Yula und die Sterne: Die Beyond Berlin-Saga: In Berlin angesiedelte Dystopie
Von Björn Sülter
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Buchvorschau
Yula und die Sterne - Björn Sülter
Impressum
Originalausgabe | © 2023
in Farbe und Bunt Verlag
Am Bokholt 9 | 24251 Osdorf
www.ifub-verlag.de
www.ifubshop.com
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Alle Rechte liegen beim Verlag.
Herausgeber: Björn Sülter
Lektorat & Korrektorat: Telma Vahey
Lektorat & Korrektorat: Helga Parmiter
Satz, Cover- & Innenseitengestaltung: EM Cedes
Cover- & Innenseitenillustrationen: Stefanie Kurt
Print-Ausgabe gedruckt von: Bookpress (Polen)
ISBN (Print): 978-3-95936-432-4
ISBN (Ebook): 978-3-95936-433-1
ISBN (Hörbuch-CD): 978-3-95936-435-5
ISBN (Hörbuch-DL): 978-3-95936-434-8
Inhalt
Teil 1: Ein kleiner Schritt für ein Mädchen
Prolog Schnee
Kapitel 1 Nachts
Kapitel 2 Hoffnung
Kapitel 3 Zu spät
Kapitel 4 Raus!
Kapitel 5 Tunnel
Kapitel 6 Licht
Kapitel 7 Nest
Kapitel 8 Yula 2.0
Kapitel 9 Endstation
Kapitel 10 Winter
Teil 2:
Prolog Regen
Kapitel 11 Hölle
Kapitel 12 Transit
Kapitel 13 Nao
Kapitel 14 Berlin
Kapitel 15 Parallaxe
Kapitel 16 Elefant
Kapitel 17 Drinnen
Kapitel 18 Draussen
Kapitel 19 Krater
Kapitel 20 Hütte
Kapitel 21 Brücken
Kapitel 22 Grenze
Kapitel 23 Jenseits
Kapitel 24 Limbus
Kapitel 25 Sonne
Teil 3: Aus der Asche
Prolog Bereit
Kapitel 26 Maschine
Kapitel 27 Sirene
Kapitel 28 Allein
Kapitel 29 Andere
Kapitel 30 Gitter
Kapitel 31 Liebe
Kapitel 32 Augen
Kapitel 33 Erwachen
Kapitel 34 Kälte
Kapitel 35 Mut
Kapitel 36 Neustart
Kapitel 37 Falsch
Kapitel 38 Endlich
Kapitel 39 Abschied
Widmung
Für alle, die daran glauben, dass in jedem von uns etwas Einzigartiges schlummert ...
Teil 1
Ein kleiner Schritt für ein Mädchen
Schnee
Yula presste den ramponierten Kopfhörer enger an ihre Ohren. All die zuvor betäubten Emotionen kehrten mit voller Wucht zurück. Mit letzter Kraft drückte sie die Taste ihres Abspielgeräts. Ihre Fingerkuppen waren blutverschmiert, der Bass donnerte in ihren Ohren, und Tränen liefen ihr über die Wangen.
Unter ihr starb eine Welt. Ihre Welt.
Bald schon würde nichts mehr an die einst blühenden Wiesen, die Tiere und die wunderbar frische Luft erinnern. Bald schon wäre selbst das wenige, was noch übriggeblieben war, vergangen.
Alles versank in ewigem Winter.
Nachts
Es gab nicht viel, auf das man sich in dieser Welt verlassen konnte. Doch eines war Yula absolut klar: Wenn sie aus dem Schlaf hochschreckte und durch die Ritzen in den Brettern vor ihrem Fenster keinen Lichtschein sah, war etwas nicht in Ordnung. Ganz und gar nicht in Ordnung. Die junge Frau hatte für gewöhnlich einen guten Schlaf, nahm allerdings auch jedes Geräusch wahr, das nicht zur normalen Soundkulisse ihres Hauses gehörte. Irgendetwas hatte sie geweckt.
