nur von der verbrauchten Luft herrührt, sondern auch ein Anzeichen ist für den Stillstand kurz vor dem Abgrund, dem Sturz ins Chaos, wie er sich die Schritte vorstellt, die er nach einem neuerlichen Schub ihrer Krankheit einleiten müßte. Nicht dran denken, denkt er und folgt ihr ins Wohnzimmer, setzt seine Tasche auf dem Sitzkissen ab, erkennt, daß hier alles tipptopp sauber ist, zumindest oberflächlich betrachtet, und er sieht sie im Geiste auf allen vieren über den dunkelroten Teppich kriechen, mit einer Kleiderbürste jeden Quadratzentimeter abbürsten, so daß alles staubfrei ist wie in einer Glasvitrine im Museum, wo die Zeit stillzustehen scheint wie hier: nur die Flecken an den Wänden zeugen von ihr, als sondere sie Schmutz ab, der durch die Rauhfasertapete dringt - Zeit, sichtbar in vergilbten Spuren, die unaufhörlich aus dem Nichts zu kommen scheinen, aus dem Verstreichen 5der Sekunden, die der Wecker auf dem seit Jahren nicht mehr benutzten Videorecorder ausspuckt, und ihm ist, als sei es nur dieses Tick-tack, das auf Leben hindeutet, sinnlos wie das immerwährende Kreisen des Sekundenzeigers, das einzige, was sich hier noch bewegt. Plötzlich, in einer Art Übersprunghandlung, bückt sie sich und streicht die ohnehin schon akkurat ausgerichteten Teppichfransen glatt, mit ihren hastigen Bewegungen, die ihre innere Anspannung verraten, während er das Fenster, vollbesetzt mit halb vertrockneten Kakteen, auf Kippe stellt, wobei er den Griff durch den Store hindurch packen muß, der an den Stacheln einer Pflanze hängenbleibt, was sie („Vorsicht!) zu ihm hineilen läßt, und sie drängt ihn ab, schließt das Fenster wieder, löst die Stacheln aus den feinen Nylonmaschen, und er muß sich beherrschen, sie nicht zurückzustoßen, den ganzen Scheiß von der Fensterbank zu fegen und („Luft, Luft!") beide Flügel gleichzeitig aufzureißen. Statt dessen zieht er die fellgefütterte Jacke aus, die sie ihm gleich abnimmt, um sie - ja, wohin damit: alles ist vollgehängt, und sie weiß nichts damit anzufangen, ist froh, als er danach greift und sie auf seine Tasche wirft. So, und nun? Sie sieht ihn fragend an mit ihren hellblauen, wie ausgewaschenen Augen hinter den dicken Brillengläsern, die ihrem Blick etwas Konzentriertes verleihen, obwohl es nur die künstliche Verkleinerung ist, die ihre Augen ungleich zusammenzieht, denn sie sind mit unterschiedlichen Dioptrien korrigiert, so daß eins größer wirkt als das andere, und das irritiert ihn jedesmal wieder, wie ihn überhaupt die ganze Frau irritiert, vor der er sich wie gelähmt fühlt, als habe ihn eine Art Muskelschwund befallen, der ihn gleich vor ihr zusammensinken, zu einer knochenlosen Qualle werden läßt, die in wellenartigen Kriechbewegungen vor ihr Reißaus nehmen will, aber er entkommt ihr nicht, ist durch diese absurde Verwandtschaft mit ihr vernabelt, wie einst als Fötus, als sie, um ihn, den Fehltritt, wieder loszuwerden, möglichst viele Treppenstufen auf einmal hinuntersprang, sich die Muschi, dieses Schleimloch, denkt er bitter, mit Lauge vollpumpte, 6um ihn, die in ihren Organen schmarotzende Sünde, aus sich herauszuwaschen - ging aber nicht, und sie bohrte sich eine Stricknadel hinein, und nur ihren wahnsinnigen Schmerzen hat er seine Existenz zu verdanken, ach, wäre er doch mit dem sie in Panik versetzenden Blutsturz aus ihr herausgeschwappt und mit der Klospülung weggeschwemmt worden!

    „Möchtest du was trinken? fragt sie und läuft schon in die Küche, wo sie sich ratlos um sich selber dreht: was wollte sie denn noch, und sie beginnt, die ohnehin blitzblanke Nierosterspüle abzureiben, einen von einem Wassertropfen verursachten Fleck wegzuwienern, bis sie von seiner Stimme aus dem Wohnzimmer („Eine Cola, wenn du hast!) zusammenfährt - ja richtig, und sie reißt die Kühlschranktür auf. „Hast du schon gegessen? fragt er und taucht im Korridor auf. „Was? Ach du wolltest was essen, sagt sie und stellt die Flasche zurück: „Mal gucken, was da ist, und sie zählt die Lebensmittel auf, die sie im Kühlschrank entdeckt - das meiste wahrscheinlich schon vergammelt, denkt er und sagt laut, er meine, ob das Essen auf Rädern bereits gekommen sei. Das weiß sie beim besten Willen nicht - mal nachschauen, und sie geht in das gegenüberliegende Zimmer, wo auf dem vollgestellten Tisch unter anderem die Styroporbox steht, deren Deckel sie abnimmt: natürlich, Schweinebraten mit Rosenkohl gebe es, ob er wolle. Nein, für sie sei das gebracht worden, erklärt er, aber sie wehrt ab, sie habe überhaupt keinen Hunger und wäre froh, wenn sie ihm damit eine Freude machen könne - na gut. Eifrig entfernt sie die Alufolie von dem dampfenden Essen. Bei dem Geruch werde ihr übel, sagt sie und verschwindet in der Küche, während er zu essen beginnt und sie fragt, ob sie überhaupt mal was davon anrühre oder alles ins Klo kippe, was sie vehement leugnet, und um nicht ganz unglaubwürdig zu klingen, gibt sie zu, daß sie manchmal, nicht immer, aber ab und zu nicht alles esse, wenn sie keinen Appetit habe, so wie heute. Er nickt und liefert ihr das Stichwort: der Streß, wenn er komme, schlage ihr 7auf den Magen, und sie bestätigt es erleichtert, nimmt dem darin enthaltenen Vorwurf aber gleich die Spitze - nicht daß er meine, sie freue sich nicht auf seinen Besuch, aber er wisse ja, wie verwirrend es für sie sei, wenn mal was Ungewohntes eintrete, das liege halt an ihrer Krankheit. Er schlingt das Zeug (schmeckt wirklich nicht besonders) in sich hinein, während sie sich ihm gegenüber auf den Klappstuhl (richtige Stühle gibt es hier nicht) setzt und ihn ängstlich beobachtet - ob er was trinken möchte, wiederholt sie ihre längst vergessene Frage, froh, etwas tun zu können, und sie springt auf, bleibt vor der bekleckerten Alufolie auf der Ablage in der Küche stehen und will sie gerade abspülen, als er ihr zum zweiten Mal zuruft, eine Cola, wenn sie habe. Sie fliegt zum Kühlschrank und kommt strahlend mit einer anderthalb Literflasche zurück. Gläser, Gläser, wo hat sie die noch stehen, und sie reißt kopflos Schranktüren auf - „In der Glasvitrine, sagt er gereizt, und sie verschwindet, kommt nicht wieder, und wütend trinkt er aus der Flasche, die er, als ihr Schatten auf der Korridorwand erscheint, hastig absetzt. Ob sie ihm schon - er wisse ja, ihr Gedächtnis - habe sie ihm eigentlich schon seine Auslagen erstattet - sie wisse gar nicht, wieviel Geld sie überhaupt noch habe, und sie sucht das Portemonnaie in ihrer mitgebrachten Handtasche (wo ist das Glas, zum Kuckuck?) und fächert dann sechs Hundertmarkscheine in ihren Händen auf, triumphierend.

