Ein Fall für die Patchwork Kids: Teil 1: Leiche auf dem Freizeitdeck
Von Björn Sülter
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Buchvorschau
Ein Fall für die Patchwork Kids - Björn Sülter
die
Patchwork Kids
Leiche auf dem Freizeitdeck
Impressum
Originalausgabe | © 2018
in Farbe und Bunt Verlags-UG (haftungsbeschränkt)
Kruppstraße 82 - 100 | 45145 Essen
www.ifub-verlag.de
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Alle Rechte liegen beim Verlag.
Herausgeber: Mike Hillenbrand
verantwortlicher Redakteur: Björn Sülter
Lektorat und Korrektorat: Jana Karsch
Cover- und Innenseitengestaltung: Grit Richter
E-Book-Erstellung: Grit Richter
Alle Fotos auf dem Cover stammen von www.unsplash.com
Schlaflos in Santa Monica
»Dann mal gute Nacht, Junge«, sagte der Deputy mit einem mitleidigen Unterton in der Stimme. Jack sackte auf dem einfachen Bett zusammen. Wie war er nur in diesen Schlamassel geraten? Was würde seine Mutter sagen? Und musste er wirklich den Rest der Nacht in dieser Zelle verbringen? Seine Gedanken kreisten wild und drifteten dann in Richtung Vergangenheit ab. Die letzten Stunden kamen ihm vor wie ein Film. Wie hatte diese ganze Sache überhaupt angefangen? Eigentlich war er doch nur mit seinen beiden Halbgeschwistern Ian und Ellie nach Los Angeles aufgebrochen, um einen schönen Strandausflug zu unternehmen. Sie hatten geplant, später noch nach Santa Monica zu fahren. In den letzten Wochen war er immer wieder mit den beiden neuen Familienmitgliedern aneinandergeraten. Jacks Mutter hatte gehofft, dass ein gemeinsamer Ausflug die Wogen glätten würde. Für ihre Eltern war die Situation ohnehin noch viel schwieriger als für die drei. Nach dem Umzug hatten sie zum ersten Mal alle gemeinsam im Wohnzimmer zu Abend gesessen. Jacks Mutter hatte die drei Teenager liebevoll ihre »Patchwork-Kids« genannt, auch wenn sich sowohl Jack als auch Ian und Ellie längst nicht mehr wie Kinder fühlten. Ellie und Jack waren 17, Ian 16 Jahre alt. Doch natürlich verstand jeder von ihnen, worum es ging: Sie sollten zusammenwachsen. Allerdings hatten sie ihre Eltern in den darauffolgenden Wochen einige Male mit ihrem Verhalten enttäuscht. Es war an der Zeit, etwas zu ändern. Und tatsächlich: Zunächst war der Ausflug friedlich verlaufen und hatte sogar Spaß gemacht. Dabei konnte Jack die beiden noch immer nicht besonders gut leiden. Oder redete er sich das nur ein? Er legte sich auf sein unfreiwilliges Nachtlager, starrte an die Decke und seufzte. Es war nicht leicht, Veränderungen zu akzeptieren und sein neues Leben anzunehmen.
Schaute man sich den Jungen genauer an, der da wie ein Häufchen Elend in der kargen Zelle des Los Angeles Police Department lag, dann waren seine raspelkurzen blonden Haare und die hellblauen Augen sicher das Erste, was einem auffiel. Dass er ein paar Pfunde zu viel mit sich herumtrug, versuchte er durch weite T-Shirts und ausgeleierte Jeans zu kaschieren. Für seine siebzehn Jahre war er zudem eher klein geraten, was ihm in der Schule den Spitznamen »laufender Meter« eingebracht hatte. Sein Vater war früh gestorben, er hatte ihn gar nicht richtig gekannt. Es gab nur ihn und seine Mutter Roseanne im kleinen kalifornischen Küstenstädtchen Pacific Palisades. Dort wohnten sie in einem winzigen Haus mit einem aus der Zeit gefallenen Krämerladen. Dieser war das Ein und Alles seines Vaters gewesen. Obwohl große Kaufhausketten inzwischen für schwindende Umsätze sorgten, hielt seine Mutter an dem Lädchen fest und freute sich über jeden Stammkunden, der das Schwätzchen und die frische Ware – besonders den Fisch aus den umliegenden Häfen – schätzte.
