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Allein: Wenn die Erde still steht.
Allein: Wenn die Erde still steht.
Allein: Wenn die Erde still steht.
eBook497 Seiten14 Stunden

Allein: Wenn die Erde still steht.

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Über dieses E-Book

Lisa erwacht eines Tages und stellt fest, dass alle anderen Menschen verschwunden sind. Sie ist allein. Was ist geschehen? Auf der Suche nach einem Weg zurück in ihre vertraute Welt begegnet sie nach und nach anderen, die sich ihr anschließen, um das Rätsel um ihr Verschwinden zu lösen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. Apr. 2020
ISBN9783750232877
Allein: Wenn die Erde still steht.

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    Buchvorschau

    Allein - Florian Wächter

    Hinweis:

    Die Figuren der folgenden Geschichte sind frei erfunden. Die Stadt existiert tatsächlich. Die Handlung … entscheiden Sie selbst.

    Der Autor wünscht Ihnen viel Vergnügen beim Lesen!

    „Wir sind gewöhnt, dass alles auf Knopfdruck funktioniert, dass man jederzeit jeden erreichen kann. Das gilt in dieser Welt nicht mehr."

    (Robert Lang)

    1 Die verlassene Stadt

    1.

    Es war kein Geräusch, das sie weckte. Nein, es war die vollkommene Stille, die immer tiefer in ihr Unterbewusstsein vorgedrungen war und Lisa aus dem Traumland entführte. Noch konnte ihr Bewusstsein diese Information nicht verarbeiten, denn die Klauen des Tiefschlafs versuchten sie an den Ort des Vergessens zurück zu holen. Nur mit Mühe gelang es ihr, die Augen zu öffnen, und sie warf einen Blick auf den Wecker. Dort, wo normalerweise die Digitalanzeige in leuchtend blauen Ziffern die aktuelle Uhrzeit anzeigen sollte, herrschte absolute Dunkelheit. Lisa konnte sich selbst und einen Teil des Schlafzimmers in der spiegelnden Oberfläche des Glases erkennen. Seufzend bettete sie ihren Kopf im raschelnden Polster, lag eine Weile ganz ruhig, starrte an die Zimmerdecke und betrachtete das vertraute Muster der feinen Risse und Unebenheiten im Verputz. Sie lauschte, aber kein Laut drang an ihr Ohr. Nur ihr eigener Atem vermochte sie davon zu überzeugen, dass das Gehör noch einwandfrei funktionierte.

    Als sie die Stille nicht mehr aushielt, schlug Lisa das Laken auf, schwang ihre Beine aus dem Bett und gähnte. Mit einer Hand ertastete sie das Kabel, das vom hinteren Teil des Weckers zur Steckdose führte. Sie zerrte daran und fand, dass alles seine Ordnung hatte. Lisa drückte zerstreut einige Knöpfe. Dann zog sie mit einer resignierenden Handbewegung den Stecker aus der Dose. Sie war zu der Überzeugung gelangt, dass er seinen letzten Dienst erfüllt hatte, als er sie am Vortag pünktlich aus den Federn geholt hatte, damit sie ihren Schülern die Zeugnisse übergeben konnte. Sie würde sich wohl oder übel einen neuen besorgen müssen.

    „Schade um den schönen Wecker", murmelte sie kopfschüttelnd, während sie träge ins Badezimmer schlurfte, und musste plötzlich über sich selbst lachen. Früher hatte sie Leute belächelt, die Selbstgespräche führten, doch in letzter Zeit kam es immer öfter vor, dass sie ihre inneren Dialoge über die Stimme austrug. Die Ursache dieser Entwicklung führte sie darauf zurück, dass sie schon allzu lange allein lebte. Genau genommen tat sie dies, seit sie vor einigen Jahren nach Wien gezogen war, vom ländlichen Elternhaus direkt in die erste eigene Wohnung in dieser vor Hektik pulsierenden Großstadt.

    Ihr Atem beschlug den Spiegel, und sie betätigte den Lichtschalter.

    Klick. Normalerweise hätte sie dieses Geräusch nicht erschreckt. Normalerweise wäre auch das Licht angegangen.

    Klick. Klick. Lisa spürte, wie sich im Halbdunkel ihre Nackenhaare aufstellten.

    Klick. Klick. Klick. Mist!

    Nichts geschah. Kein Licht, kein zuckendes Flackern mit dem die Neonröhre sonst ihre Arbeit aufnahm. Sie dachte, dass der Leuchtkörper ebenso kaputt gegangen war, und machte sich eine geistige Notiz, auch diesen bei Gelegenheit auszutauschen.

    „Ist es nun an oder aus?" Klick. Mist! „Geht denn heute alles schief?"

    Nachdem der erste Schreck überwunden war, begab sie sich zurück ins Schlafzimmer und bedachte den Wecker mit einem missfälligen Blick. Sie ging weiter ins Wohnzimmer und überprüfte auch dort den Lichtschalter.

    Klick. Nichts rührte sich. Gut, weiter in die Küche. Ich glaube, wir haben hier ein größeres Problem!

    Dort wurde zur Gewissheit, was sie schon im Wohnzimmer vermutet hatte. Eine Pfütze vor dem Kühlschrank bestätigte ihren Verdacht. Der Strom musste irgendwann im Laufe der Nacht ausgefallen sein, und die erste Aufgabe in ihrem wohlverdienten Urlaub bestand darin, den Küchenfußboden aufzuwischen.

    „Na prima! So ein verdammter Mist", fluchte sie und schlug mit der flachen Hand auf die Arbeitsfläche, sodass das Besteck in der Schublade darunter schüchtern klirrte. Sie fischte mit einer ungeschickten Verbeugung ein Wischtuch unter der Spüle hervor und vernahm ein Knacken, das ihre Bandscheiben dabei erzeugten.

