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Eine umwerfende Bescherung: Das Trollinger-Evangelium
Eine umwerfende Bescherung: Das Trollinger-Evangelium
Eine umwerfende Bescherung: Das Trollinger-Evangelium
eBook272 Seiten3 Stunden

Eine umwerfende Bescherung: Das Trollinger-Evangelium

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Über dieses E-Book

Weihnachten sei ein Fest für Spießer, findet Markus, Literaturprofessor, und "bereits älter, als Schiller jemals werden durfte". Und so will er wie jedes Jahr an die See flüchten, dieses Mal jedoch in die Zweisamkeit. Freundin Johanna allerdings hat für die Feiertage andere Pläne. Unter Aufbringung sämtlicher weiblicher Raffinessen konfrontiert sie Markus mit all seinen vermeintlichen Schwächen und Problemen; will ihn aus seiner lethargischen Bequemlichkeit erwecken, an der die junge Beziehung bereits nach wenigen Monaten zu zerbrechen droht. Selbst vor einer "zufälligen" Begegnung mit Markus' Erzfeind Matthias Matthäus macht sie nicht Halt. Dieser hat mit der Behauptung, Schiller und Goethe hätten neben ihrer Autorenpartnerschaft auch ein Liebesverhältnis unterhalten, Ruhm und Geld eingeheimst, während Markus' Stern als Wissenschaftler verloschen scheint. Mit Lucas, dem Lebenspartner von Matthäus, feiern sie die Zusammenkunft an Heiligabend. Sie essen und trinken gemeinsam, diskutieren über Gott und die Welt, der Rotwein fließt in Strömen... Und ab diesem Moment beginnt Johanna die Kontrolle zu verlieren. Die "alten" Herren betrinken, streiten, verbrüdern sich. Zudem tritt um Mitternacht auch noch ein unvorhergesehener Gast auf. Am nächsten Morgen ist die Polizei in Matthäus' Haus, weil es einen Toten gibt und Markus kommt ins Grübeln, weil er sich an nichts erinnern kann. Warum nur ist Johanna plötzlich so abweisend? Was ist in der Nacht wirklich passiert? Und was hat seine Vergangenheit hiermit zu tun?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum16. Nov. 2014
ISBN9783738001518
Eine umwerfende Bescherung: Das Trollinger-Evangelium

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    Buchvorschau

    Eine umwerfende Bescherung - Reinmund Anton Frommer

    Widmung

    Für Lilly Halle Gunvaldsson.

    Ohne ihre Liebe wäre dieser Roman niemals möglich geworden.

    1

    Endlich ist es Heiligabend, nach einem anstrengenden Jahr. 

    „Müssen wir wirklich bis an die See fahren, damit du an Weihnachten deine Seelenruhe findest?"

    Johanna lässt nicht locker. Eben noch hat sie ihre Reisetasche auf den Rücksitz des Autos gezwängt, schaut durch das offene Fahrerfenster auf Markus herab. 

    Ihre Frage steht zwischen ihnen wie der alljährliche Rummel binnen Rathaus und Kirche. In Gedanken sieht Markus sich über den Weihnachtsmarkt laufen, eingepfercht in einem Pulk von Menschen, da er sich in letzter Minute entschließen würde, das Fest mit Johannas Familie zu verbringen. Seine Augen schmerzen im Anblick von endlosen Lichterketten, das Gedudel ewig gleicher Lieder nervt ihn wie die Sicherheitshinweise am Flughafen. Nein, er hat gegen Familientreffen prinzipiell nichts einzuwenden. Allein die Dauer des Festes im Kreise der Familie mahnt die eigene Vergänglichkeit wie ein Vorspiel auf die Ewigkeit an. So viel Rotwein zum Ausgleich kann selbst er nicht trinken.