Doch jetzt war alles anders. Jack hatte sogar sein Zimmer abgeben müssen, nur weil man es unterteilen konnte! Nun wohnte er in der kleinen Kammer unterm Dach, die früher das Angelzeug seines Vaters beherbergt hatte. Den ganzen alten Kram dort rauszuholen und in den Schuppen zu räumen, hatte ihm ein mulmiges Gefühl beschert. Aber wie seine Mutter immer sagte: Er war kein kleines Kind mehr. Irgendwie würden sich schon alle aneinander gewöhnen. Zumindest hoffte Jack das.
Der Ausflug nach Los Angeles war in jedem Fall eine gute Idee gewesen. Nach ein paar unbeschwerten Stunden am Strand hatten die drei schließlich den Santa Monica Pier erreicht. Jack hatte sich besonders auf das allseits beliebte Riesenrad gefreut, mit dem er erstaunlicherweise noch nie gefahren war. Er wollte die Gelegenheit beim Schopf packen und die Fahrt für eine ganz besondere Aktion nutzen. Und damit hatte das Drama seinen Lauf genommen …
Gefangen!
»Ist das dein Ernst? Du wohnst dein Leben lang hier um die Ecke und warst noch nie auf diesem Riesenrad?« Ellie war fassungslos.
»Das ist offenbar eine Bildungslücke, die ich mir selbst ankreiden muss«, entgegnete Jack in seiner geschwollenen Ausdrucksweise.
»Bevor wir das machen, möchte ich aber noch was essen. Und da hinten gibt es Livemusik!« Ian stapfte voraus, ohne auf die anderen zu warten. Mit seinen schulterlangen, etwas wirren braunen Haaren und dem dunklen Teint konnte sich der sportliche Junge problemlos unter die Surfer mischen, die sich überall am Strand tummelten. Einzig seine kantige Brille wollte nicht so ganz ins Bild passen. Ian war das egal. Zum Surfen nahm er sie ab, weil es dabei ohnehin mehr auf das nötige Gefühl ankam. Im normalen Leben störte sie ihn nicht besonders, es sei denn, sie fiel herunter, zerbrach, bekam einen Riss oder ging verloren. Ehrlicherweise passierte das allerdings gar nicht so selten.
Jack und Ellie amüsierten sich noch damit, einem Künstler zuzuschauen, der zu bekannten Hits eine ziemlich eigenwillige Tanzperformance zum Besten gab, bevor sie sich in Bewegung setzten, um ihrem zielstrebig davoneilenden Bruder zu folgen. Nachdem Ian sich bei Bubba Gump eine Portion Shrimp Shack Mac & Cheese besorgt hatte, ließen die Kinder sich einfach treiben, genossen den Trubel, die Musik, die Düfte und die atemberaubende Aussicht auf den Strand. Am Santa Monica Pier war immer etwas los, was auch der Grund dafür war, dass jeder Tourist mindestens einmal in seinem Urlaub hier Station machte. Jack hörte allerlei Wortfetzen auf Italienisch, Deutsch, Spanisch und aus skandinavischen Sprachen, die er nicht genau zuordnen konnte.
Nach einer Weile kamen die drei schließlich am Riesenrad an. Ian besorgte die Fahrscheine und sie stellten sich in die Schlange. Sie entschieden sich für eine gemeinsame Gondel und genossen die fantastische Aussicht. Die kühle Seeluft strich ihnen um die Nase, die Lichter von Los Angeles setzten sich mehr und mehr gegen die Dämmerung durch und nichts schien die Idylle trüben zu können. Jack bemerkte, wie ähnlich Ellie und Ian sich sahen. Seine neue Halbschwester trug ihre schwarzen Haare, die sie eindeutig nicht von ihrem Vater Matt geerbt hatte, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre braunen Augen wirkten im Dämmerlicht wie unergründliche Bergseen und ihre spitze Nase ließ sie frecher wirken, als sie eigentlich war.