    Wenn sie in die Knie gehen, dann ersparen sie ihrem Rücken eine Menge Ärger, Frau Wagner, äffte sie im Geiste ihren Orthopäden, Dr. Wittmann, einen schrulligen kleinen Kerl mit buschigen Augenbrauen, nach. Also tat sie Dr. Wittmann und ihrem Rücken den Gefallen und ging in die Hocke, als sie den Fußboden trockenzulegen begann.

    Nachdem sie die unerfreuliche Reinigungsarbeit erledigt hatte, beschloss sie, den Sicherungskasten zu inspizieren. Sie ging in den Vorraum, öffnete die kleine Blechtüre und starrte mit zugekniffenen Augen ins Kästchen und sah, dass alle Hebel in der gewohnten Position standen. Sie drückte den Hauptschalter aus der Arretierung nach unten, doch auch er schien in Ordnung zu sein, also aktivierte sie ihn wieder. Sie hätte genauso unter die Motorhaube eines Wagens schauen können. Mit ähnlichem Erfolg. Was technische Dinge betraf, verfügte sie nicht gerade über erwähnenswerte Kenntnisse. Sie würde wohl oder übel zum Hausmeister hinuntergehen müssen, um ihn zu bitten, sich der Sache anzunehmen. Sie würde es nicht gerne tun, da er in ihren Augen ein Chauvinist erster Güte war. Lisa hörte ihn schon jetzt seine anzüglichen Bemerkungen machen, aber sie brauchte Strom und beschloss daher, in den sauren Apfel zu beißen und alle Demütigungen tapfer hinzunehmen.

    Nachdem sie Blue Jeans und ein T-Shirt übergezogen hatte, wusch sie sich oberflächlich das Gesicht und bürstete ihr kinnlanges, blondes Haar durch. Als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, ging sie zur Wohnungstür und trat auf den Flur hinaus. Dieser roch angenehm neutral. Zum allerersten Mal blickte sie auf die Armbanduhr und stellte erstaunt fest, dass es schon viertel vor zwölf war. Sie wusste nicht, was sie mehr beunruhigen sollte; Die Tatsache, dass es schon fast Mittag war, und sie den ganzen Vormittag verschlafen hatte, oder der Umstand, dass sie keinerlei Geräusche wie klapperndes Geschirr oder schreiende Kinder vernehmen konnte.

    Wahrscheinlich ist der Strom im ganzen Haus ausgefallen und jetzt steht alles still. Das kommt davon, wenn man sich zu sehr auf die Elektrizität verlässt. Wenn der Saft einmal für längere Zeit abgestellt wird, bricht das ganze System zusammen, dachte sie.

    Lisa hatte schon einige Katastrophenfilme im Nachtprogramm gesehen und sich gewundert, ob sich in Wirklichkeit ebenfalls eine Schar unerschrockener Helden finden würde, die allen Schwierigkeiten zum Trotz einen Weg aus dem Schlamassel findet und als Draufgabe ganz nebenbei den Rest der Menschheit rettet. Sie persönlich glaubte da schon eher an die Chaos-Theorie, jeder gegen jeden, und dass das Ende der Menschheit anders aussehen würde, als man sich das in Hollywood vorstellte.

    Sie tastete sich an der Wand vorsichtig den Flur entlang, an den stillen Nachbarwohnungen vorbei. Der Gang lag im Inneren des Gebäudes und besaß keine Fenster. Die natürliche Beleuchtung bestand lediglich aus einer gläsernen Dachluke im Dachgeschoss, die in einem sechsstöckigen Haus, das ohne Strom war, natürlich zu wenig Licht spendete. Lisa lauschte in die Dunkelheit und versuchte möglichst flach zu atmen, was ihr durch das Stufensteigen relativ schwer fiel. Sie musste vier Stockwerke ins Parterre hinab überwinden, wobei es immer dunkler wurde, je weiter sie vorankam.

    Eigenartig. Normalerweise sollte man viel sensibler auf Geräusche reagieren, wenn man sich im Dunkeln aufhält. Ich höre nichts, außer meinem Herzschlag und meinen eigenen Schritten.

    Eine weitere Tatsache begann sich bei ihr bemerkbar zu machen. Man bekommt im Dunkeln leichter Angst. Lisa ärgerte sich über sich selbst, weil sie nicht daran gedacht hatte, eine Kerze oder Taschenlampe mitzunehmen, doch umdrehen wollte sie auf halbem Weg auch nicht. Als sie die Stufen vom ersten Stock ins Erdgeschoss hinabstieg, wurde es wieder ein wenig heller, da durch die Glaselemente im Eingangsbereich genügend Licht hereinfiel, um den Rest des Flurs bis zur Hausmeisterwohnung zu beleuchten. Sie hielt kurz an der Wohnungstür inne und betrachtete das Schild über dem Guckloch.

    HAUSWART, stand in großen, weißen Buchstaben darauf, die in der Düsternis unheimlich fluoreszierten. Dennoch bewirkte dieser zarte Schimmer, dass sie sich ein wenig wohler fühlte, trotz des schwarzen Lochs, das sich hinter ihrem Rücken ausbreitete. Lisa atmete noch einmal durch, bevor sie klopfte.

    Er soll nur ja nicht glauben, ich hätte Angst. Das macht solche Kotzbrocken wie ihn nur noch unverschämter, als sie ohnehin schon sind.

    Sie klopfte. Zuerst noch leise und zaghaft, wartete, bevor sie nochmals mit den Fingerknöcheln auf das Holz schlug. Dieses Mal heftiger. Sie stand still und horchte. Dann hämmerte sie ihre Faust gegen die Tür. Nichts rührte sich. Mist!

    2.

    Robert Lang bewohnte ein Appartement direkt am Donaukanal. Es war eigentlich viel zu groß für einen Junggesellen, doch er hatte es vor vier Jahren günstig angeboten bekommen. Die Familie, die vorher darin gewohnt hatte, musste dringend umziehen und hatte keine Zeit zu verlieren gehabt. Daraus resultierte eine relativ niedrige Ablöse.