    Seine Hände krallen sich um das Lenkrad, der Verzweiflung nahe. Er hat den mokanten Unterton bemerkt, den Johanna in ihre Frage gelegt. Markus schnauft unüberhörbar, damit das Mädchen begreift, wie sehr ihn ihre Zweifel entrüsten. Er will jetzt für klare Verhältnisse zu sorgen, ein für alle Mal. Schließlich hält er sich jedes Jahr um diese Zeit in seinem alten Bungalow auf, lediglich umgeben von Kaminrauch, Glühwein und rauschender See. Und diesmal soll ihn seine neue Freundin Johanna begleiten.

    „Mach das Garagentor auf!, donnert er zum offenen Seitenfenster hinaus und erschrickt im nächsten Augenblick über den eigenen Ton. „Bitte, setzt er kleinlaut nach, doch es scheint ihn niemand zu hören. 

    Wo ist Johanna überhaupt? Eben stand sie doch noch direkt neben ihm. Sein Blick huscht über Seiten- und Rückspiegel, erwischt er das Mädchen, wie sie gerade durch die Seitentür zurück in das Haus verschwindet.

    Nun, gut. Wenn es denn ihrem gemeinsamen Fortkommen dient, wird er das Tor eben öffnen. 

    Entschlossen dreht Markus den Schlüssel im Zündschloss. Läuft das Auto erst einmal, wird Johanna schon ihre restlichen Utensilien beibringen. Allein, nichts passiert. Auch beim zweiten und dritten Versuch startet das Auto nicht. Das gibt’s doch nicht!

    „Da siehst du es! Selbst Lotte hat keinen Bock auf Ostseesand!", kommentiert Johanna ungerührt die Neuigkeit, als sie mit ihrem Friesennerz über dem Arm zurückkehrt.

    Markus windet sich aus dem Auto. 

    „Was soll ich denn jetzt machen?" 

    Er fühlt sich so leer wie eine Autobatterie nach der Winterpause. Mit großen braunen Kinderaugen starrt er seine Freundin an, hofft, dass sie ihm den Weg weist.

    Das Mädchen packt gleichmütig den Mantel zu ihrer Tasche auf den Rücksitz. Anschließend tätschelt sie ihm die Wange: „Den Fehler suchen." 

    „Ich?", fragt Markus entsetzt.

    „Wer sonst?" Und schon ist Johanna wieder entschwunden.

    Lotte ist der in die Jahre gekommene Kleinwagen.

    Ratlos wandert Markus in der Garage auf und ab, quetscht sich wieder und wieder hinter das Lenkrad, versucht zu starten. Vergeblich.

    Er ist kein Mechaniker. Er ist überhaupt kein Handwerker. Er ist Literaturprofessor! Dennoch muss er den Motor zum Laufen bringen, irgendwie.

    Vielleicht sollte er einmal die Motorhaube öffnen.

    Mühsam, auch weil seine Körperfülle ihn hindert, tastet er nach dem Hebel unterhalb des Lenkrads. Beim Bücken rutschen ihm die langen grauen Strähnen ins Gesicht. Im Versuch sie beiseite zu schieben, verliert er das Gleichgewicht. Der Fahrersitz fängt ihn am Kinn auf.

    Markus, das schmerzende Kinn streichend, flucht. Vielleicht sollte er dem vor langer Zeit von seiner Mutter geäußerten Rat, die Langhaarphase hinter sich zu lassen, endlich folgen. Aber sobald er die Haare entschlossen zusammenrafft und in den Spiegel schaut, begegnet Markus einem Fremden und davon hat er schon genug um sich. 

    Denn wo soll das alles noch hinführen?

    Neues Geld, neue Medien. Ständig wechselnde Rektoren sowie jüngere Kollegen, die sich auf der Karriereleiter an ihm vorbei hangeln, indem sie in ihren Veröffentlichungen geschickter von Kollegen abkupfern oder Ungeheuerlichkeiten über die alten Klassiker verbreiten. Er mag den Namen nicht einmal denken, der das verbrochen hat, mutmaßlich aus Geltungssucht. Ja, selbst die Frauen wechseln bei Markus beständig, indem sie seinem intellektuellen Charme, zumindest für eine gewisse Zeit, erliegen und ihn dann später wieder verlassen. 

