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Aufwachsen in Geborgenheit: Wie der "Kreis der Sicherheit" Bindung, emotionale Resilienz und den Forscherdrang Ihres Kindes unterstützt
Aufwachsen in Geborgenheit: Wie der "Kreis der Sicherheit" Bindung, emotionale Resilienz und den Forscherdrang Ihres Kindes unterstützt
Aufwachsen in Geborgenheit: Wie der "Kreis der Sicherheit" Bindung, emotionale Resilienz und den Forscherdrang Ihres Kindes unterstützt
eBook485 Seiten14 Stunden

Aufwachsen in Geborgenheit: Wie der "Kreis der Sicherheit" Bindung, emotionale Resilienz und den Forscherdrang Ihres Kindes unterstützt

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Über dieses E-Book

Kinder sicher ins Leben begleiten

Viele Eltern fühlen sich heute sehr unter Druck, alles richtig zu machen. Doch Kinder brauchen keine perfekte Umgebung; das, was sie wirklich brauchen, ist Geborgenheit und emotionale Sicherheit. Kent Hoffman, Glen Cooper und Bert Powell haben das erfolgreiche pädagogische Konzept Der Kreis der Sicherheit entwickelt, das bereits Tausenden Familien geholfen hat, eine stabile Bindung zwischen Eltern und Kindern aufzubauen. Nun liegt ihr Ratgeber erstmals auf Deutsch vor. Mit ihm können Sie als Eltern lernen, wie Sie Ihrem Kind gleichermaßen Geborgenheit und Schutz geben und seine Eigenständigkeit fördern, welche emotionalen Bedürfnisse ein Kleinkind oder ein älteres Kind durch problematisches Verhalten zum Ausdruck bringt und wie Ihre eigene Kindheit sich auf Ihren Erziehungsstil auswirkt - und wie Sie etwas daran ändern können.

Mit eindrücklichen Geschichten und praktischen Anregungen erfahren Sie, wie Sie einen verständnisvollen Umgang mit sich selbst entwickeln sowie Flexibilität und die Bereitschaft, Fehler zu machen und daraus zu lernen - für ein achtsames Familienleben und ein geborgenes Aufwachsen Ihres Kindes.
SpracheDeutsch
HerausgeberArbor Verlag
Erscheinungsdatum16. Dez. 2020
ISBN9783867813570
Aufwachsen in Geborgenheit: Wie der "Kreis der Sicherheit" Bindung, emotionale Resilienz und den Forscherdrang Ihres Kindes unterstützt

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    Buchvorschau

    Aufwachsen in Geborgenheit - Kent Hoffman

    Einmal im Kreis herum

    Bindung und die Bedeutung von Sicherheit verstehen

    Du glaubst, weil eins und eins zwei ergeben, verstehst du zwei. Aber um das Wesen von zwei wirklich zu begreifen, musst du zuerst das „und" verstehen.

    JALALUDDIN RUMI,

    Dichter und Gelehrter aus dem dreizehnten Jahrhundert

    Bindung:

    Warum sie wichtig ist

    In ganz gewöhnlichen Momenten zwischen Eltern und Kindern geschieht etwas durchaus Bemerkenswertes:

    Danny wartet auf das aufmunternde Lächeln und Nicken seiner Mutter, bevor er zu den anderen Kindern in den Sandkasten klettert.

    Die einjährige Emma beruhigt sich augenblicklich, als ihr Vater sie auf seinen Schoß hebt, obwohl er weiter auf seinem Telefon herumtippt und das kleine Mädchen kaum ansieht.

    Jake hört auf, auf seine Spielzeugtrommel einzuschlagen, nachdem seine Mutter nicht länger von ihm verlangt, sie wegzulegen, sondern stattdessen ausruft: „Wow, du hast ja ein tolles Rhythmusgefühl, mein Lieber!"