    Er benutzte gar nicht alle Zimmer und hatte sogar schon an Untervermietung gedacht, doch er wollte keine Fremden in der Wohnung haben, und so hatte er die Idee wieder verworfen. Der Vorteil einer großen Wohnung liegt darin, dass man sich ungebremst ausbreiten kann, ohne das Risiko eingehen zu müssen, ständig über irgendwelche Dinge zu stolpern. Lediglich sein Arbeitszimmer hatte sich seit dem Einzug in ein heilloses Durcheinander von Aktenordnern, Schnellheftern, Papierstapeln, Computerzubehör und vielen anderen Utensilien, die er für die Arbeit als Journalist benötigte, entwickelt.

    Robert kam eben aus jenem Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich. Kein Strom in der ganzen Wohnung. Schweinerei!

    Er warf einen Blick aus dem Wohnzimmerfenster zu den gegenüberliegenden Häusern. Obwohl diese gut zweihundert Meter entfernt waren, konnte er normalerweise in der Morgendämmerung den schwachen Schein der Lichter in den Wohnungen deutlich erkennen. Doch heute waren die Fenster dunkel. Er kam zu dem Schluss, dass der Strom in größerem Umfeld ausgefallen sein musste.

    Bevor er sein Appartement verließ, kontrollierte er den Sicherungskasten neben der Wohnungstür, konnte jedoch wie erwartet keinen Defekt feststellen. Also trat er auf den Flur hinaus und verharrte einen Augenblick, bis sich seine Augen an das Zwielicht gewöhnten. Er verstaute den Wohnungsschlüssel in einer kleinen Tasche seiner Fitnesshose und schlurfte vorsichtig auf den Stiegenabgang zu, wobei die Sohlen seiner Laufschuhe leise quietschten. Geistesabwesend drückte er den Lichtknopf, doch im Stiegenhaus blieb es dunkel, und so tastete er sich weiter vorwärts bis ins Erdgeschoss.

    Das Eingangstor knarrte beim Öffnen, wie sie es jeden Tag tat, nur dieses Mal kam ihm das Geräusch lauter vor als sonst. Er trat ins Freie und blickte auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach sechs. Am Straßenrand angekommen, schaute er automatisch nach links. Als er keinen Wagen auf der Einbahnstraße heranbrausen sah, setzte er sich in Bewegung.

    Robert war begeisterter Jogger, und als solcher pflegte er jeden Morgen und bei jedem Wetter vor dem Frühstück in der Prater Hauptallee zu laufen. Während er im lockeren Laufschritt die Fahrbahn überquerte, die dem Verlauf des Donaukanals folgte, kam ihm die Luft besonders schwül vor. Jedenfalls für diese Uhrzeit. Er lief zur Rotundenbrücke, über den Donaukanal zur anderen Seite in den zweiten Bezirk hinüber, von wo es nur noch ein Katzensprung zur Allee war.

    An einer Ampel, die ebenfalls ausgefallen war, hielt er nach sich nähernden Fahrzeugen Ausschau und setzte auf die andere Seite der Fahrbahn über. Er rannte weiter in Richtung Prater, in der sicheren Gewissheit, dass die Luft im Schatten der Kastanien kühler sein würde. Die nächste Stunde würde er nun nicht mehr anhalten müssen, somit konnte er sich auf seinen Rhythmus konzentrieren und das Joggen ungestört genießen.

    3.

    Lisa gab die Hoffnung auf, den Hausbesorger daheim anzutreffen. Er hatte auf ihr Klopfen nicht reagiert. Sie stieg die Treppen zum Keller hinunter und öffnete die schwere Eisentür, deren rostige Scharniere mit lautem Quietschen protestierten. Es erinnerte sie an das Knarren von Türen in Gruselfilmen.

    „Herr Schwarz? ... Hallo! ... Sind sie da?", rief sie mit zitternder Stimme ins Dunkel hinein.

    Als Antwort kam ein Schwall muffiger Luft zurück.

    „Herr Schwarz", probierte sie es nochmals und machte einen Schritt vorwärts. Lisa lugte um die Ecke in den ersten Quergang und lauschte mit angehaltenem Atem in die Stille. Kein Laut. Sie drehte sich um und hastete die Treppen zum Erdgeschoss empor. Dieser Keller hatte wie immer etwas Bedrohliches an sich, doch heute spürte sie diese Bedrohung intensiver als sonst. Lisa konnte nicht sagen, woran das lag. Es war einfach nur dieses Gefühl, dass irgendetwas Eigenartiges vor sich ging. Beim Fahrradabstellraum, gleich neben dem Fahrstuhl, blieb sie stehen. Sie warf einen Blick hinein. Einige kleine Reflektoren - Katzenaugen - blitzten auf. Sie erschrak und fühlte plötzlich, wie ihr Magen eine Etage tiefer rutschte.

    Beruhige dich! Es sind nur Fahrräder!

    Trotzdem blieb das Gefühl, beobachtet zu werden, und so schlug sie die Tür mit einem lauten Krachen zu. Die kahlen Wände im leeren Stiegenhaus warfen das Poltern einige Male zurück, dann war es wieder ruhig.

    Zu ruhig.

    Lisa inspizierte den Müllraum. Aber er war dunkel und leer. Sie sah zur Klinke der Waschraumtür hinüber.

    Vergiss es! Er ist nicht da. Niemand ist da!

    Zu ruhig … dieser Gedanke ließ sie nicht mehr los.

    Es war so leise im Haus, dass sie sich fragte, ob es wirklich nur am Stromausfall liegen konnte. Sie machte auf dem Absatz kehrt und huschte zum Stiegenaufgang zurück. Dort blieb sie stehen und sah die Treppe hoch. Diese führte in einen dunklen Schlauch hinein, dessen Ende man nicht sehen konnte, als ob der erste Stock und alles, was noch dahinter kam, hinter einem dunklen Vorhang verborgen liegen würde.