    Resigniert rutscht er auf den Fahrersitz, lehnt den überforderten Kopf gegen die Stütze. Auch Johanna wird wohl eines Tages zu den Verflossenen gehören. Wobei er bei ihr am wenigsten versteht, weshalb sie das Bett mit ihm teilt. Aber genau das lässt ihn hoffen, dass es mit ihr anders laufen könnte als mit ihren Vorgängerinnen. Er will keinen Wandel mehr. Nicht im Spiegel, nicht an Weihnachten, nicht im Bett. Und anderswo auch nicht.

    Nun, an Weihnachten, da will er nur weg, zu seinem alten Bungalow. Es ist seine Form von Protest gegen Kirche, Kommerz und Konformgesellschaft. Der letzte übrigens.

    Also sucht er weiter nach dem Hebel. Mit dem ersten, den er unterhalb des Lenkrads ertastet, wird es hell in der Garage. Das ist gewissermaßen einleuchtend, aber nicht das, was er will. Wo kann nur dieser Hebel sein?

    Dann klackt es, die Haube macht einen kleinen Sprung und er innerlich vor Stolz ebenso. Fasziniert, beinahe demütig, tasten seine Finger Motorblock und Kühlaggregat ab, drücken einen verschmierten Schlauch auf den dazugehörigen Stopfen. Markus spürt den Schmutz, ein Gemisch aus Öl und feinen Sandkörnern, an den Händen, reibt die Kuppen von Daumen und Mittelfinger aneinander. Sein Blick fällt, über die Hand hinweg, auf den Ölbehälter.

    Sollte hier etwa die Ursache des Übels zu finden sein?

    Aber er hat das Auto doch regelmäßig zur Inspektion geschickt, selbst den von der Werkstatt angebotenen Wintercheck nicht ausgelassen, obwohl der Mechaniker nicht länger als eine Tasse Kaffee hierfür brauchte, wie Johanna verwundert berichtet hat.

    Egal. Jetzt ist sowieso alles zu spät. Wer nicht wagt, gewinnt. Oder so ähnlich.

    Zunächst aber wird er nach einem Tuch suchen. Zwar sind seine Hände bereits verschmutzt. Kann Johanna, wenn sie zurückkommt, sehen, wie er gekämpft, mit den Elementen gerungen hat. Jedoch das Öl an sich, an den Händen, ist ihm unangenehm. 

    Sein Blick schweift über die Regalwand, bleibt am Fensterleder hängen. Wenn er das jetzt kurzerhand missbraucht, so überlegt Markus, könnte es Ärger geben mit Johanna und den hat er sowieso schon wegen des streikenden Autos. Den muss er nicht noch steigern. 

    Er wühlt sich vorbei an den Kleiderkoffern der längst verstorbenen Mutter, stapelt unausgepackte Umzugskisten von Johanna übereinander, zerlegt leere Weinkartons auf der Suche nach einem autogerechten Stück Stoff. Kurz bevor er bereit ist aufzugeben, kommt ihm die rettende Idee. Unter den Polstern für die Gartenmöbel, die auf dem dazugehörigen Tisch lagern, so meint Markus sich plötzlich zu erinnern, lag früher ein schon oft benutztes Staubtuch, das zum Putzen der Gartenmöbel gedient hatte. Entschlossen stemmt er den Stapel Polster empor, wühlt sich mühsam Schicht für Schicht durch, entdeckt noch im verzweifelten Graben durch störrische Schaumstoffbarrieren einen neu entstandenen Fleck auf grünem Markisenstoff. Der kann jetzt aber wirklich nicht von ihm sein!

