Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der Coach
Der Coach
Der Coach
eBook297 Seiten4 Stunden

Der Coach

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Leo Kafka, 58, ist mit seinem Leben zufrieden: er liebt seine Arbeit als Coach und Martha, seine Lebensgefährtin, die nicht mehr Nähe sucht, als Leo zu geben bereit ist. Nach Jahren voller Scheiternsszenarien und kleiner Erfolge fühlt er sich wohl in der komfortablen Altbauwohnung in Berlin-Mitte. Auf seine wenigen Freunde kann er sich verlassen.
Nach einem fulminanten Abschied von Martha, die auf Reisen geht, freut Leo sich auf die wöchentliche Pokerrunde mit seinen besten Freunden, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Professor Thomas Borowski, mit dem er die Begeisterung für Neurowissenschaften teilt; Harry Kamphausen, der Leos Luxusauto am Laufen hält; Dr. Ferdinand Mahler, der Archivar mit einer Vorliebe für gedrechselte Sätze; Titus Vogel, Leos Qi Gong Lehrer und jüngstes Mitglied in der Runde.
Aus dem entspannten Abend wird nichts. Leos Gedanken sind bei Petra Bastian, seiner derzeit schwierigsten und zugleich faszinierendsten Klientin. Seit Wochen fragt er sich, welches Ziel diese Frau wirklich verfolgt und welche Rolle er dabei spielt. Statt für Klarheit zu sorgen genießt Leo die Treffen mit der attraktiven Frau. Dieses widersprüchliche Verhalten belastet ihn zunehmend. Um sich auf die entscheidende nächste Sitzung vorzubereiten, sucht Leo Rat bei der Psychotherapeutin Anke Forster, einer Freundin aus Studienzeiten.
Als Petra Bastian zu einem vereinbarten Termin nicht erscheint, ist es mit Leos Gelassenheit vorbei. Von Selbstzweifeln getrieben wegen seines unprofessionellen Verhaltens beginnt er, seine Klientin zu suchen. Nach Tagen der Ungewissheit die Nachricht: Petra Bastian ist tot. Leo fühlt sich schuldig und er fürchtet, dass sein exzellenter Ruf als Coach auf dem Spiel steht.
Im Zuge der Ermittlungen wegen der ungeklärten Todesursache – auch ein Suizid wird in Betracht gezogen – begegnet Leo dem Ehemann seiner Klientin. Harald Bastian ist überzeugt, dass Leo zumindest eine Teilschuld an Petras Tod trifft.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum8. Dez. 2012
ISBN9783844241440
Der Coach

Ähnlich wie Der Coach

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Der Coach

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der Coach - Eva Pflüger

    Eva Pflüger

    DER COACH

    Roman

    epubli

    Impressum

    Der Coach

    Eva Pflüger

    Published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    Copyright © 2012 Eva Pflüger

    Coverfoto: Copyright © istockfoto, helenecanada

    ISBN 978-3-8442-4144-0

    Prolog

    Berlin-Kreuzberg, Sommer 1978

    Im Licht einer Fotolampe leuchten die Blumen auf dem Sommerkleid und die tizianroten Haare um die Wette. Fasziniert von den Farben vor dem weißen Leder des Barocksessels, der in den schäbigen Raum ebenso wenig zu gehören scheint wie das Mädchen, bleibt er im Türrahmen stehen.

    Sie löst den Kopf von der Rückenlehne des monströsen Möbels. Ihre Augen schicken ihm eine Einladung. Die Locken erinnern ihn an eine Darstellung der Venus auf einem Ausstellungsplakat, das seine Eltern als Geschenk von einer ihrer zahllosen Bildungsreisen mitgebracht hatten, was wie er fand ein bemerkenswerter Vorgang gewesen war. Für gewöhnlich verschenkten seine Eltern nur nützliche Dinge. Was sie veranlasst hatte, dieses Motiv, die Glorifizierung der erotischen Liebe, für ihn zu wählen, war ihm ein völliges Rätsel. Das Poster hatte ihm gefallen und er platzierte es in seiner Studentenbude zwischen Marx und Mao.