Nachdem die Fahrt zu Ende war, hielt Jack seine neuen Geschwister zurück. »Ich fahr noch mal allein. Muss da noch was erledigen.« Er zückte seine Kamera.
»Sag nicht, du willst wieder etwas für deinen blöden YouTube-Kanal filmen. Jack the Crack und seine langweiligen Lebensweisheiten an verrückten Orten.«
Wortlos drehte er sich um.
»Der macht das wirklich …«, hörte er Elli noch fassungslos sagen. Doch unbeirrt kaufte er sich erneut eine Karte, reihte sich in die Schlage ein und saß schon kurz darauf allein in einer Gondel.
Die beiden anderen blieben am Boden zurück und starrten ihm mit verdutzten Gesichtern hinterher.
Nach zwei Umrundungen sahen sie, wie Jack sich in der Gondel in Position brachte, seine Kamera an einer Seite festklemmte und eine theatralische Pose vor den Lichtern der Stadt einnahm.
Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Die Gondel bewegte sich ruckartig und begann, wild zu schwanken. Jacks Kamera löste sich und raste zusammen mit einem undefinierbaren Schatten Richtung Boden. Es schepperte und krachte. Schreie ertönten und irgendjemand brüllte voller Panik: »Da ist jemand rausgefallen! Haltet das Riesenrad an.«
Das stählerne Ungetüm ächzte, als es mit einem Ruck zum Stehen kam. Der Mann, der das Fahrgeschäft von dem kleinen Häuschen am Boden aus bediente, kam herausgeeilt und blickte sich mit sorgenvoller Miene um.
Jack rappelte sich in seiner Gondel auf und suchte in der Menge nach Ian und Ellie. Die beiden starrten fassungslos zu seiner Gondel herauf. Als sich ihre Blicke trafen, hielt er gut sichtbar einen Daumen hoch und sah kurz darauf die Erleichterung in ihren Gesichtern. »Ist alles in Ordnung. Was ist passiert?«, rief nun auch der Mann, der das Riesenrad betreute.
»Es ist alles in Ordnung«, antwortete Jack mit brüchiger Stimme. »Meine Kamera und mein Rucksack sind aus der Gondel gefallen. Aber mir geht es gut.«
»Ist sonst jemand verletzt?«, fragte der Mann an die anderen Passagiere gewandt. Offenbar hatten Jacks unfreiwillige Flugobjekte keinen Schaden angerichtet, also rief er: »Ich werde das Rad jetzt wieder in Bewegung setzen. Bitte alle gut festhalten!«
Damit verschwand er zurück in seiner kleinen Kabine. Alle warteten angespannt, doch nichts geschah. Wenige Minuten später kam er wieder heraus. »Sorry, Leute, da ist irgendwas kaputtgegangen. Ich habe schon einen Techniker angerufen. Das könnte aber eine Weile dauern. Bitte bewahren Sie Ruhe! Es kann nichts passieren!« Der Rest verschwamm. Jack fühlte sich leer, setzte sich auf die schmale Bank und blickte auf die Wellen. Wie in Trance nahm er wahr, dass sich unten immer mehr Leute versammelten. Die Polizei traf ein, Kinder weinten, ein Krankenwagen stand bereit und wenn er sich nicht täuschte, war inzwischen sogar ein Fernsehteam vor Ort.
Fast zwei Stunden später setzte sich das Riesenrad mit einem Ruck endlich wieder in Bewegung. Einige Fahrgäste kreischten erschrocken, ein paar Kinder jammerten immer noch leise. Jack hatte die ganze Zeit über gedankenverloren auf das inzwischen spiegelglatte Meer geblickt. Er ahnte bereits, dass er aus dieser Nummer nicht mit ein paar netten Worten herauskommen würde. Dennoch hoffte er, dass nicht jeder erfahren musste, was er mit seiner Aktion angerichtet hatte. Als er ausstieg, wäre er am liebsten sofort zu Ellie und Ian hinübergelaufen, die die ganze Zeit