    Natürlich taucht das gesuchte Staubtuch keinesfalls unter den Polstern auf. Dafür der zuletzt an Allerheiligen vermisste Schuhputzkarton, als er gemeinsam mit Johanna und deren Mutter das Grab des im Frühjahr verstorbenen Stiefvaters aufgesucht hatte.

    Eva schien schlecht vorbereitet. Ihr war dabei durchaus bewusst gewesen, dass Johanna nicht allein zum Friedhof kam. Doch, doch, die Tochter hatte sie gewarnt. Hatte erwähnt, dass sie ihren neuen Freund mitbringen wird. Allein, sie schien nur nicht auf Markus eingestellt - den grauhaarigen, schmerbäuchigen, nicht gerade elegant gekleideten Professorenvater, welcher heute wie damals als Student, vor dreiundzwanzig Jahren, gern mal ein Glas Rotwein am Abend trinkt und schon jetzt älter ist, als Schiller jemals werden durfte.

    Ihre Zurückhaltung seit diesem Tag könnte indes ebenso gut auf einer Kleinigkeit beruhen. Zum Beispiel den weißen Chucks, die er anstelle der verschmutzten Lederschuhe angezogen hatte zum grauen Anzug - an diesem kalten, feuchten Novembertag. Am Gewand jedenfalls kann es nicht gelegen haben. Er trägt es auch während seiner Vorlesungen, hat der Anzug Markus dort den Spitznamen Bukowski eingebracht.

    Ausgerechnet Bukowski!

    Er kann mit dessen Werk nichts anfangen. Und außerdem, weshalb haben sie, diese faulen, von klassischer Literatur gelangweilten Studenten, ihn, wenn sie schon allein sein Äußeres aufs Korn nehmen, nicht mit einem Autor aus der Zeit seines Fachgebiets, zum Beispiel Hölderlin oder Lenz, verglichen? Er ist ja keineswegs so vermessen, eine Brücke zu seinem Idol Goethe bauen zu wollen.

    Aber Bukowski? Was hat der denn mit ihm gemein?

    Konnte der denn wenigstens Autos reparieren?

    Markus seufzt. Womit kann er nur den Deckel öffnen?

    Bereitwillig entnimmt er dem Schuhkarton mit Lederfett getränkte Boxershorts, die er vor Jahren zum Schuhputzen degradiert, nachdem seine damalige Freundin bei deren Anblick einen Lachanfall erlitten hatte. Wie stolz war er zuvor auf dieses Kleidungsstück gewesen, hatte hierfür extra eine Modeboutique aufgesucht. Einzig, um einer Frau zu gefallen. Leider erwies es sich als aussichtsloses Unterfangen - wie so manches in seinem Leben. 

    Zuvorderst versteht Markus nicht, weshalb ein erfahrener Literaturwissenschaftler sich dazu hinreißen lässt, Goethe und Schiller zu diffamieren, indem… 

    Er hebt vorsichtig den Verschluss an.

    Da ist ja ein Stab! Und welch verschiedene Farben diese träg abtropfende Flüssigkeit annehmen kann! Blau, gelb, rot. Alles scheint möglich, je länger er hinschaut. 

    Kann man altes Öl eigentlich riechen?

    Während er seine Nase über den triefenden Verschluss kreisen lässt gleich dem Sommelier bei der allherbstlichen Weinverkostung mit der Fakultät, klappt plötzlich die seitliche Eingangstür, stürmt ein ihm unbekannter Mann in die Garage. Er ist mit einem blauen Overall bekleidet, der Werkzeugkasten in seiner Hand außen poliert und innen, wie Markus später anerkennt, wohlsortiert. Er entreißt ihm den Messstab, zwinkert dabei so aufmunternd, dass Markus sich wieder wie der kleine Junge fühlt, der zum ersten Mal staunend eine Miniatureisenbahn betrachtet, um sodann sein operatives Begleitwerkzeug, welches er zuvor elanvoll schwenkend beigebracht, abzustellen sowie den Stab ohne weitere Besichtigung zurück in die so genannte Ölwanne zu schieben, verbunden mit der Diagnose: 

    „Am Motor liegt es nicht."