    Momente wie diese sind ebenso alltäglich wie schnell vergessen, meist bleiben sie sogar unbemerkt. Doch was sich den Kindern durch viele solcher kleiner Momente einprägt, ist ausgesprochen tief greifend. Jedes Mal, wenn Sie auf das Bedürfnis des Kindes nach Geborgenheit oder nach Ermutigung eingehen, knüpfen Sie ein Band des Vertrauens. Jedes Mal, wenn Sie dem Kind zeigen, dass Sie verstehen, wie es sich fühlt und was es will, demonstrieren Sie die Kraft einer ursprünglichen Verbundenheit, nach der wir alle uns unserem Wesen nach sehnen. Jedes Mal, wenn Sie Ihr Baby oder Kleinkind darin unterstützen, mit all den unangenehmen Gefühlen und der Frustration umzugehen, die ein neues Menschenkind erlebt, lehren Sie es, seine eigenen Gefühle sowie auch die anderer Menschen zu akzeptieren (sogar die „unschönen").

    Das sind die Geschenke einer sicheren Bindung. Eine sichere Bindung entsteht in einem Kind von selbst, wenn ein Elternteil oder eine andere primäre Bezugsperson in der Lage ist

    • dem Kind zu helfen, sich sicher zu fühlen, wenn es Angst hat oder sich unwohlfühlt

    • dem Kind zu helfen, sich sicher genug zu fühlen, um die Welt zu erkunden, was essenziell für sein Wachstum und seine Entwicklung ist

    • dem Kind zu helfen, seine emotionale Erfahrung zu akzeptieren und damit umzugehen

    Sowohl Eltern als auch Kinder haben die Veranlagung, sich zu binden. Die Entwicklung dieser besonderen Verbundenheit beginnt schon vor der Geburt, und wunderbarerweise kommt Ihr Baby mit dem starken Instinkt auf die Welt, Ihnen nahe sein zu wollen. Dazu reicht ihm nicht einfach irgendein Erwachsener, auch wenn theoretisch viele Erwachsene die Nahrung, die Wärme und den Schutz bieten könnten, die zum physischen Überleben des Babys notwendig sind. Aus jahrzehntelanger Forschung lässt sich schlussfolgern, dass ganz kleine Babys sich augenblicklich in das Gesicht der Mutter oder des Vaters verlieben, denn obwohl sie es noch kaum scharf sehen können, können sie doch bereits die Liebe und die Hingabe der Eltern spüren. Das ist der Mensch, so ahnt das Baby, der für mich da sein wird. Das ist jemand, der mir helfen wird, diese verwirrende neue Welt zu verstehen und das Gute darin zu finden.

    Was uns als Eltern verbindet, ist, dass wir alle Gutes für unsere Kinder wollen – Liebe und Mitgefühl, Verständnis und Akzeptanz, Sinn und Erfüllung. Und die Kinder wollen und brauchen Gutes von uns, wenn sie auf die Welt kommen. Eine unserer wichtigsten Mentorinnen, die Entwicklungspsychologin Jude Cassidy definierte (gemeinsam mit dem Sozialpsychologen Phillip Shaver) Bindungssicherheit als „Vertrauen in die Möglichkeit des Guten. Unserer Meinung nach geht es genau darum. Wir wollen für unsere Kinder das, was gut, wirklich notwendig und erfüllend ist. Und mit genau diesem Wunsch kommen sie auch auf uns zu – auf ihre einzigartige, wunderbare, immer frische und oft auch fordernde Art und Weise. „Bitte hilf mir, in das Gute in dir, das Gute in mir und das Gute in uns zu vertrauen. Und dazu sind wir ja schließlich da.

    Die große Bedeutung des kleinen Wörtchens „Und"

    Wir alle beginnen unser Leben in tiefer Verbundenheit mit einem anderen Menschen, nicht allein. Das heißt nicht nur, dass das gemeinsame Bewohnen eines Körpers vor der Geburt eine Bindung zwischen Müttern und Babys schafft, die zumeist auch danach bestehen bleibt. Babys entwickeln ebenso eine Bindung an ihre Väter, ihre Großeltern oder jede andere Person, deren Blick sagt „Ich bin für dich da", und die dieses Versprechen dann überwiegend auch hält. Schon ganz kleine Babys scheinen diese Hingabe zu erkennen und beginnen, in den ersten Lebenstagen mit ihrem Verhalten darauf zu reagieren. Sie folgen uns mit den Augen, wedeln aufgeregt mit den Armen, wenn wir von der Arbeit nach Hause kommen, und ihr erstes Lächeln erscheint als Antwort auf unser Lächeln – ein Geschenk, das die meisten Eltern niemals vergessen. Wenn wir den Eltern im Training zum Kreis der Sicherheit vermitteln wollen, wie unglaublich wichtig sie für ihre Kinder sind, spielen wir Joe Cockers Song „You Are So Beautiful" und zeigen dazu Videoclips von Bindungsmomenten zwischen Eltern und Kindern.