    Sie stand etwa zehn Minuten unentschlossen am Fuß der Treppe und betrachtete wie versteinert den Eingang zu dem schwarzen Loch, das den einzigen Weg zurück in ihre eigenen vier Wände bildete. Die vertraute Umgebung würde ihr die relative Sicherheit geben, die sie im Moment mehr herbeisehnte als alles andere. Lisa hoffte, dass ein Nachbar vorbeikäme, der sie begleiten konnte. Bei einem Wohnhaus, in dem etwa vierzig Parteien wohnten, musste doch früher oder später jemand ein- oder ausgehen.

    Was, wenn ich jetzt den halben Tag hier verbringe und darauf warte, dass jemand kommt? Bei meinem Glück lässt sich just heute keiner mehr vor dem Abend blicken. Warum habe ich nicht daran gedacht, eine Kerze mitzunehmen? Das ist doch zu blöd! ... Nein es ist einfach lächerlich, hier zu stehen und zu warten. Was soll schon geschehen? Entweder ich stehe hier bis zum jüngsten Tag, oder ich reiße mich zusammen und bin gleich wieder zuhause.

    Lisa nahm all ihren Mut zusammen und hastete Stufe für Stufe empor, wobei sie mit der rechten Hand das Geländer fest umklammerte und die Linke wie eine Blinde von sich streckte. An ihrer Wohnungstür angelangt, blickte sie ein letztes Mal über die Schulter zurück, während sie mit zittrigen Händen den Schlüssel ins Schloss steckte. Sie stieß die Tür auf und verschwand in ihrer Wohnung. Ihr war nicht ganz klar, warum sie derart verunsichert auf die Stille im Haus reagierte.

    Zu ruhig. Da war es wieder, dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Es ist nur ein ganz normaler Stromausfall, verdrängte sie den beunruhigenden Gedanken.

    Lisa ging in die Küche und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Die Luft in dem kleinen Raum war ziemlich stickig, denn die Sonne hatte den ganzen Vormittag zum Fenster hereingescheint. Sie öffnete es, und eine Brise feuchtheißer Sommerluft schlug ihr ins Gesicht.

    Na fein. Draußen ist es auch nicht kühler!

    Plötzlich verspürte sie das Verlangen nach einem starken Kaffee.

    Wenigstens Wasser und Gas stehen mir zur Verfügung.

    Sie stellte einen kleinen Rein mit Griff auf den Herd und erwärmte das Wasser über den zischenden Flammen. Dann beobachtete sie, wie kleine Luftbläschen an die Oberfläche stiegen, drehte den Herd ab und goss das heiße Wasser in den vorbereiteten Filteraufsatz. Rasch verbreitete sich der Kaffeduft in der kleinen Küche. Sie nahm die Tasse mit dem dampfenden Inhalt und sah aus dem Fenster.

    Im Innenhof, den man von dort aus überblicken konnte, wuchsen vier gewaltige Kastanienbäume. An anderen Tagen tummelten sich dort Scharen von Amseln und Spatzen in den Zweigen, und Kinder spielten kreischend in deren Schatten. Doch heute wirkte der Hof so trostlos und leer wie das Haus. Lisa hing ihren Gedanken nach, sodass sie diesem Umstand kaum Beachtung schenkte. Sie nippte an ihrer Tasse und dachte, dass sie nicht in der Garage nachgesehen hatte, ob sich der Hausmeister vielleicht dort aufhielt. Manchmal bestreute er Ölspuren und Benzinlacken mit Sägemehl oder wechselte ein schadhaftes Lämpchen aus.

    Nicht sehr sinnvoll, bei einem Stromausfall Lämpchen auszuwechseln! Auf so eine Idee kommst auch nur du, dachte sie und musste über sich selbst schmunzeln.

    Lisa begann, ihre nächsten Schritte zu planen, während sie am Fenster stand und Kaffee schlürfte. Sie wollte eine Dusche nehmen, danach eine Kleinigkeit essen und später einen Spaziergang im Park unternehmen. Wenn sie am Nachmittag zurückkäme, wäre das Problem mit dem Stromausfall höchstwahrscheinlich erledigt. Sie spürte neue Zuversicht durch ihren Körper strömen und fühlte sich deutlich besser. Die Kaffeetasse verschwand im Geschirrspüler und Lisa im Badezimmer, wo sie sich frischmachen wollte - für ihren ersten Ferientag, der zwar etwas unglücklich begonnen hatte, doch sie nahm sich vor, das Beste aus der Situation zu machen.

    Sie streifte ihre Kleidung ab und stieg in die Duschkabine. Anfangs war das Wasser noch angenehm warm...

    4.

    Robert hatte sich geirrt, was den Schatten der Allee betraf. Heute schien dieser bedeutungslos zu sein, denn es war selbst für einen Sommermorgen ungewöhnlich heiß und schwül. Der Schweiß rann ihm in Sturzbächen an Gesicht, Armen und Rücken herab. Er blickte auf seine Armbanduhr.

    Viertel vor Sieben!

    Er war fix und fertig, konnte sich nicht erinnern, dass die Luft schon einmal so drückend gewesen wäre. Zwar hatten sämtliche Wetterfrösche für diesen Nachmittag heftige Sommergewitter vorhergesagt, doch mit diesen Verhältnissen war nicht zu rechnen gewesen. Er wollte eigentlich noch einige Recherchen für einen Artikel, an dem er gerade arbeitete, durchführen, doch nun befürchtete er, dass seine Pläne, den Nachmittag betreffend, im wahrsten Sinn des Wortes ins Wasser fallen würden.