    Markus ist tief beeindruckt. Der Monteur unternimmt alles um seriös zu wirken. Er tippt kurz an die Schläfe und stellt sich vor: „Grüß Gott! Ich bin der August. Sie haben ein Problem mit ihrem Auto? Ich bin hier um es zu lösen."

    „Das ist schön."

    Mehr weiß Markus hierauf nicht zu antworten. Ihm fehlen die Worte zu sagen, wie schön er es wirklich findet. Schade, dass Johanna nicht in der Nähe ist. Er hätte sie auf der Stelle aus Dankbarkeit geküsst. 

    Da die Garage nicht sehr groß und der Monteur offenbar instruiert, macht Markus ihm Platz und nutzt stattdessen die Zeit, einen Blick in die Zeitung zu werfen. Er rutscht auf den Fahrersitz, schaltet die Leselampe ein und studiert die brisantesten Neuigkeiten der lokalen Presse.

    Ein kleines Tief soll kurzfristig die Temperaturen über den Gefrierpunkt steigen lassen, Schneefälle wären allenfalls in den Bergen zu erwarten. Die örtliche Feuerwehr hätte ihre Streusandvorräte gegenüber dem letzten Jahr verdoppelt und die Preise für Feuerwerkskörper sich um fünf Prozent erhöht. In Jerusalem stünden sich Christen, Moslems und Juden in Lauerstellung gegenüber. Nichts Neues also auf dieser Welt. Auch nicht im Wissenschaftsteil. 

    Doch dann der Schock unter dem Titel Verdiente Wissenschaftler. Diesen Namen kennt er: Matthias Matthäus.

    Jetzt hat der es aus der Hauptstadt bis in die hiesige Lokalzeitung geschafft. Wo ihm doch dieser Platz gebührt!

    „Geht es zu Ihrer Familie?"

    Überrascht schaut Markus auf, erschreckt im Angesicht der unmittelbar vor seiner Nase ruhenden Arbeitshände. Der Monteur steht vor der Fahrertür, die Pranken lässig in das geöffnete Seitenfenster gelegt. Die Ärmel des Overalls sind bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, sodass die Tatoos, Schlange links, Drachen rechts, zu sehen sind. Sein Ton lässt vermuten, er hat die Frage nicht zum ersten Mal gestellt.

    Gewöhnlich fühlt sich Markus von derlei privaten Fragen belästigt. Aber welche Hürden ihm das Schicksal auch heute entgegenstellt - hier, zu Hause, will er keinesfalls bleiben. Also antwortet er brav: „Wir fahren gen Norden."

    „Wie weit?"

    „An die Küste. Aber warum fragen Sie eigentlich?"

    Wäre August - ausgerechnet August, so wie Goethes einziger Sohn - einer seiner Studenten, hätte er spätestens jetzt ein leichtes Grollen vernommen in Markus’ Stimme. Doch er ist Handwerker, entlarvt mit Sicherheit das Stottern eines Dieselmotors aus einhundert Meter Entfernung. Allein für die seelischen Empfindlichkeiten eines Geisteswissenschaftlers beweist er wenig Gehör. 

    „Weil ich mich an Ihrer Stelle auf der heimischen Couch lang machen würde. Es ist zu gefährlich heute zu fahren."

    Markus' Augenbrauen schießen in die Höhe. „Es ist immer ein Wagnis sich fortzubewegen."

    Die verschmutzten Finger krallen sich in das Innenfutter des alten Ford. Obwohl August kaum älter als Johanna sein kann, wirkt er um vieles reifer als das Mädchen. Wahrscheinlich ist er bereits Familienvater. Hat zwei Kinder, eine Frau sowie ein Haus und ein Auto abzuzahlen. Wer sonst wäre bereit, an Heiligabend ein altes Auto zu reparieren?