    Wie der Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott einst sagte: „Wenn man ein Baby beschreiben will, wird man feststellen, dass man ein Baby und zugleich eine andere Person beschreibt." Damit brachte er zum Ausdruck, wie unentbehrlich wir für unsere Kinder sind. Baby Gino oder Sasha oder Hiroto haben vielleicht eigene Arme, Beine und Gesichter, aber in Wirklichkeit existieren Sie noch nicht vollständig als Individuen. Wir neigen dazu, Babys als komplett ausgeformte kleine Kreaturen zu sehen, die tief im Inneren wissen, was sie fühlen und brauchen und wer sie sind, nur einfach noch nicht über die sprachlichen Fähigkeiten verfügen, um es auszudrücken. In Wirklichkeit aber haben neugeborene Babys keine Ahnung, was sie fühlen, außer dass ganz oft irgendetwas Unbekanntes und Schwieriges mit ihnen geschieht (sie brauchen irgendetwas) – ein ungeformtes Verlangen beginnt, sich zu entwickeln. Wenn Mama oder Papa dem gestressten Baby dann in die Augen schauen, „ja, ja gurren und magischerweise verstehen, was das Baby braucht – und es ihm sogar geben! –, sagen die Eltern dem Baby damit: „Ich bin bei dir. Wir fühlen ähnlich und wir kriegen das zusammen hin. Wenn dieser Austausch wieder und wieder stattfindet, lernt das Baby, dass menschliche Gefühle normal, akzeptabel und mitteilbar sind. Es lernt, dass dieser besondere Erwachsene seine Gefühle für es ordnen und ihm nach und nach beibringen kann, sie selbst zu regulieren – ein Vorgang, den man „Co-Regulation von Gefühlen nennt. Es lernt, dass es mit Mutter oder Vater viele wichtige Dinge gemeinsam hat, jeder für sich aber auch ganz einzigartig ist. Es erfährt, dass die Beziehung – das „und – wesentlich für die Formung des Selbst ist.

    Bis zur Mitte des 20 Jahrhunderts stand das Selbst als ein von den anderen Menschen getrenntes Wesen im Fokus der Entwicklungspsychologie. In der westlichen Gesellschaft hat diese Annahme viele Ansichten und Erwartungen darüber geprägt, wie wir unser Leben führen sollten. Sobald wir dazu in der Lage waren, wurde von uns erwartetet, dass wir für uns selbst sorgen, und die Sozialpolitik begünstigte, zumindest in den Vereinigten Staaten, individuelle Bedürfnisse vor kollektiven. In unserer Arbeit mit dem Kreis der Sicherheit sind wir zu der gegensätzlichen Ansicht gelangt: Es ist das „Und", das wichtig ist. Wir würden sogar so weit gehen zu behaupten, dass Unabhängigkeit ein Mythos ist. Von der Geburt an bis ins hohe Alter steht unsere Fähigkeit, einigermaßen autonom zu handeln, in direktem Zusammenhang mit unserer Fähigkeit zur Verbundenheit. Was bedeutet das für Eltern mit kleinen Kindern? Wenn wir möchten, dass unsere Kinder selbstständig werden, hinausgehen und es mit der Welt aufnehmen, müssen wir ihnen das volle Vertrauen ermöglichen, dass sie zu uns zurückkommen können, wenn sie das brauchen. Autonomie und Verbundenheit: Das ist sichere Bindung.