    Er beschloss, das Training zu beenden und nach Hause zurückzukehren. Im lockeren Laufschritt bog er von der Allee ab und begann sich das erste Mal, seit er von daheim aufgebrochen war, bewusst mit der näheren Umgebung zu befassen. Es war ihm keineswegs entgangen, dass er noch keinem Menschen begegnet war, hatte diesen Umstand jedoch auf das Wochenende, die frühe Stunde, das schwüle Wetter und den ersten Ferientag zurückgeführt. Wenngleich normalerweise am ersten Ferientag eine große Stampede Richtung Süden aufbrach. Jedenfalls in den Jahren zuvor war das der Fall gewesen.

    Ich kann nichts hören. Vielleicht ein Druck in den Ohren?

    Als er die Donau-Lände erreichte, um den Kanal an diesem Morgen zum zweiten Mal zu überqueren, hielt er an. Die an anderen Tagen stark frequentierte Straße war noch immer leergefegt. Er sah nochmals auf seine Uhr, um sicher zu gehen.

    Das gibt es doch nicht!

    Es begann ihn leicht zu frösteln.

    Was zum Henker ist hier eigentlich los?

    Er begriff, dass irgendetwas geschehen sein musste, dass noch nicht bis zu seinem Verstand vorgedrungen war. Er stolperte einige Schritte weiter bis zur Mitte der Fahrbahn, wo er abermals stoppte. So stand er mit halb geöffnetem Mund da und starrte die Straße hinunter, als würden dort zigtausend nackte Frauen für mehr Gleichberechtigung demonstrieren.

    Was ist...

    Er vollzog eine halbkreisförmige Drehung, wobei er mit weit aufgerissenen Augen versuchte irgendeinen Menschen oder eine Bewegung, irgendwelche Anzeichen von Aktivitäten innerhalb seiner Reichweite zu erkennen. Seine Lähmung begann sich langsam wieder zu lösen, und seine Gedanken meldeten sich in Zeitlupentempo von dort zurück, wohin auch immer sie in der letzten Minute verschwunden waren. Ein leichtes Schwindelgefühl überkam ihn. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Als er sie wieder öffnete, hatte er sich wieder halbwegs im Griff.

    Okay! Ich kann niemanden auf der Straße sehen. Dafür muss es eine logische Erklärung geben. Meine Uhr funktioniert nicht richtig - allerdings steht die Sonne dort, wo sie sein soll, also können wir die Möglichkeit, dass es viel zeitiger ist, als ich dachte, nicht in Betracht ziehen. ... Die Straße kann auch nicht wegen eines Unfalls gesperrt worden sein, denn das hätte keinerlei Einfluss auf den Verkehr am anderen Ufer. Drüben ist aber auch keiner unterwegs!

    Sein Blick wanderte auf die andere Seite des Kanals hinüber.

    Nichts. Kein Auto. Keine Leute. Irgendetwas ist geschehen, sodass keiner auf der Straße unterwegs ... Oh mein Gott!

    Er begann wieder zu laufen. Richtung zuhause. Über die Brücke.

    Wie konnte ich nur so dämlich sein! Ein Atomunfall, ein Supergau, sie haben es sicherlich im Radio durchgesagt! Niemand soll seine Wohnung verlassen, … und ich Idiot bin hier herumgelaufen und habe mich der Strahlung ausgesetzt! Ich muss schleunigst weg von hier, nach Hause!

    In seinem Kopf schrillten die Alarmglocken. Ein heiseres Krächzen entfuhr seiner Kehle, als er an der nächsten Kreuzung anhielt, um neuerlich nach Fahrzeugen Ausschau zu halten.

    Idiot! Weiter! Schnell!

    Er setzte sich wieder in Bewegung, während sein Gehirn Bilder von Strahlenopfern der letzten großen Atomkatastrophe in Tschernobyl reproduzierte. Er stieß das Haustor auf und rannte die Treppen hinauf, immer zwei auf einmal nehmend. Seine Gedanken rasten nun Wirbelstürmen gleich durch seinen Kopf. Zusammenhängendes Denken schien nun unmöglich geworden zu sein. An der Wohnungstür angekommen, bemerkte er einen weißen Fleck von der Kalkfarbe des Flurs am rechten Arm, den er sich zudem leicht aufgeschürft hatte, ohne es zu bemerken. Ein irres Kichern entfuhr seiner Kehle, als er in seine Wohnung stürzte und über die Auswirkungen eines Unfalls in einem Atomreaktor nachdachte. Wie verschwindend gering das Problem eines weißen Flecks sich im Vergleich dazu ausmachte.

    Mit dem Zuschlagen der Tür und dem damit verbundenen Gefühl der relativen Sicherheit, gewann die Vernunft wieder Oberhand über sein Denken.

    Der Stromausfall!

    Er probierte den Lichtschalter. Klick. Nichts geschah.

    Wenn der Stromausfall irgendwie damit zusammenhängt, wie komme ich dann zu Informationen?

    Langsam kam sein journalistisches Denken auf Touren. Er stürzte zum Telefon und nahm den Hörer von der Gabel, lauschte. Tot. Die Leitung gab keinen Mucks von sich.

    Was in Herrgottsnahmen mach’ ich jetzt?

    Robert knallte den Hörer auf die Gabel zurück. Schweißperlen, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten und langsam durch die Augenbrauen gesickert waren, rannen ihm in die Augen. Diese begannen zu brennen, deshalb stolperte er augenreibend ins Badezimmer.

    Ich werde erst einmal duschen, bevor ich etwas unternehme. Ich schwitze wie ein Schwein. Außerdem muss ich den Staub loswerden, er könnte kontaminiert sein!

    Er entledigte sich rasch seiner Sachen und stieg in die Brausetasse.

    Hoffentlich ist es noch nicht zu spät!

    Es wurde ein kurzes Duschvergnügen, denn dank des fehlenden Stromes war das Wasser eiskalt.

    5.