    „Es ist zu gefährlich, heute mit diesem Auto zu fahren. Weil ich nicht garantieren kann, dass Sie ans Ziel kommen!"Die Schlange windet sich unter nervösen Muskeln, während der Drache faucht.

    Markus bleibt standhaft: „Das ist aber genau der Grund, weshalb wir Sie gerufen haben!"

    Wieder hinter der Motorhaube verschwindend, brummelt August still vor sich hin.

    Der Hausherr nimmt erneut die Zeitung zur Hand. 

    Soll er den Artikel lesen?

    Matthias Matthäus hätte mit seinen sicher streitbaren Thesen über eine angebliche Liebesbeziehung zwischen Goethe und Schiller die deutsche Klassik in das Bewusstsein der Allgemeinheit zurückgeholt.

    Ja, spinnen die denn total? Er hat sie denunziert! Missbraucht, in den Schmutz gezogen! Ja, das hat er, dieser feine Kollege!

    Markus spürt, wie das Blut in den Kopf schießt, wie sein Blutdruck steigt.Um sich zu beruhigen, wechselt er in den Kulturteil. Gelangweilt, wie schon häufiger in den letzten Monaten, überfliegt er das Feuilleton mit seinen Tiraden über den schwindenden Einfluss des Christentums.

    Geld regiert die Welt, und nichts anderes, konstatiert er verbittert. Ob diese Erkenntnis genügt, sein Auto ins Rollen zu bringen, aus eigener Kraft selbstverständlich, wagt Markus zu bezweifeln. Laut hört er August seufzen, zu gern würde er einstimmen.

    Das Auto mit Namen Lotte gehört wie fast alles im gemeinsamen Haushalt zu jenen Dingen, die über Jahre treu ihre Dienste geleistet haben. Einige davon haben bereits früheren Generationen gedient, zuletzt seiner Mutter, nagt der Zahn der Zeit nunmehr erbarmungslos an ihnen. 

    Weshalb allerdings ein Backblech, das an den Ecken zwar die Emaille verloren, ansonsten aber noch recht ordentlich ausgesehen, auf den Müll hat wandern müssen, um einem neuen Platz zu machen, bleibt Markus schleierhaft. Johanna hat noch kein einziges Mal gebacken, bisher. Seitdem das Mädchen bei ihm eingezogen ist, vervielfachen sich derartige Ausgaben. Auch aus diesem Grund erscheint ihm ein zielgenauer Einsatz der noch vorhandenen finanziellen Mittel umso wichtiger. 

    Sein Ziel heute ist es, mit dem eigenen Fahrzeug an die See zu fahren. An einen Leihwagen mag er gar nicht denken, fuhr er nie ein anderes Auto als Lotte. Und die ganze Zeit Johanna hinter dem Lenkrad sitzen zu lassen, das will er ihr nun auch nicht zumuten. Überhaupt Johanna. Er müsste einmal nach ihr schauen. Sie fühlt sich so schnell vernachlässigt von ihm.

    Markus will gerade seinen Sitzplatz verlassen, als der Mechaniker ihn auffordert: „Starten Sie bitte nochmals!"

    Nichts lieber als das. Allein es hilft nichts.

    „Besitzen Sie eine Betriebsanleitung für dieses Fahrzeug?"

    August steht wiederum vor der Fahrzeugtür, dieses Mal die Arme hinter dem Körper verschränkend.

    Betriebsanleitung?

    Markus muss nun doch einen Moment überlegen, was der gute Mann im blauen Overall meinen könnte. Dann aber reißt er eilfertig das Handschuhfach auf. Außer Zigaretten, diverse Sonnenbrillen und leere Schokoriegelverpackungen fällt ihm freilich nichts Prozessförderndes entgegen.