    Und das kann zum Beispiel so aussehen:

    Lei ist drei Jahre alt. Sie ist lebendig, verspielt und voller Neugier. Sie und ihr Vater sind gerade in den Park spaziert, der zwei Blocks von ihrem Zuhause entfernt liegt, und während sie auf das Klettergerüst zusteuern, wirft Lei, wie es typisch für sie ist, ihrem Vater lediglich einen flüchtigen Blick zu (kaum länger als eine Millisekunde) und rast davon, um ihre Version des Mount Everest zu besteigen. Was einem beiläufigen Beobachter vielleicht nicht auffällt, ist, dass Lei in dieser Millisekunde, in der sie mit ihrem Vater Kontakt aufnimmt, genau die Erlaubnis und die Unterstützung bekommt, die sie braucht – ist es ein kurzer Blick, ist es etwas in seinen Augen? –, um zu wissen, dass es absolut in Ordnung ist, dieses neue Abenteuer zu wagen.

    Vierzehn Sekunden später ist sie bereits auf der Spitze des Gerüsts, schaut zu ihrem Vater zurück, mit jeder Faser ihres Körpers Stolz verströmend, und verkündet ihren Triumph: „Ich bin ein großes Mädchen."

    „Ja, das bist du, Lei, antwortet ihr Vater, „ja, das bist du! (Was Lei nicht weiß, ist, dass ihr Vater sehr an sich halten muss, um nicht einzugreifen und da zu bleiben, wo er ist, weil ein Teil von ihm Angst hat, dass sie herunterfallen könnte. Doch aufgrund ihrer früheren Erfahrungen mit diesem Gerüst, bei denen er das Bedürfnis hatte, nahe bei seiner Tochter zu bleiben und auf sie aufzupassen, weiß er nun, dass sie über die Kraft, den Gleichgewichtssinn und die Begeisterung verfügt, um diesen Teil des Spielplatzes auf eigene Faust zu erkunden.)

    Nach weiteren zwanzig Sekunden klettert Lei wieder herunter. Sie hat noch immer Spaß, freut sich noch immer an ihrem wachsenden Kompetenzgefühl, doch sie rennt zurück zu ihrem Vater, strahlend und sichtbar stolz auf ihre Leistung. Sie ist entzückt. Er ist entzückt. Sie schaut ihm in die Augen, sie berühren sich kurz, und dann – zack! – rennt sie wieder los, dieses Mal auf die Rutsche zu, bereit für eine weitere aufregende Runde.

    Das ist also sichere Bindung. In diesem einfachen Augenblick ist Leis Vater einfach bei ihr und reagiert auf die sich verändernden Bedürfnisse seiner Tochter, während sie die mitunter angsteinflößende Aufgabe in Angriff nimmt, ihre Welt zu erkunden. Wichtig ist dabei auch, dass Lei deswegen weiß, dass ihr Vater auf sie reagieren wird, weil er das in der Vergangenheit bereits viele Male getan hat. Das ist einer der Gründe, aus denen die ganze Abfolge so glatt abzulaufen scheint, so ungeplant. Leis Ausdruck ihrer grundlegenden psychischen Bedürfnisse und die Reaktionen ihres Vaters haben sich zu dem Gewebe ihrer Beziehung verflochten.

    Bindung: Ein bleibendes Vermächtnis

    Lei und ihr Vater mussten wohl kaum bewusst über ihre Verhaltensweisen nachdenken, doch wie bei allen Menschen haben die positiven Effekte ihrer sicheren Bindung eine bleibende Wirkung. Diese erste Beziehung, die so nah ist, dass „zwei darin fast nicht von „einem zu unterscheiden ist, können wir nicht einfach abschütteln, wie ein Schmetterling seinen Kokon abstreift, auf und davon fliegt und vergnügt bis ans Ende seiner Tage lebt. Wir tragen sie mit uns in all unsere Beziehungen, all unsere Arbeit, all unsere Interaktionen, und falls es sich um eine sichere Bindung handelt, dann könnte sie unter Umständen zu einem vergnüglichen „bis ans Ende unserer Tage" führen.