    Die rothaarige Schönheit passt ganz und gar nicht in seine Pläne. Die Party ist ihm gleichgültig, die Gastgeber kennt er kaum. Er hofft, hier im 3.Stock eines Altbaus in Berlin-Kreuzberg einen seiner wenigen Freunde zu treffen, von dem er sich verabschieden will. Am nächsten Morgen wird er Berlin verlassen, die Stadt, in der er geboren ist. Er ist ein unglückliches Kind gewesen und ein schlechter Schüler. Auf sein Einserexamen ist er stolz; nun, am Ende seiner Studienzeit, verspürt er nicht den geringsten Ehrgeiz sich übergangslos den Zwängen eines konventionellen bürgerlichen Lebens auszusetzen. Griechenland ist seit einer Reise in der 10. Klasse für ihn der Inbegriff von Freiheit. Dorthin will er zurückkehren. Dann wird er weiter sehen, sich treiben lassen.

    Er reißt sich los von dem verheißungsvollen Lächeln, den neugierigen Augen, die ihn vermessen haben: die hochgewachsene Gestalt, dunkelbraune schulterlange Haare, warme Teddyaugen, die dem fast ständig präsenten ironischen Lächeln die Spitze nehmen. Ohne Eile bewegt er sich durch das Chaos, eingehüllt in süßliche Shitwolken. Vorbei an einer Ansammlung von Matratzen ohne Bezüge, Schlafsäcken und Kissen, die sich vor den Wänden des Zimmers aneinander reihen. Vorbei an Jaffakisten, auf denen Räucherstäbchen langsam ihrem Ende entgegen glühen und tropfende Kerzen den Raum in Dämmerlicht tauchen. Ein paar Joints, ein paar Bier, den Freund finden, mit dem er hier verabredet ist, das ist sein Programm für die Nacht. Rote Haare, lange nackte Beine und ein einladender Blick passen da nicht rein. Heute nicht. Der Versuch, sich durch das Gedränge einen Weg in den nächsten überfüllten Raum zu bahnen, lässt ihn an einen seiner wiederkehrenden Albträume denken, in denen er, mit Armen und Beinen rudernd, verzweifelt versucht aus einem gigantischen Pudding zu entkommen.

    Die Partygäste scheinen mit offenen Augen zu träumen. Sie lächeln, wirken miteinander verbunden und zugleich seltsam bezugslos, jeder in seinem eigenen Nirwana schwebend. Was sie reden ist für niemanden außer für sie selbst hörbar. Die Klänge von Led Zeppelin sind der Stoff, der sie zusammen hält. Auf seinem Weg zum nächsten Raum kickt er ein paar leere Flaschen zur Seite. Sein Fuß verfängt sich in einem Kabel, das dorthin führt wo es heller ist, zu einem Telefonapparat in dem endlos langen Flur. Der augenblickliche Benutzer hat den Hörer tief in seiner Mähne versenkt und scheint bei dem Versuch gegen die Klangtapete anzuschreien ebenso fest mit der Wand verschraubt zu sein wie der schwarze Apparat.

    Er blickt sich um, sucht den Weg zur Küche und dem Biervorrat, schiebt sich weiter, entlang der blutroten Flurwände mit ihrer bunten Mischung aus Portraits angesagter Revolutionäre, Rockikonen und Anti-AKW-Postern, denen er keinen Blick gönnt. Überall die gleichen Bilder. In seinem Rücken ein Kinderlachen. Zum zweiten Mal an diesem Abend bleibt er irritiert stehen, dreht sich um. Die Rothaarige. Sie hält ihm eine perfekt gedrehte Tüte hin, die andere Hand streicht eine Korkenzieherlocke aus dem Gesicht, in der einzigen Absicht, sie wieder dorthin springen zu lassen. Das funktioniert. Ihre Augen laden ihn ein, sich der widerspenstigen Locke anzunehmen. Das funktioniert nicht. Er nimmt den Joint und steuert mit einem herablassenden Lächeln die Küche an, vorbei an der geöffneten Badezimmertür. Sein Blick fällt auf die Wanne, in der zwei Typen sitzen und trommeln. Das unvermeidliche Zappa-Poster hängt in dieser WG in der Küche, zwischen zwei Blechregalen mit dem von Müttern, Tanten, Großmüttern gespendeten Geschirr. Auf der Höhe von Zappas Hintern stehen vier Nutellagläser mit Aufklebern: Nico Susa Walter Hannes. Irgendjemand hat sich die Mühe gemacht, Zappas Revoluzzermiene durch das asketische Intellektuellengesicht des amtierenden Stellvertreters Christi auf Erden, Papst Paul VI, zu ersetzen. Der Rest ist Original Zappa auf dem Klo. Gegenüber der Esstisch, auf den ein Partygast sein müdes Haupt neben einen halb aufgegessenen Schokoladenkuchen gebettet hat. An der Wand darüber Bob Dylans Warnung in orange leuchtenden Pinselstrichen: THEY’LL STONE YA WHEN YOU’RE AT THE BREAKFAST TABLE! Neben der Tür zum Balkon endlich ein Stapel Bierkästen. Er öffnet eine Flasche, wirft einen Blick auf den Balkon. Ein Skelett mit Rokokoperücke und einem Dildo zwischen den gebleckten Zähnen bewacht dort den Sperrmüll.