Sie stieg, so leise sie nur konnte, aus ihrem Bett und tastete sich zum Fenster. Sie hatte recht gehabt. Es war mitten in der Nacht. Auf der Straße war nichts und niemand zu sehen. Yula verharrte einen Moment. Die schlanke Gestalt mit den schulterlangen dunklen Haaren zitterte, allerdings nicht nur vor Kälte. Fünf lange Minuten geschah nichts. Doch dann hörte sie erneut ein Knacken im Stockwerk unter ihr. Oder kam es bereits von der Treppe? Sie hatte ihr Haus sehr gut gesichert. Doch immer wieder gelang es jemandem, ihre Vorkehrungen zu überwinden. Meist waren es Drogensüchtige auf der Suche nach wertvollem Tauschmaterial. Hatte man Pech, konnte es aber auch ein perverser Vergewaltiger oder Mörder sein. Oder noch schlimmer, einer von den Schatten. Yula schlich zu ihrem Bett zurück, griff sich den Baseballschläger, glitt zur Zimmertür und öffnete sie nahezu geräuschlos. Den Schläger in der rechten Hand tastete sie sich an der Wand entlang zum Treppengeländer. Um sie herum war es totenstill und stockfinster. Das war allerdings kein Problem. Sie konnte sich mühelos im Haus orientieren. Schließlich hatte sie ihr ganzes Leben hier verbracht. Schritt für Schritt schlich sie die Treppe hinunter. Das Holz war inzwischen schon reichlich morsch geworden. Wenn man aber wusste, wo man hintreten musste, konnte man die Stufen fast lautlos überwinden. Genaugenommen war dies sogar eines ihrer besten Warnsysteme. Die Geräusche eben schienen allerdings eher aus dem Untergeschoss gekommen zu sein, vielleicht sogar aus dem Keller. Innerlich ärgerte Yula sich, dass sie die Kellerfenster aus reiner Faulheit noch immer nicht weiter verstärkt hatte. Nach einem Einbruch vor einiger Zeit hatte sie die Spuren nur notdürftig geflickt und sich seitdem um eine größere Aktion gedrückt. Wie nachlässig das war! Ihr Nachbar und bester Freund Gin hatte ihr sogar einige Metallstangen zum Verstärken angeboten.
Inzwischen war sie im Erdgeschoss angekommen und horchte. Erst hörte sie gar nichts, doch dann nahm sie ganz leise ein scharrendes Geräusch unter sich wahr. Es klang, als würde jemand oder etwas über den alten Fußboden im Keller robben. Einige Härchen in ihrem Nacken und an den Armen stellten sich auf. Sollte sie darauf hoffen, dass das, was auch immer sich da unten aufhielt, von alleine aus dem Keller verschwand, nur die Kellertür bewachen und sich für den Notfall bereithalten? Oder sollte sie lieber hinabsteigen und die Sache selbst in die Hand nehmen? Was, wenn da nicht nur einer war? Dann wäre es genauso schlecht, einfach zu warten. Yula entschied sich wie so oft für den Angriff als beste Verteidigung, schob fast lautlos den Riegel zur Kellertür beiseite und steckte den Kopf in das Loch, das noch schwärzer wirkte als der Rest ihrer Umgebung. Die Treppe nach unten war aus Stein, und die kahlen Stufen kamen ihren nackten Füßen heute Nacht besonders kalt vor. Seit dem letzten Scharren war nichts mehr zu hören gewesen. Sie entschied sich, zunächst nach links zu gehen. Groß war der Keller ohnehin nicht. Es gab einen Bereich, in dem früher die Vorräte gestanden, und einen auf der anderen Seite, den ihre Mutter als Waschraum genutzt hatte. Dort befanden sich auch die beiden Fenster. Obwohl Yula nichts hörte, spürte sie eindeutig eine Präsenz hier unten. Inzwischen konnte sie gut zwischen Einbildung und realer Bedrohung unterscheiden, und hier war definitiv jemand mit ihr im Raum. Jemand oder etwas. Nicht jedoch auf der linken Seite. Mit dem Baseballschläger im Anschlag und immer bereit, sofort fest zuzuschlagen, wechselte sie nun die Seite, als plötzlich etwas nach ihren Haaren griff. Sie schrie auf, wirbelte herum, ließ ihrem Angreifer den Holzschläger entgegenfliegen und traf. Die Finger ließen ihre Haare los, ein unheimliches Stöhnen war zu hören, und dann war alles still.