    Fünfzig Jahre Forschung haben gezeigt, dass Kinder mit einer sicheren Bindung:

    • mehr Freude mit ihren Eltern erleben

    • weniger wütend auf ihre Eltern sind

    • sich besser mit ihren Freunden verstehen

    • stabilere Freundschaften haben

    • in der Lage sind, Probleme mit Freunden zu lösen

    • bessere Beziehungen zu ihren Geschwistern haben

    • über ein stärkeres Selbstvertrauen verfügen

    • wissen, dass sich für die meisten Probleme eine Lösung finden wird

    • darauf vertrauen, dass gute Dinge auf sie zukommen

    • den Menschen vertrauen, die sie lieben

    • freundlich zu den Menschen um sie herum sind

    Jahrzehntelange Forschungen haben inzwischen belegt, dass eine sichere Bindung an eine primäre Bezugsperson dafür sorgt, dass die Kinder gesünder und glücklicher sind, in praktisch jeder Hinsicht, in der wir diese Dinge messen können – in Bezug auf Kompetenz und Selbstvertrauen, Empathie und Mitgefühl, Resilienz und Durchhaltevermögen… in Bezug auf die Fähigkeit, Emotionen zu regulieren, intellektuelle Fähigkeiten zu entwickeln und die körperliche Gesundheit zu erhalten… in Bezug auf die Arbeit und ein erfülltes Privatleben. Vielleicht noch wichtiger ist, dass eine sichere Bindung in der ersten Beziehung eines Kindes die Grundlage für gute Beziehungen im weiteren Leben legt. Und inzwischen wissen wir ohne Zweifel, dass Beziehungen der Motor und das Gerüst für Zufriedenheit und Erfolg in allen Lebensbereichen sind. Untersuchungen haben gezeigt, dass soziale Beziehungen die geistige und körperliche Gesundheit fördern und sogar das Sterberisiko senken: Analysen zu Studien in zahlreichen Ländern haben wiederholt ergeben, dass die Wahrscheinlichkeit eines vorzeitigen Todes umso kleiner ist, je mehr ein Mensch in soziale Beziehungen eingebettet ist, und dabei hatten die am stärksten isolierten Menschen sogar ein zweifach erhöhtes Sterberisiko im Vergleich zu den am stärksten sozial eingebetteten. In den westlichen Gesellschaften scheint man die Bedeutung des „Und langsam zu verstehen, wie die wachsende Beliebtheit von Büchern und TED-Talks zu Themen wie dem Wert von Verletzlichkeit vermuten lässt. Langsam wird uns klar, dass unsere Beziehungen nicht einfach nur nette „Extras sind. Die Menschen, die sich mit ihren Kollegen am besten verstehen, bekommen oft als erste eine Beförderung – und zwar nicht nur, weil sie kluge Allianzen gebildet haben, sondern oft auch, weil sie am produktivsten sind. Uns ist klar, dass es nicht hilfreich ist, wenn wir ständig wie besessen über unsere Kinder wachen wie der besagte sprichwörtliche Helikopter, doch wissen wir inzwischen auch, dass es etwas anderes ist als diese Art der Überwachung, wenn wir das Baby immer wieder beruhigen, und dass es dadurch nicht lebensuntauglich wird. Die Beziehungen, die wir eingehen, geben uns Kraft und machen uns sogar aus, denn in jedem „Und" werden wir zu etwas, das über uns allein hinaus geht.

    „Ich beruhigte mich damit, dass er schon immer einfallsreich, robust und selbstsicher war. Zwei Tage später… rief er mich an, überschwänglich und beglückt über seinen Triumph. Ich sagte zu ihm: ‚Viel Glück bei deinem Abenteuer‘, und wusste, dass es genau das war, was er von mir hören musste. Ich konnte ihn aus der Ferne in die Arme nehmen, in dem Wissen, dass er über all die Möglichkeiten, die Liebe, die Bindung und die Ressourcen verfügte, die aus seiner jahrelangen Erfahrung einer sicheren Bindung stammten. Seine sichere Bindung ermöglichte ihm, seine Erkundungen weiter und weiter auszudehnen."