    Während er das Stillleben betrachtet, leert er seine Flasche. Er nimmt sich noch ein Bier, will die Küche verlassen, um weiter nach seinem Freund zu suchen. Im Türrahmen wartet die Rote und spielt mit ihren Locken. Wieder dieses verheißungsvolle Lächeln. An einem anderen Tag würde er das Angebot annehmen. Aber er hat noch nicht einmal seine Tasche gepackt. Sie bewegt sich nicht von der Stelle, als er versucht sie nicht zu berühren. Es wird eng. Den Duft ihrer Haut, die Hitze und ihr Lachen nimmt er mit.

    Zurück in dem Flurschlauch, in dem eine Katze beschnuppert, was sie gerade ausgekotzt hat, ziehen psychedelische Klänge ihn in einen Raum gegenüber der Küche. In-A-Gadda-Da-Vida. Der 68er Song von Iron Butterfly ist sein Lieblingsstück, sein LSD-Ersatz. Eine knallrote Bogenlampe beleuchtet die abgewohnte Sauberkeit und Ordnung dieses Zimmers, in das die Gitarren- und Bass-Riffs ihn locken. Im grellbunten aufblasbaren Sessel sitzt ein Replikat von Farrah Facett. Davor kniet - endlich - der Freund in einer seiner selbstgeschneiderten Pluderhosen und begleitet mit seinen Händen das einsetzende Schlagzeugsolo auf den nackten Schenkeln der Schönen. Der Abschied vom Freund fällt kurz aus. Er überreicht ihm einen Schlüssel zu seinem WG-Zimmer und erinnert mit einem Blick auf das Farrah-Double daran, dass er den Raum heute selbst noch bewohnt.

    Es ist zwei Uhr in der Nacht, als er das Fest verlässt. Im Flur geht er wortlos an der rothaarigen Venus vorbei. Die Tür fällt hinter ihm zu. Er ist erleichtert, das Spiel nicht mitgespielt zu haben. Auf der Straße umfängt ihn die milchige Sommerluft. Zuhause wird er noch seine persönlichen Sachen verpacken, bevor der Freund das Zimmer während der nächsten Monate übernimmt. Die Werke von Marx und Engels gilt es unbedingt vor unerwünschten Zugriffen zu bewahren. Den Band 23 „Das Kapital" besitzt er zweimal, der erste Band zeugt mit den zerfledderten, von unzähligen Notizen bedeckten Seiten von seiner jahrelangen exzessiven Beschäftigung mit den Denkwelten der Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft. Kopfschüttelnd erinnert er sich daran, dass er allen Ernstes einen der Bände in seine Reisetasche stecken wollte. Es ist in der Tat Zeit endlich alles hinter sich zu lassen, denkt er. Die Examenszeit war wie Einzelhaft mit gelegentlichem Freigang für Bibliotheks- und Institutsbesuche. Das Leben und die Ereignisse der letzten Monate sind an ihm vorbeigerauscht: Der erste Deutsche fliegt ins All; Breschnew droht mit der Neutronenbombe; in einem Großversuch wird die Pille für den Mann getestet; die Drogenkarriere der Christiane F. erscheint im Stern als Fortsetzungsserie.