Wie angewurzelt blieb Yula stehen und traf eine Entscheidung. Sie hatte gelernt, in einer unsicheren Situation niemals Licht zu machen. Jetzt jedoch spürte sie keine Gefahr mehr. Sie tastete nach den kleinen, selbstgebauten Fackeln und dem Sturmfeuerzeug, das ihr ein freundlicher alter Herr am Ende der Straße regelmäßig befüllte oder reparierte. Die Flamme loderte hell und blendete sie. In einem solchen Moment konnte ein Angreifer die Verwirrung ausnutzen und sich einen Vorteil verschaffen. Doch nichts geschah. Als sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, blickte sie zu Boden. Was da vor ihr lag, konnte unmöglich ein Mensch sein. Und wenn doch, dann war dieser auf eine Art deformiert, wie sie es noch nie gesehen hatte. Sie schnappte nach Luft, trat einmal gegen das Bündel vor ihren Füßen, und als es sich nicht regte, rannte sie leichenblass die Treppe hinauf und öffnete alle Schlösser an der Haustür.
Auf der Straße war es menschenleer. Sie legte die letzten Meter bis zu ihrem Ziel zurück und klopfte an die Tür des Hauses nebenan. Als nichts passierte, hämmerte sie so laut, wie sie nur konnte, gegen das spröde Holz und begann zu weinen. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie das Codewort vergessen hatte. »Alice«, jammerte sie. »Alice!«
»Ich komm ja schon, ich komm ja schon«, hörte sie von drinnen die vertraute Stimme.
Als die Tür sich öffnete, sank sie in die Arme ihres guten Freundes. Dieser sagte zuerst nichts, zog sie aber vorsichtshalber hinein, schloss die Tür und wartete, bis seine Nachbarin die Fassung ein wenig wiedergefunden hatte.
»Was ist los, Kleine?«
»Er ist tot«, platzte es aus ihr heraus.
»Wer ist tot?«, fragte Gin.
Wortlos löste sie sich aus seiner Umarmung und zog ihn mit sich.
»Wir sollten nicht mehr rausgehen. Es ist mitten in der Nacht. Du kannst gerne hierbleiben.«
»Nein! Ein Toter liegt in meinem Haus. Ich muss ihn wegschaffen!«, jammerte Yula.
Gin erkannte, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt für lange Diskussionen war. Er griff nach einer Waffe und folgte ihr über den Gehweg bis zu ihrem Haus. In der Eile hatte sie die Tür nicht geschlossen.
»Meinst du, es ist noch jemand drin ...?«, fragte sie wie erstarrt.
»Außer deinem angeblich toten Freund?«, entgegnete Gin. »Sicher nicht. Heute Nacht ist es eher ruhig.« Er zog die Tür ins Schloss, sicherte sie, blieb aber dennoch in Alarmbereitschaft. So ganz traute er seinem eigenen Optimismus offenbar doch nicht. »Also, wo ist der Kerl?«
»Eigentlich weiß ich nicht, was er ist. Ich glaube, es ist ein Schatten.«
Gins Gesicht wurde aschfahl. »Du sagst, du hast einen Schatten getötet, und der liegt jetzt hier in deinem Haus?«
Schweigend nahm Yula seine Hand und führte ihn die Stufen zum Keller hinunter. Unten bot sich den beiden ein grauenhaftes Bild. Wenn die Regierung recht hatte und es sich bei den Schatten nur um Süchtige handelte, die an den Folgen zu hohen Konsums verschnittener Drogen litten, waren die Auswirkungen mehr als bizarr. Das Wesen besaß zwar je zwei Beine und Arme; der restliche Körperbau hatte aber nichts Menschliches an sich. Das Gesicht bestand aus einer glatten Fläche ohne erkennbare Öffnungen. Es gab weder Augen noch Nase oder Mund. Dafür konnte man mehrere Schlitze und Erhebungen verschiedener Größe erkennen. Zusammen mit dem dürren Körperbau, den langen Gliedmaßen und den fehlenden Haaren sah dieses Individuum definitiv nicht wie ein Drogensüchtiger aus.