    Es war kurz vor dreizehn Uhr, als Lisa das Haus verließ, in der Absicht eine Zeitung zu kaufen, den Park des Belvedere-Schlosses aufzusuchen, um es sich auf einer der Bänke gemütlich zu machen und die Sonnenstrahlen zu genießen, während sie darauf warten würde, dass der Strom - Nervensystem der modernen Gesellschaft - wieder seinen Weg in ihren Haushalt finden würde. Doch der Tag sollte abermals einen anderen Verlauf nehmen als geplant.

    Die Luft hatte sich mit Feuchtigkeit vollgesogen und die Hitze weiter zugenommen, doch der Himmel zeigte sich noch immer strahlend blau. Als sie das Haustor hinter sich zuzog, traf sie diese feuchtheiße Luft wie eine Ohrfeige. Das Gefühl hatte sie schon einmal erlebt, als sie eine Urlaubsreise mit ihren Eltern nach Sri Lanka unternommen hatte. Sie war damals sechzehn Jahre alt und das erste Mal in den Tropen gewesen. Daher würde sie den Augenblick, in dem sie vom Flugzeug heraus auf die Gangway trat, niemals vergessen. Damals hatte sie das tropische Klima mit derselben Wucht getroffen wie die Luft gerade eben. Blinzelnd verharrte sie in der Eingangsnische und kramte in der Handtasche nach der Sonnenbrille. Sie setzte die Brille auf ihre Nase und marschierte los. Eine Windbö wehte ihr Haar in alle Richtungen. Irgendwo weiter vorne in der Gasse schepperte etwas blechern, ansonsten war es auch auf der Straße ungewöhnlich ruhig.

    Zu ruhig. Da war es wieder!

    Die Trafik, zu der sie wollte, befand sich nur einen Häuserblock weiter. Dennoch musste sie sich beeilen, wenn sie eine Zeitung haben wollte. Obwohl der Trafikant es normalerweise mit den Ladenschlusszeiten nicht so genau nahm, war es möglich, dass er heute ausnahmsweise einmal pünktlich zusperrte. Bekanntlich kommt ein Unglück selten allein, und heute war alles andere als Lisas Glückstag. Sie erreichte die kurze Steintreppe, die zur Geschäftstüre hinaufführte. Lisa stieg sie hoch und rüttelte am Knauf, doch die Tür ließ sich nicht öffnen, sie war abgeschlossen. Lisa seufzte und warf einen Blick ins Innere, das ihr ebenso dunkel erschien, wie das leere Anzeigefeld ihres Weckers heute Morgen.

    Wenn ich eine Zeitung will, werde ich wohl oder übel einen Umweg über den Südbahnhof machen müssen.

    Auf dem Weg zum Bahnhof musste sie den Elisabethplatz zwischen der roten Ziegelsteinkirche, deren Glockenturm hoch in den Himmel stach, und der Volksschule, an der sie unterrichtete, überqueren. Die Zeiger der Kirchturmuhr standen auf halb drei Uhr, doch Lisa nahm keinerlei Notiz davon.

    Vor ihrem geistigen Auge sah sie ein Gewühl aus Kindern, Eltern und Schulpersonal aus allen Richtungen kommend über den Vorplatz dem Schultor entgegenströmen. Eine pulsierende Masse, die sie an einen Ameisenhaufen erinnerte. Das Durcheinanderlaufen, Kreischen, Rufen, Lachen und Hopsen, wenn die Kinder einander begrüßten, Neuigkeiten austauschten oder einander neckten, konnte eine unsichtbare Energie erzeugen, die ihr Herz mit Wärme erfüllte, wann immer sie zur Arbeit ging.

    Doch nun lag der Platz zwischen Kirche und Schule einsam und verlassen da und brütete unter der Junisonne dahin, als würde er sehnsüchtig darauf warten, dass die Ferien, die eben erst begonnen hatten, endlich wieder zu Ende gehen würden. Die Rutsche und die Schaukeltiere aus Holz, die mit daumendicken Stahlfedern auf dem Boden befestigt waren, standen nun unbenützt in der Gegend herum und erholten sich von den Strapazen, die sie während der Schulzeit erdulden mussten.

    Eine weitere Windbö fuhr raschelnd durch die Bäume und zerrte an Lisas Haar und Gewand und trieb einen Fetzen Papier über den gepflasterten Boden. Als sie den Platz hinter sich gelassen hatte, bog sie in die Straße ein, die zum Bahnhof hin leicht anstieg, und folgte deren Verlauf. Drei Häuserblocks weiter erreichte sie die Gürtelstraße, welche die Innenbezirke von den Außenbezirken trennte. An der Ampel angekommen, hielt sie kurz inne, um nach Fahrzeugen zu sehen, da diese nicht in Betrieb war.

    Der Strom ist in größerem Ausmaß ausgefallen, als ich vermutet habe!

    Verwundert stellte sie außerdem fest, dass weit und breit kein einziges Auto zu sehen war, ganz im Gegenteil zum gewohnten Verkehrsaufkommen, das den Gürtel normalerweise beherrschte. Das stets präsente Gefühl, dass etwas nicht stimmte, drängte sich nun mit aller Macht in den Vordergrund. Lisa überquerte ungehindert die breite Fahrbahn und stolperte panisch an dem neu errichteten Parkhaus vorbei. Sie betrat die dunkle und verhältnismäßig kühle Halle des Südbahnhofs. Der Kontrast zur gleißenden Helligkeit und Hitze außerhalb der Halle riss Lisa aus ihren wirren Gedanken. Sie sah sich um, konnte jedoch im ersten Augenblick nichts erkennen. Es war viel zu dunkel in der Halle.

    Die Brille!

    Sie nahm die Sonnenbrille von der Nase. Lisa starrte nun in das Halbdunkel, das sich vor ihr ausbreitete. Stille. Nichts rührte sich. Sie konnte nicht die kleinste Bewegung wahrnehmen. Ihre Augen begannen sich zwar an die spärlichen Lichtverhältnisse zu gewöhnen, doch sie konnte nirgendwo eine Menschenseele entdecken. Sie war auch außerstande, irgendwelche von Menschen verursachte Geräusche wahrzunehmen.