    Die Straße ist menschenleer. Sein Blick fällt auf den klapprigen 2CV, der nur wenige Meter vom Haus entfernt steht, das er gerade verlassen hat. Er hat vergessen das Stoffdach zu schließen, zieht es nun zu und steigt ein. Einen Augenblick lang lehnt er sich zurück. Er gähnt, die Biere und Joints haben ihn sediert. Da wird die Beifahrertür aufgerissen, ein langes nacktes Bein schiebt sich in den Wagen, eine Tasche fliegt hinterher. Die Göttin der Liebe ist aus dem Tizianplakat herab gestiegen, wischt den Müll vom Sitz und lässt sich hinein fallen. Er will etwas sagen. Mit diesem Kinderlachen, dass ihn schon auf der Party irritiert hat, kommt sie seinem Protest zuvor. Sie wendet sich ihm zu, beginnt ohne jede Hast und in der offensichtlichen Gewissheit nicht gestoppt zu werden, nach und nach alle Verschlüsse seiner Kleidung zu öffnen, unterbrochen von warmen hin gehauchten Küssen. Sie spricht kein einziges Wort. Sein Kopf bastelt an der Aufforderung sie möge verschwinden. Sein Körper ist längst woanders unterwegs. „Nicht bewegen!" ist das einzige was sie sagt, während sie seine Hand nimmt und sie langsam abwärts führt, von ihrer Wange zum Hals, über den glatten Stoff ihres Kleides bis zu den nackten Beinen; eine Geste, sinnlich und verletzlich zugleich. Das Kleid ist so dünn. Er hat das Gefühl verrückt zu werden vor Verlangen. Es ist heiß in dem Auto.

    Er hätte das verdammte Dach offen lassen sollen.

    Unter dem Kleid ist nur ihre Haut. Sonst nichts. Der Augenblick, in dem er aufgibt, sie zu sich zieht. Das Gefühl, in unendlicher Langsamkeit in einem warmen See zu versinken. Wieder aufzutauchen, um in atemberaubendem Tempo und schwindelnden Höhen die Erde zu umrunden. Er vergräbt sein Gesicht in ihren Haaren. Hofft, dass sie seine Schreie einfangen.

    Gut, dass er das Dach geschlossen hat.

    Er könne schon mal starten, teilt sie ihm mit, während sie ihr Kleid überwirft. Fragt, ob er sie ein Stück mitnehmen könne. Wo sie wohne, will er wissen. Spandau, die entgegen gesetzte Richtung. Er ist schon viel zu spät dran, wollte längst zu Hause sein. Vielleicht ein anderes Mal, lügt er. Er weiß nicht einmal ihren Namen, fragt auch nicht. Dass er in wenigen Stunden Berlin für lange Zeit verlassen wird, lässt sie aufhorchen. Ein Anflug von Zorn verändert ihr Gesicht nur kurz. Sie schaut ihn an, nimmt die Tasche vom Boden, öffnet die Tür, dreht sich um, als sie draußen steht. „Du warst ziemlich gut, Arschloch!" Ob sie noch etwas sagt, kann er nicht hören, sie knallt die Tür zu.

    Er sitzt hinter dem Steuer, will sich sammeln, bevor er losfährt. Das ist definitiv ein sensationeller Einstieg in sein neues Leben gewesen. Er blickt in den Rückspiegel. Im Lichtkegel einer Straßenlaterne leuchten die roten Haare. Er startet den Motor und lässt die Ente langsam anrollen. Auf dem Bürgersteig kommt ihm ein Paar entgegen, das sich aneinander festhält und lachend in einem Hauseingang verschwindet. Bevor er abbiegt, schaut er noch einmal zurück. Alles ist ruhig. Sie winkt ihm zu, während sie rückwärts geht. Sein latent schlechtes Gewissen weicht einem federleichten Glücksgefühl.

    Die Schatten, die sich weit hinter ihr am Ende der Straße aus dem diffusen Licht eines spärlich beleuchteten Schaufensters lösen, nimmt er nicht wahr.

    Teil I

    Berlin-Mitte, April 2011

    Kapitel 1

    Der Gedanke einen Menschen getötet zu haben, hat lange Zeit mein Leben bestimmt. Es war mein Zwillingsbruder, den ich umgebracht haben soll, Tatort der Uterus meiner Mutter. Meine Kindheit und Jugend habe ich in der Überzeugung gelebt, dass es besser gewesen wäre, wenn ich mich gleich nach der Geburt wieder von der Welt verabschiedet hätte.