    Wenn dir mal einer die Handtasche entreißt, hat er aber einen guten Fang gemacht, denkt er und versucht ihr zum x-ten Male klarzumachen, daß es nicht gut sei, mit soviel Geld herumzulaufen - ein, höchstens zwei Hunderter reichten völlig aus, und die anderen solle sie in ihr Versteck tun. Versteck? Sie sieht ihn verständnislos an, und er sagt: „Dein Sparbuch im Sekretär" - ja, richtig, und sie rennt los, worauf er schnell einen weiteren kräftigen Zug aus der Flasche nimmt. Sie kommt zurück mit den letzten Kontoauszügen (der jüngste ist vier Wochen alt) und will ihm ihren neusten Kontostand präsentieren (natürlich hat sie alle Scheine wieder in ihr Portemonnaie gesteckt).

    8Apropos, und er steht auf, geht zu seiner Tasche, kommt mit einem Überweisungsauftrag zurück und setzt ihr auseinander, daß sie beim Buchclub dieses fünfzehnbändige Lexikon bestellt habe, obwohl er ihr doch eingeschärft hätte, nichts zu unterschreiben. Aufgeregt beteuert sie, nichts unterschrieben zu haben. Da sie nicht entmündigt sei, fährt er fort, ein wenig schadenfroh über ihr Zusammenzucken, müßte sie zweitausendfünfhundert Mark bezahlen, aber er hätte dem Typ von der Kundenbetreuung ihre Situation geschildert - ach, Scheiße, kapiert sie ja doch nicht, und er kürzt die Sache ab: er habe den Preis auf tausend Mark heruntergehandelt, und sie unterschreibt den Zahlschein, worauf sie das Ganze schon wieder vergessen hat.

    Er hat ihr Bonbons, Werther’s Original, mitgebracht, die er als Krankenpfleger wiederum von einer Patientin bekommen hat, jedesmal eine Handvoll von diesen in goldenes Glanzpapier eingewickelten Dingern, die er schon wegschmeißen wollte, als ihm seine Mutter einfiel, für die er nun eine ganze Tüte voll, mindestens zwei Kilogramm, aus der Tasche zieht, und sie strahlt ihn an, wie er sie früher, als Fünfjähriger, angestrahlt hat, wenn sie ihm bei ihren seltenen Besuchen im Kinderheim Süßigkeiten mitgebracht hat, ja, er erinnert sich noch, daß er sich mehr auf diese Leckereien gefreut hat als auf sie, die immer so etwas Herbes, Unnahbares, fast Feindseliges ausstrahlte, ganz im Gegensatz zu Tante Trude, die, wie er später erfuhr, gar nicht seine richtige Tante war, sondern nur die beste Freundin seiner Mutter, dieser launischen feinen Dame, vor der er soviel Angst hatte, daß er froh war über Tante Trudes Gegenwart, die ihn gewiß vor den Wutanfällen der anderen (er spürte, daß sie sich vor ihm zusammenriß und ihre Freundlichkeit nur vorgetäuscht war) beschützen würde - er lief auch nur in Tante Trudes Arme: ein sicherer Ort, von dem aus er nach der Knistertüte greifen konnte, die ihm die Frau, die seine Mutter sein sollte, mit säuerlicher Miene hinhielt. Auch jetzt, 9fünfunddreißig Jahre später, knistert sie mit einer Tüte, nur daß diesmal sie entzückt ist von den Bonbons, in die sie hineingreift, fasziniert von dem Funkeln und Strahlen des Einwickelpapiers in der Sonne, als wären es Nuggets, und sie wickelt eins heraus - köstlich, gibt sie durch ein Quieken an, worauf sie, die Augen selig geschlossen, zu lutschen beginnt, laut schlürfend, wobei das hellbraune Klümpchen gegen die Gaumenplatte ihrer oberen Gebißhälfte klickert, und er, überempfindlich bei solchen Geräuschen, spürt ein Kribbeln, das sich in Aggression verwandelt, wenn er sich nicht gleich Bewegung verschafft, zum Beispiel diese leergegessene Alufolie unterm heißen Wasserstrahl säubert. Nein nein, das mache sie, und sie drängelt sich vor ihm in die enge Küche, doch bevor lautes Geplätscher und Gekratze alles übertönt, hört er noch das Krachen in ihrem Mund, begleitet von einem wonnigen Grunzen. Widerlich, denkt er und zischt dabei sogar, was sie mitkriegt, und irritiert dreht sie sich um, worauf er den Bestürzten spielt: ob es nicht schlecht sei für ihr Gebiß, wenn sie die Bonbons zerbeiße - ach was, das mache sie immer, sagt sie und widmet sich wieder der Alufolie, die sie nun gründlich abtrocknet (so ein Quatsch, sie kommt doch in den Müllsack).