    Eine Windbö streifte um das Gebäude und brachte die getönten Scheiben der Glasfront zum Knistern. Es war das einzige Geräusch, danach herrschte wieder Stille.

    Der Stromausfall! Deshalb ist es hier so dunkel, hämmerte es in ihrem Kopf. Aber das erklärt nicht diese Stille! Und wo sind all die Menschen? Hier wimmelt es normalerweise vor lauter Menschen!

    Ihr verängstigtes Herz begann nun laut zu schlagen, und der Brustkorb schien plötzlich viel zu eng dafür zu sein. Verschiedenste Erinnerungen wirbelten plötzlich durch ihren Kopf. Dinge, die sie zuvor nur unbewusst wahrgenommen hatte. Kleinigkeiten, Nebensächlichkeiten, die jetzt plötzlich lauter große Fragezeichen hinterließen.

    Zuhause habe ich niemanden angetroffen, weder den Hausmeister noch einen Nachbarn. Keine Geräusche im ganzen Haus. Herr Binder, der Trafikant, war nicht da. Am Kirchplatz ... kein Mensch. Auf der Straße? ... Bin ich da jemandem begegnet? ... Ich denke nicht. Keine fahrenden Autos, nicht einmal am Gürtel, ... und hier ...

    Sie ließ den Blick abermals umherschweifen, sah in jeden Winkel der Halle, doch der Bahnhof, der sonst so belebt war, wie eines der großen Einkaufszentren am Stadtrand, blieb leer. Am Kiosk, im Schnellrestaurant, beim Bäcker, am Proviantladen, vor dem Wettbüro und auch an den Ticketschaltern waren weder Menschen noch sonst irgendwelche Lebenszeichen auszumachen. Die Szene erinnerte sie eher an einen Provinzbahnhof zur Mittagszeit, wenn der Bahnhofsvorsteher Mittagspause hält, weil er in der nächsten Stunde keinen Zug erwartete.

    Aber das ist der Südbahnhof! Irgendwo muss doch jemand sein!

    Lisa durchquerte die Halle ein wenig schneller, als sie sonst zu gehen pflegte. Immerhin war sie nun ziemlich aufgeregt. Und sehr beunruhigt. Sie trug zwar Halbschuhe mit Gummisohlen, war sich aber sicher, dass sie ein leichtes Echo ihrer Schritte hören konnte, so ruhig war es in der Halle. Sie blickte mit weit aufgerissenen Augen in jede dunkle Nische, während sie zum automatischen Förderband schritt, das natürlich im Moment außer Betrieb war und daher still stand. Über dieses, das hinauf zur zweiten Ebene führte, würde sie auch zu den Bahnsteigen gelangen. Mit jedem Schritt, den sie darauf zurücklegte, entfernte sie sich vom Hallenboden. Auf der Galerie angekommen, starrte sie in die unter ihr liegende Halle.

    Von oben wirkte die leere Bahnhofshalle noch unrealistischer, als von unten betrachtet, was den Eindruck des Unwirklichen an dieser ganzen Situation noch verstärkte. Sie wandte sich zuerst den Bahnsteigen zu, von denen hauptsächlich die Schnellbahnen und Regionalzüge abfuhren, doch als sie dort angekommen war, musste sie mit wachsendem Entsetzen feststellen, dass sich nur ein einziger Mensch dort aufhielt. Nämlich sie selbst.

    Der Kontrollraum hinter der Glasscheibe, wo normalerweise eine Vielzahl von Bildschirmen flackerte, war dunkel und leer. Die Bahnsteige waren verlassen, niemand zu sehen.

    Das gibt es doch nicht! Wenn hier keiner ist, wo dann? Vielleicht bei den anderen Bahnsteigen? Das ist die letzte Möglichkeit, die mir einfällt.

    Irgendwoher erklang ein Scheppern und ein feines Klirren folgte. Lisa erschrak, und Sekundenbruchteile später fegte eine heftige Windbö über die leeren Bahnsteige. Sie blickte zwischen den Bahnsteigüberdachungen hindurch in den Himmel. Die Sonne war hinter grauen Wolken verschwunden, die sich rasch genähert haben mussten, während sie sich innerhalb des Bahnhofsgebäudes aufgehalten hatte.

    Lisa drehte um und eilte den Weg zurück, den sie gekommen war. Es gab zwar noch einen zweiten Stiegenaufgang zu den anderen Bahnsteigen, doch sie wollte noch einen Blick in die Halle werfen. Sie weigerte sich beharrlich, die Tatsachen zu akzeptieren. Aber auch der zweite Blick in die leere Halle hinunter brachte keine neuen Erkenntnisse.

    Was hast du erwartet?

    Den Tränen nahe, lief sie das Förderband zur dritten Ebene hinauf, in die kleine Vorhalle, die in die restlichen Bahnsteige mündete. Mit dem ersten Rundblick erkannte sie, dass dieser Teil des Bahnhofes genauso unbelebt war wie der Rest.

    Mein Gott, was mach’ ich jetzt? Warum muss so etwas ausgerechnet mir passieren?

    Sie spürte, wie sich ihr Magen langsam umdrehte, während sie zur Glaswand wankte, von der aus man auf das Parkhaus und einen Teil der Stadt hinabsehen konnte. Sie versuchte verzweifelt wenigstens außerhalb des Gebäudes Menschen auszumachen, jedoch vergebens. Sie konnte die dicht gedrängten Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite erkennen, einige leere Taxis, die vor dem Seiteneingang der Halle geparkt standen, die Straßenbahnstation, aber keine Menschen. Der Wind trieb lediglich einige Blätter, Papierfetzen und anderen Unrat vor sich her.

    Ihr Herz schlug nun so heftig, dass ihre Halsschlagader zu schmerzen begann.

    Ich bin allein! Dieser Gedanke ließ sie erschauern.