    Meine Eltern legten weit mehr Interesse füreinander an den Tag als für mich, das ungebetene Ergebnis ihrer symbiotischen Beziehung. Um es auf den Punkt zu bringen: nachdem ich nun mal da war, hat man mich groß gezogen.

    Meine Mutter hatte nicht den Hauch einer Ahnung, welche Schuld sie ihrem Sohn in den Kinderrucksack packte, als sie auf Familienfesten oder im Kreis der Freunde mit Begeisterung die immer gleiche Geschichte erzählte. Ich sei so wild entschlossen gewesen, als erster auf die Welt zu kommen, dass ich meinen hinter mir wartenden Bruder tot getrampelt haben müsse. Genau so drückte sie sich aus, pflegte an dieser Stelle amüsiert zu lächeln und hinzuzufügen, der andere Junge habe jedenfalls nicht mehr gelebt, als er ans Licht kam.

    Ich habe meine Mutter dafür gehasst. Sie weiß nichts von meinen Qualen. Meine Gefühle prallen an ihr ab wie ein Wasserstrahl an einer Plastikplane. Ich habe eine Menge Zeit und Geld in Therapien investiert, bis ich meiner Mutter verzeihen konnte. Trotz allem kümmere ich mich um sie, besuche sie jeden zweiten Montag und, wenn ich es nicht vergesse, auch an ihrem Geburtstag. Vor diesen Ritualen drücke ich mich nur selten. Wenn ich die Wohnung in Berlin Charlottenburg betrete, in der ich aufgewachsen bin und in der meine Mutter noch heute, nach dem Tod meines Vaters, lebt, gebe ich mir Mühe, die Gedanken zu verbannen, die wie kleine kalte Fische durch meinen Kopf huschen und die mich bei jedem Besuch den Erlös berechnen lassen, den ich eines Tages mit dem Verkauf der elterlichen Wohnung erzielen werde.

    Mein Name ist Leo Kafka. Ich will gleich an dieser Stelle anmerken, dass ich keine Ahnung habe, ob ich verwandt bin mit dem berühmten Schriftsteller. Eine Antwort auf diese Frage zu suchen ist nicht meine Absicht. Das hängt damit zusammen, dass ein Archivar und Spezialist für mittelalterliche Geschichte mir an der Theke einer Kneipe in Berlin Mitte ein Geheimnis verraten hat. Menschen, die unbedingt wissen wollen, wo sie herkommen und deshalb die Erforschung ihrer Ahnenreihe in Auftrag geben, würden in Insiderkreisen, also bei den Archivaren, als Geschlechtskranke bezeichnet. Er schien sich dabei köstlich zu amüsieren. Hätte ich jemals den Plan gehabt, in dieser Richtung tätig zu werden, jetzt war das Thema endgültig vom Tisch.

    Meinen Lebensunterhalt verdiene ich als Coach. Die Arbeit mit Menschen, die das Bedürfnis oder den Auftrag haben, an ihren Potenzialen zu arbeiten und sich beruflich und persönlich zu entwickeln, gibt mir das Gefühl in meinem Leben etwas Sinnvolles zu leisten. Die Mischung aus Dankbarkeit, Respekt und Achtung, die nahezu alle Klienten mir am Ende der gemeinsamen Arbeit entgegen bringen, erfüllt mich mit einer widersprüchlichen Mischung aus Demut und Stolz. Ich habe gelernt mich auch über kleine Erfolge zu freuen, mit denen ich weder Revolutionen auslöse noch sonst irgendwie die ganze Welt verändere. Basis meiner Arbeit ist die tiefe Überzeugung, dass jeder Mensch als biologisches, soziales und geistiges Wesen für sein eigenes Denken, Handeln und Fühlen Verantwortung trägt; dass jeder ein grundlegendes Recht auf die Entwicklung eigener Ziele und Werte besitzt; dass zu einem erfüllten Leben der wechselseitige Anspruch auf Achtung, Wertschätzung und Respekt gehört.