    Er aber malt sich die Komplikationen aus, die eine neue Gebißanpassung mit sich bringen würde, wie schon einmal, als sie sich einen Zahn ausgebrochen hat, bestimmt, da ist er sich jetzt sicher, auch wegen diesem wahnsinnigen Zerbeißen von Bonbons - nur hatte sich damals die Nachbarin, Frau Scherer, um den Zahnarzt gekümmert, überhaupt um alles. Daß sie vor einem Jahr wie vom Blitz getroffen vom Rad gefallen und einen Tag später tot war, kann er immer noch nicht fassen. Er spürt wieder dieses Entsetzen in sich aufsteigen, wie immer, wenn er an diesen Schlaganfall erinnert wird, und schüttelt den Gedanken daran ab.

    Der gelbe Sack, in den er die Alufolie noch hineinstopft, ist proppevoll, und auch der Zeitungen- und Illustriertenstapel 10reicht fast bis zur Decke im Abstellraum, den sie fälschlicherweise Kabäuschen nennen und der außerdem mit Leergut und Wegwerfflaschen vollgestellt ist, und er beginnt, diese erst mal in Plastiktüten zu verstauen, die er vor der Wohnungstür abstellt, damit er sie gleich, wenn sie losgehen und am Glascontainer vorbeikommen, nicht mitzunehmen vergißt. Auch den Plastiksack schnürt er zu, und er hängt einen neuen, von der Rolle gerissenen am dafür vorgesehenen Haken auf, während sie dauernd im Hintergrund irgendwelche blödsinnigen Kommentare von sich gibt, auf die er gar nicht hört, die er nur mit einem Knurren scheinbar beantwortet - „Ja ja, brummt er und denkt: laß mich doch in Ruh’! Das brauche er alles nicht zu machen, erklärt sie, sie könne das doch auch, und sie sei ganz stolz darauf, daß sie die Alufolien so sauberhalte, denn das würde ja fürchterlich riechen, wenn man sie nicht ... „Ja ja, und er schultert den Sack und poltert damit zum Keller hinunter (der ist auch schon bis zum Gehtnichtmehr vollgestopft), kommt wieder hoch und möchte sie am liebsten aus dem Kabäuschen jagen, in dem sie die Flaschen wieder aus den Tüten holt und schön der Reihe nach aufstellt: sie sei ja so froh, daß sie neuerdings auf mehr Ordnung achte, früher sei sie, ehrlich gesagt, eine richtige Schlampe gewesen, aber er wisse ja ... „Ja ja", und er packt die Flaschen, nachdem er sie höflich hinausgebeten hat, wieder in die Tüten, lädt sich dann einen Stapel Altpapier auf die Arme, um ihn unten in die Abfalltonne mit dem blauen Deckel zu schmeißen, und sie fängt schon wieder an, die Tüten mit den Flaschen - ich könnt’se an die Wand klatschen, denkt er und steigt schwitzend die Stufen runter. Unten bei der Tonne stellt er fest, daß er sich das weiße Hemd beim Rumwühlen im Kabäuschen versaut hat, und er reibt verärgert an einem Schmutzflecken herum, während er, wieder ins Haus tretend, Stimmen im ersten Stock hört. Es ist seine Mutter, die ihm gefolgt und dabei der Nachbarin eine Etage tiefer begegnet ist: eine bildhübsche, fast noch mädchenhafte Frau mit sympathischem, lachendem, rotwangigem Gesicht und ebenso 11schönen, nein, noch viel schöneren Kindern, einer etwa neunjährigen Tochter (unglaublich, daß ihre Mutter noch so jung aussieht) und einem Jungen im I-Männchenalter, ein Augenschmaus von einem Bürschchen - ach! Er begrüßt die junge Frau herzlich (schönen, vor allem aber freundlichen Menschen gegenüber hat er immer herzliche Gefühle), die strahlend zurückgrüßt: sie weiß Bescheid über den Zustand seiner Mutter.

    Als die Nachbarin im Parterre, Frau Scherer, gestorben war, kam Frau Mangold, die junge Mutter, zu ihnen hoch, völlig aufgelöst, mit der Todesanzeige wedelnd , und sie war seiner Mutter in die Arme gefallen, die sie tröstete, ohne zu wissen, warum die Frau weinte, so wie die Weinende nicht wußte, daß seine Mutter nicht wußte beziehungsweise schon wieder vergessen hatte, was eigentlich los war. Am Nachmittag war er dann ein Stockwerk tiefer gestiegen, hatte bei der Mangold geklingelt und ihr, nachdem sie ihn hereingelassen und ihm was zu trinken hingestellt hatte, eröffnet, daß seine Mutter Alzheimer habe.

    Seine Mutter stellt dem Mädchen so absurde Fragen wie:

    „Gehst du schon zur Schule?", was sie, die sicher auch im Bilde ist, so beantwortet, als sei sie etwas Sinnvolles gefragt worden: nein, sie gehe erst ab nächstes Jahr aufs Gymnasium, und seine Mutter, die merkt, daß sie sich mal wieder blamiert haben muß, nickt und schüttelt gleichzeitig den Kopf und sagt, genau das habe sie wissen wollen, und um ihren Schnitzer wieder wettzumachen, schiebt sie die Frage nach, ob es nicht wahnsinnig schwer sei, heute das Abitur zu bestehen, worauf die Mutter des Mädchens zustimmend nickt. Die Fragende, etwas verstört, will gleichsam wieder festen Boden betreten: weg von schwierigen Gesprächen, hin zur Demonstration ihrer Kinderliebe - das zieht immer, weiß sie noch unbestimmt von früher.