»Das ist nicht das, was der Kanzler uns immer erzählt. Ich habe zwar keine Sekunde an die Sache mit den Drogen geglaubt, aber das toppt wirklich alles«, sagte Gin fast belustigt.
»Denkst du, die Geschichten sind wahr?«, fragte Yula.
»Du meinst, ob das hier ein Außerirdischer ist?« Seine Freundin schwieg.
»Ich kann mir vieles vorstellen, Kleine. Aber lass uns für den Moment keine voreiligen Schlüsse ziehen, sondern erstmal etwas gegen unser Problem unternehmen. Ich habe eine Wanne, in der wir das Ding mit einem Gemisch aus Salzsäure und anderen Chemikalien auflösen können. Das sollte funktionieren, zumindest, wenn es halbwegs so beschaffen ist, wie wir.«
Yula riss die Augen auf. Sicher, sie hatte schon viele furchtbare Dinge gesehen und getan. Gins emotionsloser Vorschlag versetzte ihr aber einen Stich. Dennoch wagte sie nicht zu widersprechen. Ihr Freund holte einige große Decken hervor, in denen sie den Leichnam in seinen Keller beförderten. Yula selbst nahm die folgenden Stunden nur wie durch einen Schleier wahr. Sie folgte Gins Anweisungen und kam erst wieder ein wenig zur Besinnung, als er ihr erklärte, dass sich einige Teile der Kreatur nicht so gut auflösten wie erhofft. Er stopfte die Reste in einen Sack und spülte danach die Wanne. Yula kam das Ganze sehr fachmännisch vor, und sie wusste nicht, ob ihr der Gedanke gefiel. Danach reparierten die beiden noch das eingeschlagene Kellerfenster in ihrem Haus und schraubten zwei Eisenstangen davor. Gin versprach, in den nächsten Tagen alles noch einmal gründlich fest zu verschweißen, damit ab jetzt niemand mehr ins Haus gelangen konnte. Diesmal war es wirklich verdammt knapp gewesen!
»Danke, mein Freund. Ohne dich hätte ich das nie geschafft. Kann ich dir vielleicht irgendetwas Gutes tun?«, fragte sie.
»Wenn du irgendwo etwas Gin findest ...?«
Ihr Freund hatte seinen Namen nicht ohne Grund erhalten. Für einen Tropfen dieser ekligen Brühe würde er glatt seine Mutter verraten. Hoffentlich bot ihm nie jemand eine Flasche im Tausch für die Wahrheit über die heutige Nacht an. Ihre Miene verfinsterte sich. So sehr man sich auch an liebe Weggefährten gewöhnen wollte, konnte man letztlich niemandem trauen. Ihrer Mutter war es sehr wichtig gewesen, diese Lektion ganz fest in ihrem Hirn zu verankern. Dazu hatte sie oft erzählt, wie Hajo, der beste Freund ihres Vaters, einst alle Besitztümer der Familie mitgenommen hatte, um für einen Transfer in die Habitatzone nach Ost-Berlin zu sorgen. Nach Stunden der Ungewissheit, ersten Zweifeln und Tagen der nagenden Vorahnungen hatten ihre Eltern die Wahrheit dann akzeptieren müssen: Der Jugendfreund des Vaters hatte das Vertrauen der Familie missbraucht und war dem Elend ihrer Existenz allein entflohen. Yula selbst war damals noch sehr klein gewesen und hatte die Sache erst viel später richtig verstanden. Dennoch: Gin wollte sie wirklich vertrauen. Er hatte nie irgendetwas anderes gefordert als ihre Freundschaft und ihr mehr als einmal aus der Patsche geholfen. Solange es Menschen wie ihn gab, bestand auch Hoffnung. Für den Moment war Yula erst einmal wieder sicher. Doch ihr war auch klar, dass sich bald etwas würde ändern müssen. Nur was?
Gin nahm sie noch einmal lange in den Arm; dann verabschiedeten sich die beiden. Als Yula kurz darauf in ihrem Bett lag, war von der Nacht nicht mehr viel übrig. Ihren Termin am nächsten Morgen durfte sie aber auf keinen Fall verpassen.