    Im Laufe von 15 Jahren habe ich es in meiner Profession zu einigem Ansehen gebracht. Heute kann ich mir alles leisten, was für mich zu einem komfortablen Leben gehört und meiner Vorstellung von Luxus entspricht. Meine großzügige Altbauwohnung in Berlin Mitte habe ich mit wenigen wertvollen und einigen bequemen Möbeln ausgestattet. Hier arbeite ich auch mit meinen Klienten. Der Anblick des Jaguar E Type Cabrio vor der Tür meines Mietshauses erfüllt mich jedes Mal mit postpubertärer Freude und einem schlechten Gewissen. In dieser Reihenfolge. Ich räume ein, dass meine Freude überwiegt. Und ich gebe zu, dass ihr manchmal eine Konnotation von Genugtuung beiwohnt. Nicht gegenüber konkreten Personen oder Ereignissen. Es ist eher ein diffuses Gefühl in Bezug auf meine nicht immer ruhmreiche Vergangenheit. Würde ich den Spießer in mir zu Wort kommen lassen, könnte ich sagen, dass ich es geschafft habe.

    Tage wie dieser, es ist ein später Freitagnachmittag im Frühling 2011, und die Tatsache, dass ich alleine bin, keine Termine mehr wahrzunehmen habe, sind wie geschaffen für frei mäandernde Gedanken. Ich sitze in meinem Arbeitszimmer und betrachte, die Füße auf dem antiken Schreibtisch, die Kulisse vor dem Fenster. Gepflegte Altbauten unter einem grauen Deckel aus Regenwolken über Berlin. Mein bisheriges Leben oder Teile davon Revue passieren zu lassen ist wie der Blick durch ein Kaleidoskop, in dem ich eine atemberaubende Folge von bunten Mustern, Scheiternsszenarien und Erfolgen, beobachten kann.

    Noch einige Jahre nach der Studentenzeit legte ich missionarischen Eifer an den Tag, wenn es darum ging, an den Grundfesten der bürgerlichen Gesellschaft zu rütteln. Als einer der Höhepunkte meiner Aktivitäten zur Bekämpfung des Klassenfeindes auf den Straßen Westberlins ist mir meine Faust in gefährlicher Nähe eines Polizisten in Erinnerung. Die Aktion brachte mir eine Nacht im Knast ein. Eine klaustrophobische Erfahrung, die ich niemals vergessen werde. Ebenso wenig wie das denkwürdige Ereignis auf dem Dach eines Hauses in Tanger, wo ich nach meinem Examen auf einer ausgedehnten Tour durch Europa und Nordafrika gelandet war. Am Rand des Daches stehend blickte ich in die Tiefe und breitete die Arme aus, nicht um meinem Leben ein Ende zu setzen, sondern weil ich so komplett zugekifft war, dass ich glaubte fliegen zu können. Ebenso deutlich habe ich eine meiner Berliner LSD-Halluzinationen in den 70er Jahren vor Augen, als ich mich aus dem Fenster meines WG-Zimmers lehnte und fasziniert beobachtete, wie die einzelnen Steine des unter mir liegenden Kopfsteinpflasters abwechselnd aufleuchteten und zu tanzen begannen.

    Nach meinem Studium startete ich eine Achterbahnfahrt durch verschiedene Jobs in Forschungsinstituten und sozialen Einrichtungen. Brotlose Engagements in politischen Think Tanks wechselten mit Zeiten der Arbeitslosigkeit. Eine Karriere als Taxifahrer habe ich in meiner Biographie ebenfalls aufzuweisen. Von der Erfahrung zehre ich noch heute. In Berlin, zumindest im westlichen Teil der Stadt kenne ich jeden Winkel. Ich glaube auch, dass diese Zeit, in der ich Menschen aller sozialen Schichten und in vielen Stadien des Glücks und der Verzweiflung begegnet bin, in mir die unersättliche Neugier geweckt hat auf das was hinter den Fassaden an Faszinierendem, Liebenswertem, Überraschendem und Abgründigem zu sehen ist.

    Das graue Einerlei des Tages ist einer tristen Dämmerung gewichen. Es regnet, mir ist kalt, ich schließe das Fenster. Auf der anderen Straßenseite stößt ein Hüne mit einer Hand einen Kinderwagen der Tausend-Euro-Variante vor sich her, der jedes Mal ein paar Meter unkontrolliert an der Bordsteinkante entlang rollt. Mit dem anderen Arm zerhackt der Mann die Luft um sich herum. Was er zu verkünden hat, gilt offensichtlich der Frau, die ihm mit einigen Schritten Abstand folgt. Außer ihr ist niemand in der Nähe. Ich kann seine Worte nicht verstehen, aber die mühsam verdeckte Aggression, die dieser Mensch ausstrahlt, spüre ich noch hinter geschlossenen Fenstern.