    Mit gespieltem Entzücken wirft sie sich herum, zum Jungen hin, vor dem sie wenn nicht auf die Knie fällt, so doch in die Hocke geht, und es fehlt nicht viel, daß sie ihn umarmt und 12abschmatzt, während sie mit Kopfstimme flötet, wie hübsch, nein, süß er sei, dabei schon so groß, richtig in die Höhe geschossen, fast schon ein kleiner Mann, also sowas, und sie hält ihm die Tüte mit Werther’s Original hin, aus der er sich bedienen, ach was, die er ganz nehmen soll, ja, er solle nur kräftig essen, er wolle doch mal groß werden, gell - wo hat sie denn diesen Ausdruck her, denkt Luz und wirft entschuldigende Blicke um sich, und die junge Frau lächelt verständnisvoll, und das Mädchen muß ein Kichern unterdrücken, aber der Junge, noch nicht firm in der Kunst des Überspielens peinlicher Szenen, guckt sie groß an und öffnet schon den Mund (will er sie fragen, ob sie nicht alle Tassen im Schrank hat?), als die Verwirrte Luz die Stufen hinunterschubst und erklärt, sie wären schon vielzu spät dran, und mit lautem Hallo und Winkewinke wird sich verabschiedet. Luz hat einen richtigen Muskelkater im Gesicht vor lauter Grimassieren und Lächeln. In der Tat bist du hübsch, nein, süß, denkt er, den Jungen musternd, und er verdreht die Augen mit einem Seufzer, den er wieder hinter einem Räuspern versteckt, und dann, als der Kurze in seine Richtung grinst, wäre er fast selber vor ihm in die Knie gegangen!

    Ihre Falschheit ist purer Selbstschutz, weiß Luz und ist ihr deshalb auch nicht böse. Doch damals, als sie noch fit war, hatte sie weder für ihn noch für ihre Freundin Trude, die sie Trudchen nannte, ein freundliches Wort. Heucheln konnte sie schon immer. Die Nonnen im Heim sahen sie so, wie sie sich gab, nie, wie er sie empfand, aber die Nonnen waren in vielerlei Hinsicht ohnehin blind, zum Beispiel, was geistliche Herren betraf - doch das ist ein anderes Kapitel. Ihr peinliches Entzücken, das sie soeben vor der Nachbarsfamilie im Treppenhaus demonstriert hat, erinnert ihn an ihre übertrieben herzliche Begrüßung der Schwester im Marienhaus, und während er, ein ängstlicher Fünfjähriger, dabeistand und neugierig zu dieser Dame, die nach einem wunderbaren „Parföng" roch, aufschaute und sie mehr singen als sprechen hörte, schien ihm 13Schwester Magdalena ebenso heuchlerisch, doch dieses Wort kannte er da noch nicht. Jedenfalls fiel ihm auf, daß sie anders war als sonst, woraus er schloß, daß sie entweder zwei Persönlichkeiten hatte oder eine davon falsch war - nur welche? Damals wäre es ihm niemals eingefallen, sie könnte verlogen sein:

    Verlogenheit war nur ihm und den anderen Kindern vorbehalten, die immer irgendwelche Sünden zu verstecken hatten, was aber ein vergebliches Unterfangen war, weil Gott ja alles sah.

    Als die beiden Frauen genug verbale Süßigkeiten, wie er es heute nennen würde, ausgetauscht hatten und sich verabschiedeten (Kulminationspunkt des Süßlichen, ja, ihm war, ihre Hände müßten gleichsam, nachdem sie sie geschüttelt hatten und wieder voneinander lösten, Fäden wie von Karamellbonbons ziehen) - da fiel jede zurück in ihr altes Wesen, das sich wie der Alltag vom Sonntag unterschied, als hätte die Schwester ihre gestärkte weiße Schürze mit der geflickten karierten getauscht und als wäre seine Mutter, eben noch wie jene Eisenspäne vom Magneten starr aufgerichtet, willenlos in sich zusammengesackt, jedenfalls riß sie sich, als der Magnet Schwester Magdalena weg war, nicht mehr am Riemen, sondern war plötzlich launisch, zänkisch, fürchterlich, das heißt zum Fürchten, und ohne Tante Trude hätte er es keinen Moment länger ausgehalten und wäre schreiend zum Marienhaus zurückgerannt und hätte, mit den Fäusten trommelnd, um Einlaß gebettelt.

    Warum seine Mutter so war, wußte er als Kind natürlich nicht, doch er bezog ihre schlechte Laune, ihre Verkrampftheit, ihre fischige Art, der jede Herzenswärme fremd zu sein schien, instinktiv auf sich und brachte das in seiner Naivität mit der Erbsünde in Zusammenhang, mit diesem von Adam und Eva überkommenen Schandfleck der Seele, wofür man nichts konnte, den man einfach wie Hände und Füße mitbekommen hatte und für den man, obwohl eigentlich unschuldig, büßen sollte, büßen, büßen: mit Ohrfeigen und Prügel von früh an, mit 14„zur Strafe in der Ecke stehen - immer gab es ein „zur Strafe, und er hatte das schließlich so verinnerlicht, daß er sich schulterzuckend (er konnte ja bei aller Mühe, sich zu bessern, doch nichts daran ändern) als Verworfener akzeptierte, was weniger sein Selbstvertrauen als vielmehr seinen Trotz stärkte, zum Beispiel seiner Mutter gegenüber, der er sich schließlich, nachdem sie ihn mit genügend negativer Energie aufgeladen hatte, in einem Wutanfall brüllend und strampelnd vor die Füße warf, bereit, das Äußerste von ihr zu erdulden, ja, sollte sie ihn doch packen und in die Hölle werfen, die er sich als großen Ofen vorstellte, wie den im Kesselhäuschen vom dicken Hausmeister. Aber Tante Trude rettete ihn vor dem grausigen Schlund, aus dem er schon die gierigen Feuerzungen lecken sah, nahm ihn, eins-zwei, auf die Arme und tat das Unfaßbare - streichelte ihn, so wie seine Mutter höchstens den Stofftier-Affen gestreichelt hatte, und überhaupt war er eifersüchtig auf diesen Affen, an den sie all die Zärtlichkeiten verschwendete, die sie ihm versagte, aber klar: der war ja auch kein Mensch und folglich nicht mit dem Makel der Erbsünde behaftet. Erst fünfunddreißig Jahre später, genauer, vor drei Monaten, als er ihren Sekretär durchstöberte und auf die Liebesbriefe von Hugo, ihrem damaligen Liebhaber, stieß, begriff er ihre Liebe zum Stofftier-Affen, war der doch, wie Luz durch die Briefe erfuhr, ein Geschenk von Hugo und sozusagen sein Stellvertreter gewesen. Und auch mit der Erbsünde hatte er gar nicht so daneben gehauen: war er, Luz, doch die Personifizierung ihrer schlimmsten Sünde, für die ein uneheliches Kind Ende der fünfziger Jahre noch galt, und außerdem, wenn man so will, die Verkörperung ihres verpfuschten Lebens sowie der Grund ihrer verlorenen Ehre, der sichtbar gewordene Makel ihrer sexuellen Gier, die damals etwas ganz Abscheuliches war, eine Schande, wenn sie ans Tageslicht kam, so wie heute seine Sexualität als schändlich, sogar als verbrecherisch gilt, und er müßte, würde er dabei ertappt, mit Knast und Forensik rechnen. Wurde seine Mutter damals auch nicht zum 15Äußersten getrieben und während ihrer Schwangerschaft „nur" in ein sogenanntes Heim für gefallene Mädchen gesteckt, so mußte dieses Erlebnis mit ihm, dem Bastard in ihrem Leib, doch ein traumatisches gewesen sein, von dem sie sich niemals erholte: sie konnte und kann ihn nicht lieben - er sie aber auch nicht.