    HEIDI S. ROIBAL, Albuquerque, New Mexico, nachdem ihr dreiundzwanzigjähriger Sohn allein auf eine Reise quer durchs Land aufgebrochen war

    Auf die Bindung kommt es an

    Intuitiv kennen Sie die Bedeutung des „Und" bereits. Wenn wir anderen Menschen vertrauen und uns mit ihnen sicher fühlen, können sich Beziehungen weiterentwickeln – Freundschaften können sich vertiefen, wenn man ein beschämendes Kindheitsgeheimnis preisgibt, intime Beziehungen können sich festigen, wenn man es wagt, dem anderen einen Heiratsantrag zu machen, Kollegialität und gegenseitiger Respekt können entstehen, wenn man um die Beförderung bittet, die man verdient hat. Sogar ganz große Errungenschaften – das beste Bild, das man je gemalt hat, der Einfall für eine ebenso großartige wie radikale Innovation, die fantastische Rede, die man geschrieben hat –, die auf den ersten Blick nichts mit anderen Menschen zu tun haben, werden oft nur durch die Erfahrung von Sicherheit möglich. Wenn wir im Allgemeinen in die Offenheit und die Akzeptanz anderer vertrauen, sind uns Kreativität, Kompetenz, umsichtige Risikobereitschaft und geistige Klarheit möglich, da wir davon ausgehen, dass unsere Ideen in einer sicheren Umgebung auf Verständnis treffen und willkommen geheißen werden. Wenn das der Fall ist und wir Erfolg haben, wird die Bedeutung von Bindung noch bestärkt durch die Erfüllung, die wir erleben, wenn wir unsere Freude mit anderen teilen.

    Eine sichere Bindung ist ein wenig wie der geliebte Teddybär aus Kindertagen. Hat man Zuversicht und Vertrauen in das Gute in mir, in dir und in uns, nimmt man dieses Vertrauen während wichtiger Übergänge und Veränderungen im Alltag mit. Wie es in unserem Leben läuft, bemessen wir Erwachsenen im Allgemeinen daran, wie es in unseren Beziehungen läuft. Wenn die Beziehungen gut laufen, läuft das Leben gut. Wenn wir lieben und geliebt werden, geht es uns gut.

    Eine sichere Bindung zu haben bedeutet zu wissen, dass jemand einem dem Rücken stärkt,¹ und zu wissen, dass jemand einem den Rücken stärkt, eröffnet eine ganze Welt voller neuer Möglichkeiten.

    Falls Sie selbst die positiven Auswirkungen einer sicheren Bindung erlebt haben, wird es Sie nicht überraschen, wie verheerend das Fehlen von jeglicher Bindung sein kann. Im dreizehnten Jahrhundert ließ der römisch-deutsche Kaiser Friedrich II. ein Experiment durchführen, um herauszufinden, ob Neugeborene irgendwann die Sprache von Adam und Eva sprechen würden, wenn sie von den Erwachsenen um sie herum keinerlei Sprache zu hören bekämen. Er wies die Pflegekräfte an, mit den Babys weder zu sprechen noch zu gestikulieren, und letztlich verstarben sie alle. Siebenhundert Jahre später, in den 1930er-Jahren und 1940er-Jahren, zeigte sich derselbe Zusammenhang an Kindern in Waisenhäusern, bei denen die Sterberate bei alarmierenden 30 % lag. Obwohl mit den offensichtlichen Notwendigkeiten des Lebens versorgt – Essen, Obdach, Kleidung –, überlebten viele Kinder nicht ohne eine Bindung an eine primäre Bezugsperson.

    Wie konnte es, angesichts dieser Beweislage, dennoch so lange dauern, bis der Wert von Bindung verstanden wurde? Diese Dinge brauchen ihre Zeit, und damit eine neue Theorie akzeptiert werden kann, müssen oft andere, etablierte Theorien verworfen werden. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert beruhten die zwei vorherrschenden Denkschulen in Bezug auf kindliche Entwicklung einerseits auf den psychoanalytischen Theorien von Sigmund Freud und seinen Kollegen und andererseits auf den behavioristischen Theorien von John B. Watson und später B.F. Skinner und anderen:

    • Freud kam zu dem Schluss, dass die psychischen Probleme, die er bei seinen Patienten sah, ihre Wurzeln in verschiedenen unbewussten, gedanklichen Prozessen hätten, die in der frühen Kindheit einsetzten und ihre Wirkungen während der Entwicklung des Kindes weiter entfalteten. Diese Prozesse bestimmten seiner Ansicht nach, wie ein Baby mit seinen Eltern interagiert und was ein Baby neben Essen und anderweitiger Fürsorge noch zu brauchen scheint. Freuds Theorien sorgten dafür, dass der Fokus mancher Entwicklungspsychologen (und der Psychoanalytiker, die Erwachsene behandelten) auf undurchsichtigen Konzepten über das Unbewusste blieb, die bei den Menschen in der echten Welt auf wenig Resonanz stießen.