    Die Aussicht auf ein entspanntes Wochenende mit einem Treffen meiner Pokerfreunde ist leicht getrübt durch zwei Herausforderungen, die am folgenden Montag auf mich warten. Die eine ist der Besuch bei meiner Mutter.

    Kapitel 2

    „I ch werde dir fehlen."

    Mit geschlossenen Augen sitze ich in meinem Arbeitszimmer. Denke über diesen Satz nach. Ich bin sicher, ihn schon einmal gehört zu haben. Wahrscheinlich ein Zitat aus einem Film.

    Mit diesem Spruch hat Martha sich in der vergangenen Nacht von mir verabschiedet, um mich wieder einmal zu verlassen. Nicht für immer. Sie nimmt eine Auszeit von zwei oder drei Monaten, das hat sie schon öfter getan. Martha und ich sind ein Paar, seit mehr als zehn Jahren. Für uns beide die längste Beziehung, die wir je hatten. Vielleicht auch die beste. Wir haben gelernt zu akzeptieren, dass die unterschiedlichen Bedürfnisse gelebt und respektiert werden müssen, wenn wir ein Paar bleiben wollen. Genauer gesagt, hat Martha es gelernt. Ich habe schon immer nach meinen Vorstellungen gelebt.

    Marthas Leidenschaft für ausgedehnte Reisen teile ich nicht. Wie ich meine Auszeiten gestalte, löst bei meiner Gefährtin resigniertes Kopfschütteln aus. Manchmal auch Besorgnis, sagt sie. Ich kann wochenlang hinter Bergen von Büchern verschwinden. Wenn ich wieder auftauche, verfüge ich über mehrere grob skizzierte Entwürfe für neue Beratungskonzepte, die ich dann eine Zeit lang für ebenso genial wie umsatzträchtig halte. Einige dieser Ideen setze ich um. Andere landen in der Bibliothek der nicht realisierten Visionen und ungelebten Träume, die ich in meinem Kopf eingerichtet habe. Dort werden auch die Vorsätze für einen gesünderen Lebensstil gesammelt, die ich von Zeit zu Zeit gerne fasse. Sie sind zahlreich und meistens folgenlos.

    Es stimmt, Martha wird mir fehlen. Das leere Gefühl in mir kenne ich schon. Ich weiß, dass es vorübergehen wird. Nicht zum ersten Mal konnte ich mich nicht entschließen, meine Arbeit liegen zu lassen und Martha wenigstens bei einem Teil ihrer Reise zu begleiten. Der Vorstellung, mit ihr die Welt zu entdecken, kann ich durchaus etwas abgewinnen. Aber ich mache es dann doch nicht. Das hat im Laufe unserer Beziehung immer wieder zu größeren Verwerfungen geführt. Geändert hat das nichts, wir sind noch immer zusammen und Martha reist meistens allein. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen. Das legt sich, wenn ich wieder in meine Arbeit eintauche.

    In den Häusern auf der anderen Seite der Straße gehen die Lichter an. Es war mir entgangen, dass ich in der Dunkelheit sitze. Ein Glas Rotwein ist jetzt angesagt. Auf dem Weg in die Küche, vorbei an dem großen Spiegel in der Diele, begegnet mir ein Kerl mit grauen Bartstoppeln, ungekämmten Haaren, leicht kollabierter Haltung, in ausgebeulten Jogginghosen und fleckigem Sweatshirt. Zu allem Überfluss habe ich vergessen zu duschen. Aber egal, mit Gästen ist heute nicht zu rechnen, jedenfalls nicht ohne Vorwarnung.

    Auf dem alten Holztisch in der Küche liegt ein seidig glänzender Morgenmantel und verbreitet einen Hauch von Martha. Ihre Abschiedsbotschaft. Hier bewirte ich meine wenigen Freunde mit aufwändig zubereiteten Menüs und guten Weinen. Aus zwei ehemals kleineren Zimmern hat der Eigentümer der Wohnung eine Küche gestaltet, in der sich jeder

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1