    16Dosenbier Lottchen Wichsen Natürlich fällt es ihm leichter, nicht an sie zu denken, wenn er wieder weg ist. Schon auf der Heimreise nach Köln, die fast zu einem Ritual geworden ist, versucht er sie zu verdrängen, wenigstens erst mal Abstand von ihr zu gewinnen. Nachdem er sich im Wienerwald mit Dosenbier eingedeckt hat, zischt er vor der Abfahrt seines Zuges in der Bahnhofspinte noch ein kühles Blondes - ah, noch eins, und er wischt sich den Schaum vom Mund, spürt die Wirkung des Alkohols, der sich bereits nach dem ersten Glas wohlig in ihm ausbreitet: eine euphorische Welle scheint sein Bewußtsein zu überschwemmen, es aufzuhellen, für einen Moment sogar zu vergolden, aber das hält ohne Nachschub nicht lange an, verkehrt sich sogar ins Gegenteil, weshalb er auch zu trinken nicht aufhören kann, nein, er hat Angst, die angenehme Heiterkeit, die ihn jetzt warm durchrieselt und alles verklärt, könnte verblassen und ihn, eben noch schwebend, abstürzen lassen in diese furchtbare Depression, die das eh schon Trostlose im nüchternen Zustand noch schrecklicher macht, ihm etwas Monströses verleiht, das er einfach nicht aushält, und so trinkt er während der Zugfahrt eine Dose nach der anderen, geht zwischendurch pinkeln, kichert, wenn sein Strahl im Geschuckel danebentrifft, taumelt zurück in sein Abteil, das bis Düsseldorf meistens leer ist, sich dort aber schlagartig füllt: Typen mit Aktenkoffer und Schlips, junge gepflegte Frauen, die etwas Einschüchterndes für ihn haben, ja, er fühlt sich plötzlich ganz schäbig, hat Angst, sie könnten seine Fahne riechen, und schon rümpft eine die Nase, während sie in ihr Handy spricht und ihn anstarrt, und er senkt schnell die Augen, holt die nächste Dose, die letzte, aus seiner Tasche, trinkt und denkt: blöde Tussi, denkt es gleichsam mit bösem Blick, mit dem er sie nun seinerseits anstarrt, und sie, eben noch arrogant, senkt plötzlich selber die Augen, tut so, als müßte sie ihr Handy verstauen, aber er hat

    17sie durchschaut, spürt ihre Angst, und er grinst vor sich hin, wiederholt im Geiste blöde Tussi und trinkt, sieht hinaus in die Abenddämmerung - blöde Tussi, und er meint damit jetzt seine Mutter, von der er sich, nicht nur räumlich, immer weiter entfernt, froh, nein, eher erleichtert, und auch das stimmt nicht ganz, denn die Erleichterung ist geliehen von der Wirkung des Alkohols, der ihn aufputscht mit fragwürdigem Behagen, das wie durch ein Leck aus ihm rausrinnt, so daß er immerzu nachkippen muß, und der Pißdruck nimmt schon wieder zu.

    Köln Hauptbahnhof, und er läßt sich mit dem Menschenstrom hinausdrücken auf den Bahnsteig, die Treppe hinab, durch die Gänge, viel zu eng, weil hier überall Absperrungen sind, denn der Bahnhof ist eine einzige Baustelle, wird von Grund auf entkernt und erneuert, in ein modernes Einkaufszentrum umfunktioniert, mit zahllosen Futterstellen, die schon jetzt, im Bauschutt und Lärm, aufblitzen mit ihren poppig bunten Neonreklamen: überall Trauben von essenden, würsteverschlingenden Menschen, den Koffer bei Fuß und das Gesicht in Papierservietten getaucht, aus denen sie Brocken reißen mit ihren gebleckten Zähnen, und er geht verekelt an Senf-, Fleisch- und Biergerüchen vorbei, in die Eingangshalle, die nicht mehr wiederzuerkennen ist, will schon runter zur U-Bahn, stoppt aber, verursacht einen kleinen Menschenauflauf, bekommt die Kante eines Koffers in die Kniekehle, knickt ein und setzt zu einem Fluch an - aber da ist keiner mehr, den er anschnauzen könnte, und er dreht sich um die eigene Achse, um sich erst mal zu orientieren. Überall Wachpersonal, Männer mit violetten Käppis, Schlagstöcken, Handschellen und Walkie-talkies am Gürtel, Schäferhunden oder Dobermännern mit Maulkorb kurzgehalten an der Leine, auch grüne Männchen vom Bundesgrenzschutz , und er spürt wieder den Riesenhaß auf diese Schlägertruppenpräsenz, die den Staat und die Bahn-AG ein Vermögen kostet, scheinbar nur dazu da, Penner draußen zu halten oder Typen wie ihn einzuschüchtern: wehe, er macht eine falsche 18Bewegung - wie soll hier, am bestbewachten Platz der Stadt, überhaupt noch was laufen? Vorbei die Zeiten, als wenigstens noch ein Blick oder Kopfnicken möglich war und man unbemerkt Richtung Ausgang schlendern konnte, wo es immer nach Pisse stank, ein Geruch, der dazugehörte, unangenehm, doch irgendwie geil. Jetzt wird hier alles auf Hochglanz poliert, und Frauen in Kitteln latschen durch die Gänge mit ihren Wischern, fahrbaren Eimern und Kübeln, um jede Kippe gleich verschwinden zu lassen. Vorbei die miefende Schäbigkeit mit dem eisig pfeifenden Wind am Hinterausgang, wo die Jungs frierend auf der Stelle tänzelten und nach einer Mark oder einer Zigarette fragten, worauf er, obwohl Nichtraucher, seine Camels aus der Brusttasche zog, sein Feuerzeug aufflammen ließ, und dieser kurze Moment, da der Typ sich herabbeugte, die Hände schützend ums Feuer gelegt, war der spannendste, der sein Herz kurz zum Stillstand brachte, und dann, nach einem nervösen Luftschnappen, der Sprung ins Wasser: Augenkontakt, knappe Frage oder nur Zucken eines Augenlids, ja oder nein, worauf die Spannung sich entlud im Sichwegdrehen oder Verhandeln - wo findet das heute bloß statt? Und er zieht noch eine Runde in diesem Konsumpalast, wo nicht mal mehr Zeugen Jehovas stehen, den Prospekt in Brusthöhe und mit brennendem Blick in den Pulk der Sünder starrend, nein, Mist, hier kann man sich vollfressen, und das war’s dann, und willste mal pinkeln, zahlste ne Mark, fürs Kacken sogar zwei, und er muß dringend, läuft los Richtung U-Bahn, aber halt! Steht da nicht einer und guckt? Ja, wirklich:

    lässig lehnt er am Eingang, wo er den besten Überblick hat, und man könnte meinen, er wartet auf einen, mit dem er sich dort verabredet hat, und Luz nähert sich ihm, mit geschulterter Tasche, die ihn wie einen Durchschnittsreisenden aussehen läßt, und der Junge schaut auch nur kurz her, dann wieder weg, zu einem Fetten im Lodenmantel, der da flaniert, als warte er auf seine Zugverbindung, und dann Richtung Stricher schlendert, wobei er höflich einen Wachtrupp mit Köter 19vorbeiläßt, ehe er zielstrebig auf die Glastür zuhält, wo der Junge sich strafft - Mann, ist der geil, und Luz, den es zwickt und zwackt in der Blase, steigt frustriert die Stufen hinab.

    Anderntags steigt er Stufen hinauf, klingelt, ehe er aufschließt, um sie nicht zu erschrecken, ruft: „Hallo, Lottchen!, und betritt hinter der Küche ihr Zimmer, wo alles dunkel ist. „Wie geht’s? fragt er, macht Licht und sieht sie schief und verrutscht im Bett liegen, die Beine überkreuz, blinzelnd, benommen um sich tastend, eine auf den Rücken gedrehte Schildkröte, während sie, noch Schlaf in der Stimme, murmelt, ihr gehe es gut, nur das rechte Bein tue weh, eine Standardantwort, worauf auch er mit einer Floskel antwortet: „Das ist aber schlimm!, während er seine Jacke auszieht und die Uhrzeit in seinen Taschencomputer, der ihn zum gläsernen Menschen macht, eingibt, um dann gleich ans Werk zu gehen. Ob sie Hunger habe - ja, er solle ihr zwei Schnitten machen, eine mit Wurst und eine mit Honig. Okay, aber vorher wolle er sie untenrum frisch machen, und er geht in die Küche, zieht sich Gummihandschuhe über, reißt eine Mülltüte von der Rolle, kommt zurück, fordert sie auf, sich wieder hinzulegen, dann könne er besser arbeiten, und er legt sich frische Pampers zurecht, schlägt ihre Decke zurück: Scheiße, alles verschmiert! Er deckt sie wieder zu, sagt, er müsse Wasser heiß machen, saust hinaus in die Küche, füllt den Wasserkocher und stellt ihn an, wütend, daß ihm auch das jetzt noch passieren muß, nach dem turbulenten Arbeitstag, wo eh schon vieles schief gelaufen ist und er eine Stunde Verspätung hat, schmiert in fliegender Eile die Schnitten (welcher Idiot hat die Butter mal wieder in den Kühlschrank getan: steinhart ist sie, und das beschissene Toastbrot zerbröckelt ihm unter dem Messer), und Lottchen ruft von nebenan, er solle mal gucken, ob alle Fenster zu sind, auch im Schlafzimmer, denn da wäre mal wieder ein Mann vor ihrem Fenster erschienen und hätte fiese Bemerkungen gemacht, und er fragt zurück, wie er denn die Hauswand hochgekom20men sei, und sie, das wisse sie nicht, dieser Dreckskerl, der verdammte. Er kommt mit der Waschschüssel zurück, und sie protestiert: „Was, jetzt waschen? Nee!, doch er klappt ihre Decke zurück, und alles ist braun, die Hose, der Pullover. Er fragt, wo sie die Kacke versteckt habe, worauf sie schweigt, und er zieht ihr die Jogginghose aus: gar nicht einfach bei ihren steifen, verkrümmten Beinen, die bei jeder Bewegung weh tun, und auch die grüne Pampers ist versaut, als hätte sie ihre Köttel mit der Hand herausgebaggert und irgendwo verschwinden lassen (das erinnert ihn an seine eigene Kindheit, als er mit fünf/sechs vierzehn Monate lang im Gips, von der Hüfte an abwärts, im Bett lag und einmal, in panischer Angst vor dem Fräulein, die unwillkürlich aus ihm herausgebrochene Wurst ins Jäckchen von einem Schmusetier wickelte und unterm Kopfkissen versteckte). „Bitte die Beine ganz auseinander", sagt er möglichst sanft (werd jetzt bloß nicht aggressiv, ruft er sich selber zur Ordnung), und er schäumt ihre weichen, noch üppigen, beinahe mädchenhaften Oberschenkel ein, von oben bis unten verkrustet, und denkt an einen vierzehnjährigen Jungen (Volker!), der ihm mal gesagt hat, er könne auch Omas vögeln:

    Handtuch über die olle Visage und rein ins Vergnügen - Loch sei Loch, und Luz hatte erwidert: „Ich hab auch eins, und Volker zeigte ihm den Vogel und erklärte empört: „Du bist doch kein Weib!, worauf er es aufgab, den dämlichen Bengel herumkriegen zu wollen. Lottchen räkelt sich unter seinen die Krusten aufweichenden Händen, und ihre zarte, unbehaarte Muschi, die sie Katuschka nennt, kommt schließlich zum Vorschein, und Lottchen stöhnt wohlig, das Wasser sei so schön warm, und er tut so, als müsse er da noch gründlich nachwaschen, streichelt sie quasi durch Handschuh und Lappen hindurch, nicht weil ihn das anmacht, sondern um ihr einen Gefallen zu tun, spürt er doch, wie sie’s genießt, die vereinsamte Alte, und ihre Katuschka strahlt ihm rosarot aus den bleichen Speckpolstern entgegen, und er denkt an den Jungen:

    der hätte da ohne Zögern sein Ding reingesteckt, und er spürt 21so etwas wie Eifersucht - „Autsch, nicht so doll! ruft Lottchen und klappt die Schenkel zusammen, und er dreht sie auf die Seite und würgt: mein Gott, wie das stinkt! Nachdem er sie frisch gepampert und die braunen Brocken eingesammelt hat, spürt er stechende Schmerzen im Rücken und streckt sich, während er weiterhin zu ihren Anekdoten nickt, ewig dieselben: daß sie ihrer Mutter siebzehn Schürzen gestickt habe, ihr Bruder vierzig Jahre lang im Karnevalsverein gewesen sei, und bei seiner Beerdigung hätte die Blaskapelle Ich mööch zu Fooß no Kölle jon gespielt, und alle hätten geweint - erzähl das deinem Teppich, denkt er und verschnürt die Plastiktüte, wäscht ihr noch die Hände und bekommt ihren fauligen Atem ab: herrje, ist sie abstoßend, ordinär und verblödet, aber gleichzeitig lieb und arm dran. Er bemüht sich, freundlich zu lächeln, ihr das Gefühl zu geben, daß sie sein Liebling ist, nicht weil sie ihm ab und zu einen Fünfziger zusteckt, sondern aus allgemeiner mitmenschlicher Sympathie, sozusagen, und wieder fragt sie, ob er verheiratet sei, was er verneint, worauf sie ihm vorschlägt, sie doch mal privat zu besuchen, ihr Mann sei vor über zwanzig Jahren gestorben, und seitdem sei sie völlig allein, und er sagt, er hätte leider sehr viel zu tun - sie bezahle ihn auch, ruft sie, und es fehlt nicht viel, daß sie ihm einen Heiratsantrag gemacht hätte, doch plötzlich hat er es eilig, verabschiedet sich und verspricht dreimal, die Tür abzuschließen, was er aber nicht tut, wegen der Feuerwehr, falls die mal wieder rein muß, weil Lottchen aufs Klo hat gehen wollen und unterwegs gestürzt ist: „Scheißbeine! brummt sie dann, schlägt wütend darauf und jammert gleichzeitig um Hilfe.

    Nachdem er endlich einen Parkplatz gefunden und den Kilometerstand aufgeschrieben hat, steigt er gerädert aus dem Auto: Mensch, ist er kaputt - wie soll er den Job bloß noch durchstehen, wenn er mal um zehn Jahre älter und morscher ist? Nicht dran denken, freu dich lieber auf deinen Feierabend, 22obwohl ja gleich schon die Geisterstunde beginnt, denkt er und kommt am Kiosk vorbei, der immer noch hellerleuchtet ist, und er geht in voller Dienstkleidung hinein und deckt sich mit Bier ein. Oben, in seiner Wohnung, schlägt ihm der Mief wie ein Pesthauch entgegen, und er möchte gleich wieder flüchten, im Tverstedt vor Anker gehen, dieser Eckkneipe an der Neusser Straße, die bis ein-zwei Uhr geöffnet hat, eine Art Szenenkneipe in Weidenpesch, wo sich meist nur Jungvolk tummelt. Nein, bleib hier, alter Knabe, sagt er sich und denkt darüber nach, wie relativ alles ist: fürs Lottchen ist er mit seinen vierzig ein junger Spund, und sie würde ihn mit Kußhand nehmen, doch für die Lehrlinge im Tverstedt ist er wohl eher eine Art Opa.

    Fenster auf, Bierpulle auf: die Krone fliegt durch die Gegend, und gucken, was noch im Kühlschrank ist - leer, so eine Scheiße, und er reißt eine Tüte Salznüsse auf, kippt sie in sich hinein, zerkaut sie zu einem Matsch, spült ihn mit Bier hinunter, betrachtet die Staubflusen, die im Windzug übers Linoleum huschen wie Mäuse, doch so weit, daß die Viecher hier wirklich auftauchen, darf er es nicht kommen lassen, und er nimmt sich für morgen ein Großreinemachen vor, weiß aber, daß er dafür die Kraft nicht aufbringen wird. Er setzt sich im Nebenzimmer in den Fernsehsessel, schaltet sich durch die Programme, bleibt bei nackten Busen und Telefonnummern hängen: „Nullhundertneunzig ...", wird ihm ins Ohr gesungen, schmeichelnd, und dann kommt die Nummer für private Bedürfnisse, nur sind seine hier nicht vorgesehen, nein, Terese Orlowski und Beate Uhse haben Typen wie ihn glatt vergessen - stimmt nicht, sie würden ihn schon ganz gerne bedienen, gehört er doch zu einer Klientel, mit der sich ein zusätzlicher Reibach machen ließe, wäre da nicht der Haken mit der Kripo, und so gibt man sich sittsam, verabscheut, wie alle, die Pädos und behält die Lizenz. Nullhundertneunzig ... und Nullen in Form dicker Titten knallen ins Bild, auch Nullen als runde Kußmäuler, die auf die Kamera zuschießen, sogar Arschlöcher wie Nullen, ja, da wackeln die knackigen Weiber auf allen vieren mit ihren 23Kisten, und nur ein Fädchen vom Slip zieht sich zwischen die drallen Backen hindurch, die sich im Kamerazoom öffnen wie Fotzen und sich runden zu Nullen, auwei, und er denkt an Lottchens Katuschka und an den Hintern von Volker und trinkt die Pulle auf ex, holt sich von nebenan eine neue, zieht auch gleich ein Magazin aus dem Versteck hinterm Geschirrschrank hervor, einen Porno mit Jungs, auf dessen Besitz heute Geldbuße und Gefängnis steht, was die Sache nur noch pikanter macht: immer schon hat das Verbotene einen besonderen Reiz auf ihn ausgeübt, und während da vorne die Titten als Nullen schaukeln (mein Gott, wie kann man auf solche silikongefüllte Ballons abfahren?), trinkt er und blättert - und wichst.