Hoffnung
Natürlich hatte Yula nicht verschlafen. Genaugenommen hatte sie gar nicht mehr geschlafen. Obwohl der heutige Termin nichts an ihrem Leben würde ändern können, musste sie ihn wahrnehmen; lieber früher als später. Mit jedem Jahr wurde die Zeitspanne, in der es überhaupt noch halbwegs hell wurde, kürzer. Und in dieser Jahreszeit war es am schlimmsten. In wenigen Stunden wäre es schon wieder Nacht, und Yula wollte gerne im Hellen zu Hause sein.
Es war Dienstag und empfindlich kalt. Damals hatte man diese Jahreszeit als Winter bezeichnet. Seit die Welt jedoch dauerhaft aus Schnee, grauen Wolken und Stürmen bestand, waren derartige Begrifflichkeiten nach und nach verlorengegangen. Yulas Gedanken schweiften ab. Manchmal hörte man Geschichten, dass es noch Flecke auf der Erde gab, wo das Wetter nicht so verrückt spielte. Die meiste Zeit nahm sie allerdings an, dass es sich dabei nur um den verzweifelten Versuch handelte, Hoffnung am Leben zu halten. Ihre Mutter hatte ihr mehr als deutlich gemacht, wie es seit vielen Jahrzehnten auf allen Kontinenten aussah. Über neunzig Prozent der Erde gehörten inzwischen zu den dunklen Zonen. In ihnen lebten, oder eher vegetierten, diejenigen vor sich hin, denen die Schatten noch nichts anhaben konnten, die sich Überfällen, Vergewaltigungen, Gewalt und der Willkür der Eingreiftruppen widersetzten oder die einfach nur aufgegeben hatten und auf den Straßen lebten. Die Welt war zu einem riesigen, dreckigen, albtraumhaften Ghetto verkommen. Was die restlichen zehn Prozent anging, hatten die Reichsten der Reichen dort ihre Paradiese gebaut.
In vielen einst blühenden Städten gab es die sogenannten Habitatzonen. Diese hellen, leuchtenden Kuppeln aus einer Legierung, deren Namen niemand aussprechen konnte, hielten nicht nur die gefilterte Luft im Innern, sondern sorgten sogar für Wärme und verhinderten das Eindringen von Bewohnern der dunklen Zonen. Zwar waren alle Habitatzonen großräumig eingezäunt und wurden streng bewacht, wenn man jedoch in deren Nähe kam, wirkte es den Erzählungen nach wie der Blick in eine fremde Welt. Yula hatte sich allerdings noch nie so nah herangetraut. All die schönen und erstrebenswerten Dinge lagen hinter einer Art Glasscheibe und strahlten wie im Sonnenlicht. In den Habitatzonen war es sauber, ordentlich, organisiert und kultiviert. Angeblich war die ganze Welt einst so gewesen. Das Ganze klang unvorstellbar. Yula kannte nur die Zeit des postnuklearen Schreckens; und die Kälte war ein fester Bestandteil ihres Lebens geworden. Sie zog sich den Kragen ihres abgetragenen Mantels ins Gesicht und bibberte. Zwischen der dicken Wollmütze und dem Schal leuchteten ihre klaren, blauen Augen wie Bergseen.
Nicht nur wegen der beißenden Temperaturen gehörte der Weg zum Center für Integration und Transfer, kurz CIT, zu den unerfreulichsten Aufgaben. Die Idee dahinter war dabei nicht das eigentliche Problem: Menschen aus den dunklen Zonen sollten die Möglichkeit erhalten, sich um einen Platz auf der Warteliste für den Transfer in die Habitatzonen zu bewerben. Dass es fast unmöglich war, auf diese Liste zu gelangen, die zudem so lang wie die Spree war, wurde dabei gerne unter den Teppich gekehrt. Dennoch zwang das Center jeden registrierten Bewohner der dunklen Zonen dazu, zwölfmal im Jahr einen Antrag einzureichen und persönlich im CIT zu erscheinen. Der eine von zwei wichtigen Gründen war, dass man ohne diesen Termin kein Anrecht auf das monatliche Hilfspaket besaß. Dieses durfte man sich immer pünktlich zur Monatsmitte im Charlottenburger Schloss ganz in der Nähe abholen. Früher war das ein prunkvoller und historisch wichtiger Bau mit einer bewegten Geschichte gewesen. Heute lebten dort die Ärmsten der Armen in einer Art riesiger Notunterkunft. Nur mit einem Stempel vom CIT konnte man das Hilfspaket im Verteilzentrum abholen. Es beinhaltete Milchpulver, einen Code für das Wasserreservoir, Trockenwurst und einige andere Dinge. Damit war es zwar fast unmöglich, über den ganzen Monat zu kommen, doch waren die Hilfspakete die einzige Chance, Plünderungen und Überfälle in Zaum zu halten. Woher sollte die Nahrung sonst auch kommen? Es wuchs nichts mehr, es gab keine offiziellen Geschäfte, und jeder kämpfte für sich allein ums Überleben. Doch gab es auch noch einen zweiten Grund, dem CIT den regelmäßigen Besuch abzustatten.