    Sie war nun schweißgebadet, und ihre Bluse klebte an ihr wie eine zweite Haut. Sie erspähte ihr eigenes bleiches Gesicht mit den dünnen blutleeren Lippen, das für einen kurzen Augenblick von der Panoramascheibe reflektiert wurde. Verwirrt wandte sie sich von der Glaswand ab und schlurfte auf den Bahnsteig hinaus, der am nächsten lag, denn sie hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. An den Wangeninnenseiten schmeckte sie den säuerlichen Geschmack, der sich bildet, kurz bevor man sich übergeben muss. Doch soweit kam es nicht.

    Mama! Ihr letzter Gedanke galt ihrer Mutter, bevor sich die Welt um sie herum zu drehen begann. Sie fühlte nichts mehr. Sie wollte auch nichts mehr fühlen. Sie wollte endlich aus diesem Albtraum erwachen, um festzustellen, dass sie nur geträumt hatte. Sie nahm ein konstantes Rauschen wahr, das ihren ganzen Kopf zu erfüllen schien. Die ganze Welt bestand nur noch aus diesem brausenden Geräusch, dann sah sie den Fußboden in Zeitlupentempo auf sich zukommen. Das Rauschen verebbte, der Körper, über den sie keine Kontrolle mehr hatte, schien schwerelos zu sein. Den Aufprall bekam sie nicht mehr mit. Vollkommene Schwärze hüllte sie ein und entführte sie in eine tiefe Ohnmacht.

    6.

    Robert rieb seine müden Augen und stellte den Feldstecher auf dem Fensterbrett ab. Er suchte nun schon seit geraumer Zeit die Straße und die gegenüberliegenden Fensterreihen systematisch nach Lebenszeichen ab, hatte jedoch nichts weiter feststellen können, als dass sich nördlich der Stadt über dem Kahlenberg Gewitterwolken zusammenbrauten.

    Eigenartig, dass nirgendwo jemand am Fenster steht, so wie ich. Die anderen Leute müssten doch auch neugierig sein und herausschauen, wenn, ... wenn was?

    Ein Gedanke, eine Idee, was es mit all dem auf sich haben könnte, versuchte an die Oberfläche seines Denkens zu gelangen, schaffte es aber nicht, scheiterte an der Unvorstellbarkeit dieser Situation. Seit er daheim angekommen war, zermarterte er sich sein Gehirn auf der Suche nach einer logischen Erklärung, was geschehen sein könnte. Er hatte ebenso erfolglos versucht mit den Nachbarn Kontakt aufzunehmen, war von Tür zu Tür gegangen, hatte geklopft, gerufen, gewartet. Doch das Haus, in dem auch einige Büros und eine Zahnarztpraxis untergebracht waren, erwies sich als genauso leer wie die Straßen vor dem Haus.

    Er hatte sein altes Kofferradio, das vor zwei Jahren einer neuen Stereo-Anlage weichen musste, aus einem Karton im Bettzeugraum hervorgekramt, mit Batterien ausgestattet und war auf Sendersuche gegangen. Vergebliche Mühe, wie sich herausstellte. Außer einem konstanten Rauschen konnte es nichts empfangen.

    Gähnend ging er ins Badezimmer und benetzte sein Gesicht mit kaltem Wasser. Das war momentan die einzige Möglichkeit frisch zu bleiben, da die Espressomaschine und der Elektroherd nicht einsatzfähig waren. Er betrachtete sein Gesicht im Spiegel und fuhr mit der Hand über die kurzen Bartstoppeln.

    Ich werde wohl oder übel das Risiko eingehen müssen, hinaus zu gehen, wenn ich etwas in Erfahrung bringen will.

    Die Theorie eines radioaktiven Störfalles in einem Kernkraftwerk eines der benachbarten Staaten verwarf er nun endgültig. Somit bestand, nach eigenem Ermessen, die mögliche Chance für ihn ohne größere Gefahr ins Freie hinaus zu gehen, wenngleich er sich noch immer keinen Reim darauf machen konnte, warum sich keine Leute auf der Straße aufhielten. Er hatte keinen Karnevalsumzug erwartet, doch wenigstens den einen oder anderen Fußgänger, der den Kanal entlang schlenderte, oder vereinzelte Autofahrer, die unten am Haus vorbeifuhren.

    Warum sollte bei uns der Strom ausfallen, wenn ein Unfall in einem Nachbarland passiert? Wir produzieren unseren Strombedarf selbst. Unabhängig von anderen. Unsere Stromgesellschaften exportieren sogar Strom. Wir selbst verfügen über keine Atomkraftwerke. Zwentendorf ist nie in Betrieb genommen worden, spulte sein Gehirn automatisch ab.

    Er begab sich ins Vorzimmer und schlüpfte in ein Paar Halbschuhe. Wäre tatsächlich irgendetwas in dieser Richtung geschehen, und stünde darüber hinaus kein Strom zur Verfügung, dann hätten die Behörden einen anderen Weg, als den über die Medien, finden müssen, um die Bevölkerung zu informieren oder zu warnen.

    Robert verließ das Appartement und machte sich auf den Weg zu seinem Auto. Das Innen- oder Verteidigungsministerium hätte sich etwas einfallen lassen! Die Polizei oder das Bundesheer müssten durch die Stadt patrouillieren, um die Bevölkerung via Lautsprecher aufzuklären, was passiert ist.

    Er trat auf den Bürgersteig hinaus, blickte um sich. Das hätte ich sicherlich mitbekommen. Immerhin habe ich den ganzen Vormittag am Fenster zugebracht!

    Sein Wagen parkte unmittelbar vor dem Haustor. Er stieg ein und ließ den Motor an. Das Autoradio nahm automatisch den Betrieb auf und Robert lauschte dem konstanten Rauschen, das aus den Boxen drang.

    Seltsam, dass es derartig konstant ist. Keine Interferenzen!

    Ein leichter Schauer

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