    24Damals im Heim Wichsen tat er schon, als bei ihm noch gar nichts kam, damals im Heim - ach, waren das Zeiten! Er hat wieder den Schlafsaal vor Augen, der in drei sogenannte Zellen mit jeweils sechs Betten durch halbhohe Bretter unterteilt und vorne mit einer Wand aus Schränken zum Flur hin getrennt war. Über die Bretterwände flogen vor dem Zubettgehen die Kissen von einer Zelle in die andere, und sie wurden gestürmt wie die Mauern einer feindlichen Burg: Kriegsschreie ausstoßende Jungs im Schlafanzug schwangen sich hinüber, landeten krachend im Bett auf der Gegenseite, verteilten Hiebe und Tritte, wurden selber mit Püffen eingedeckt und klommen wieder die Wand hoch, um sich auf die andere Seite zu retten. Dabei verlor manch einer die Schlafanzughose, die wie eine Trophäe herumgeschwenkt und erst, wenn die Nonne das Schlachtfeld betrat, über die Wand geworfen wurde, allerdings mit verknoteten Beinen, so daß der Besitzer mit bloßem Hintern dasaß und die Knoten aufknüpfte, während die Nonne, ein Racheengel in Schwarz, herbeirauschte und, Verruchtes witternd, den Halbnackten am Ohr hinaus zum Waschraum abführte, wo beeindruckendes Klatschen und Quieken wie vom Schwein auf der Schlachtbank den anderen zum Exempel diente. Anschließend das Abendgebet: die ganze Jungenschaft stand im Halbkreis vor dem Kruzifix vorne im Flur, und mancher verdrehte die Augen nach oben, nicht weil er dort Engel oder den Sandmann vermutete, sondern weil er genervt war von den endlosen Litaneien. Luz aber, zehn oder elf und schon spitz wie Nachbars Lumpi, linste nach unten, auf die Hosen ringsum: angesichts der Tatsache, daß die Jungen nur einmal im Monat Bettwäsche und Schlafanzug wechselten und sich im Waschraum nicht waschen konnten, wo und wie sie wollten, auch angesichts solcher Malheurs wie Pollutionen oder Harndrang in stockdunkler Nacht, wo es unmöglich war, die Toilette rechtzeitig aufzusu25chen, kann man sich denken, daß neben dem Gezipfel, das eventuell zu sehen war, ein Ruch von da unten ausging - überhaupt stank es im Schlafsaal wie im Schweinestall, und er wünschte sich, wie Old Shatterhand und Winnetou unter freiem Himmel zu pennen. Apropos: damals liefen diese KarlMay-Filme im Kino. Die Jungen im Heim hatten sie zwar nicht gesehen, aber es gab Bildchen davon, ganze Serien, die jedes Detail festhielten, und diese im Zusammenhang mit den Schallplatten, die sie sich vorspielten, gaben ihnen eine genaue Vorstellung von den Abenteuern in der Prärie, ja, ihre Phantasie wurde dadurch, daß sie sich die Bilder und Situationen zu einem Film zusammensetzen mußten, noch beflügelt, besonders die von Luz: er schmückte die Handlung in Tagträumen aus, aber auch im Nachstellen der Szenen mit seinen Kameraden. So spielten sie immer wieder, wie Rattler auf Winnetou anlegte und Klekih-petra sich als Kugelfang dazwischenwarf.

    Ein Junge stieg auf den Schrank oder die Zwischenwand (dabei mußte er sich an der Zimmerdecke festhalten) und brüllte:

    „Hey, ich bin Klekih-petra - schießt mich mal ab! Die Schüsse krachten, und Klekih-petra da oben rief: „Winnetou, tschabba tschabba, ich schütze dich!, worauf er, vom Kugelhagel halb umgedreht, mit der Rechten zur Brust fuhr, kurz hin- und hertaumelte, und dann fiel er („Uff!") der Länge nach und mit einem Krach in das Bett unter sich - affengeil, noch einmal, und wer als erster oben war, wurde von den anderen abgeknallt, bis eine Kette im Bettrahmen unter der Schaumgummimatratze riß: Mist, das gab Ärger!

    Wieder standen sie vor dem Kruzifix, und Luz linste diesmal dem Schmerzensmann unter den Lendenschurz, wofür er sich einen Satz heißer Ohren von der Nonne einfing. Wer nicht richtig die Hände faltete und herumhampelte oder gar in der Nase bohrte, kriegte ebenfalls eine gescheuert. Alle bereit? Ihre Argusaugen machten die Runde im Halbkreis der Jungs. „Im Namen des ... „... Schwanzes, der Fotze und der heiligen Tit26ten, murmelte Ludwig neben Luz, und Gustav, der das auch aufgeschnappt hatte, kriegte ein Rohr, Luz sah es aus den Augenwinkeln, und etwas Weißes schob sich aus Gustavs Kuhstall hervor: er hatte also die Unterhose anbehalten. Das war zwar verboten, aber Luz wollte es demnächst ebenso machen, denn dauernd bimmelte sein Pimmel, das Glöckchen, aus seinem Schlitz heraus, und die anderen zogen ihn damit auf. Gustav schlug schnell die Hände nach unten, um seinen ausbrechenden Hengst (er nannte ihn so, stolz auf die beachtliche Größe, die er den anderen gern durch den Hosenstoff demonstrierte) im Zaum zu halten, während bei Luz, Himmel!, sich auch etwas regte, allerdings ungeschützt, und er zerrte hastig am Hosenbund, was die Nonne aufmerken ließ. Ihre Augen, Habichte in der Luft, glitten hierhin und dorthin, verkrallten sich im Weißen von Gustav und verengten sich drohend, was soviel hieß wie: „Warte, Bürschchen, wir sprechen uns noch!" Sie redete vom Bösen in der Welt, das sich angeblich im Kommunismus offenbarte, und war fest davon überzeugt, daß es für immer verbannt werden könnte, wenn sie alle zusammen einmal, nur einmal!, wirklich inbrünstig zum lieben Gott beten würden, und sie sah resigniert in die versteinerten Knabengesichter, während Luz schlagartig klar war, warum das Böse niemals verschwinden würde: es gab einfach keine achtzehn Jungen, die

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