    Er zuckt mit den Schultern. Der Monteur tut ihm leid. Aus eigener, schmerzlicher Erfahrung weiß Markus, wie es ist, wenn man vergeblich versucht, Dingen auf den Grund zu kommen. Zum Beispiel, warum jemand wie Matthäus Goethe und Schiller ein Liebesverhältnis andichtet, wo doch beide Kinder gezeugt haben. Welch Scharlatan, welch Illusionist.

    Mindestens genauso würde es ihm aber leidtun, wenn Johanna und er gezwungen wären an Weihnachten zu Hause zu bleiben.

    „Ich komme sofort wieder!" Markus eilt aus der Garage über den Hof in das Haus.

    Wo ist nur Johanna?

    Er findet sie im Arbeitszimmer sitzend, den Telefonhörer noch in der Hand, das Gespräch scheint soeben beendet worden zu sein. Ihr Gesicht gleicht dem seiner Studenten, wenn er sie beim Abschreiben erwischt. Er schwankt, was er zuerst fragen soll. Dann platzt er heraus: „Haben wir eine Betriebsanleitung für das Auto?"

    „Im Kofferraum. Beim Werkzeug."

    Er spürt ihre Erleichterung, eilt zurück in die Garage. Die andere Frage verschiebt er auf später. Ein Mann muss schließlich Prioritäten setzen.

    Als Markus den Kofferraum öffnet, glaubt er sich erklären zu müssen: „Wir bleiben mehrere Tage."

    Die Zweifel im Angesicht des Monteurs schwinden davon nicht. Markus hebt, während er nach einer überzeugenderen Erklärung sucht, zwei Kisten Wein, eine Kiste Champagner und einen Koffer aus dem Kofferraum.

    Vielleicht ist es doch zu viel für die paar Tage und der Benzinverbrauch erhöht sich ebenso mit der ganzen Last.

    Er misst erneut den Stapel neben sich auf dem Betonboden.

    Allerdings, gesetzt den Fall, es bricht ein Schneesturm los und beide würden eingeschneit werden. Sie wären somit abgesichert. Lediglich Johanna müsste noch ihren Vorrat beisteuern.

    Er wühlt weiter, kommt über eine Klappe an das Reserverad, findet endlich die Betriebsanleitung. Stolz überreicht er das Papier: „Außerdem, Essen finden sie überall. Gute Getränke hingegen sind rar. Können Sie das verstehen?"

    August nickt vorsichtshalber, schaut stumm auf das mit den Jahren gelb gewordene Papier.

    Ist noch etwas?

    Halb wendet der Monteur sich zum Gehen, hält sodann ein, fragt über die Schulter hinweg: „Sind Sie eigentlich Johannas Vater?"

    Markus' Oberkörper, soeben eingetaucht im Kofferraum, schießt empor. Die Flaschen in der Kiste, die er darüber vergessen hat abzustellen, klirren aufgeregt:

    „Was hat das mit Ihrer Arbeit zu tun?"

    „Nichts", bestätigt August vorsorglich.

    Und weshalb sollte ich ihr Vater sein?, schnaubt Markus.

    „Nun, der junge Mann hebt an, beißt sich auf die Lippen, schmunzelt letztlich und argumentiert: „Weil Sie sich mit diesem Auto nicht auskennen.

    Für einen Moment starrt Markus den Monteur sprachlos an.

    Das ist schon ein starkes Stück! 

    Die Kiste in seinen Armen wird schwer. Markus stellt sie zurück in den Kofferraum, auch um Zeit zu gewinnen. Schließlich berichtigt er: „Trotzdem, es ist mein Auto."

    August hebt die Hände um sich zu entschuldigen.

    Sie könnten es schaffen. Diese Giganten würden Johannas Brüste wohl umschließen. Vielleicht haben sie es ja bereits,

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