Auf Nichteinhaltung der Termine stand nämlich Arrest im ehemaligen Königlichen Untersuchungsgefängnis und der späteren Justizvollzugsanstalt im Stadtteil Moabit. Heute nannte man das Ganze – nicht vollkommen ironiefrei – Integrationslager. Integration war eines der wichtigsten Worte der aktuellen Regierung. Immer wollte man irgendwelche Menschen integrieren oder ihnen ein besseres Leben ermöglichen. Die Wahrheit sah jedoch anders aus: Es passierte nichts. Schöne Worte ohne Konsequenzen waren schon während Yulas ganzen Lebens das Markenzeichen des Kanzlers gewesen. Abgewählt wurde der aber nie. Kein Kunststück, da ohnehin nur noch die Bewohner der Habitatzonen zur Wahl gerufen wurden. Yula hatte einmal in einem Buch etwas über politische Systeme der Vergangenheit gelesen. Seitdem fragte sie sich oft, wie die Union, und somit Deutschland oder generell Europa, von den damals mehrheitlich demokratisch und humanitär geprägten Systemen zu dieser fast schon absurd-offensichtlichen Ungleichbehandlung von Menschen übergegangen war. Dabei ging es doch um Menschen, die einfach nur überleben wollten!
So waren die Integrationslager dann auch genau genommen simple Gefängnisse mit höchster Sicherheitsstufe. Während man dort immerhin etwas zu Essen bekam, sprach die hohe Gewaltbereitschaft der Insassen und Wärter aber eindeutig gegen einen Aufenthalt. Auch trennte man seit einigen Jahren Frauen und Männer nicht mehr voneinander, nachdem der Kanzler weitere Gelder gestrichen und die Gleichberechtigung der Frauen auch in diesem Bereich durchgesetzt hatte. Eines musste man ihm angesichts solcher Entscheidungen lassen: Der Mann besaß definitiv Humor, auch wenn einem das Lachen meist im Halse steckenblieb. Vergewaltigungen waren in den Integrationslagern seitdem nicht nur an der Tagesordnung, sondern sogar zu einer Art Sport geworden, bei dem die Wärter um hohe Summen wetteten, wer sich wem wie lange würde entziehen können. Nein, dann lieber einmal im Monat die immer gleichen Fragen beantworten. Positiv betrachtet, gab es dazu jedes Mal eine warme – wenn auch undefinierbare – Suppe und süßen Tee.
Als Yula sich mit ihrer Familie erstmals hatte vorstellen müssen, war ihr die Ausweglosigkeit der ganzen Angelegenheit noch nicht bewusst gewesen. Man hatte allen Implantate eingepflanzt und große Versprechungen gemacht. Damals träumte sie noch davon, mit ihren Eltern und ihrer Schwester Tara auf grünen Wiesen zu spielen, in Supermärkten einzukaufen, Licht und fließendes Wasser im Haus zu haben und vielleicht doch wieder eine Schule zu besuchen. Ihre war vor acht Jahren geschlossen worden, einen Monat vor dem ersten Besuch im CIT. Das war der Punkt gewesen, an dem die Lage langsam immer verzweifelter geworden und die Hoffnung geschwunden war, dass sich an den Lebensbedingungen noch etwas gravierend verbessern würde. Im Gegenteil: Die Umweltbedingungen wurden immer schlimmer, und nach