    • Das andere Lager war das der Behavioristen, die glaubten, Babys verfolgten eine bestimmte Absicht, wenn sie für ihre Mama ein ganz besonderes Lächeln hervorzauberten, weinten, wenn diese aus ihrem Blickfeld verschwand, obwohl andere ihnen zugetane Bezugspersonen in der Nähe waren, oder sich in den Armen der Mutter wundersamerweise beruhigten. Ihre Absicht bestünde darin, belohnt zu werden: Wenn sie lächelten, wirkte die Mutter glücklich und kam näher. Wenn sie weinten, kam die Mutter meist zurück. Wenn sie sich in die Arme der Mutter kuschelten, durften sie dort bleiben. Watsons Ansicht nach diente der Bindungstrieb eines Babys dazu, dass die Mutter in der Nähe blieb, so dass sie ihm die Nahrung, die Wärme oder die trockene Windel geben konnte, die es brauchte. Heutzutage würde wohl kaum jemand noch leugnen, dass wir Menschen positiv auf Belohnungen reagieren. Das Besorgniserregende am strikten Festhalten an diesen frühen Formen des Behaviorismus bestand jedoch darin, dass Watson den Müttern riet, ihren Kindern nicht zu viel liebende Fürsorge zuzugestehen, denn sonst würden die Kinder später von der Welt erwarten, auf die gleiche Weise behandelt zu werden, was sie unweigerlich zu Invaliden machen würde.

    Hier betritt die Stimme der Vernunft die Bühne: der britische Psychologe John Bowlby. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Bowlby an Forschungsarbeiten für die Weltgesundheitsorganisation beteiligt, unter anderem in Einrichtungen für Kriegswaisen und hospitalisierte Kinder. Die Kinder waren alle optimal versorgt: Sie wurden gut ernährt und gekleidet, hatten warme Betten und wurden medizinisch betreut, genau wie die Waisen vor dem Krieg. Was sie hingegen nicht hatten, waren Mutter und Vater. Und genau wie die Waisen aus früheren Jahrzehnten litten sie schrecklich unter dem Fehlen der Geborgenheit, Liebe und Nähe einer primären Bezugsperson. In den 1950er-Jahren filmten Bowlby und sein Kollege John Robertson eine Zweijährige, die zehn Tage im Krankenhaus verbringen musste und ihre Eltern jeweils nur eine halbe Stunde am Tag sehen durfte. In dieser Zeit verwandelte sie sich von einem aufgeweckten kleinen Mädchen in ein vollkommen niedergeschlagenes Kind.

    Bowlbys Beobachtungen haben seitdem eine Veränderung der Besuchsregeln in Krankenhäusern bewirkt und auch auf die professionelle Kinderbetreuung Einfluss genommen. Und sie befruchteten seine Bemühungen, die Eine-Millionen-Dollar-Frage zu beantworten, die von Anbeginn der Menschheit an hätte gestellt werden sollen: Warum macht die Abwesenheit der Eltern oder anderer Bezugspersonen einen so gewaltigen Unterschied, wenn das Kind doch ansonsten alles hat, was es für seine Entwicklung braucht?

    Wie es bei wissenschaftlichen Fortschritten so oft der Fall ist, kamen die Antworten aus einem Zusammenfluss von Ergebnissen verschiedener Forschungsgebiete, die ab Seite 46 zusammengefasst sind.

    Bowlby vermutete, dass Babys aufgrund eines zutiefst instinktiven evolutionären Triebes, der dem Überleben der Spezies dient, eine Bindung an ihre primären Bezugspersonen entwickeln. Auf einer nonverbalen Ebene verstehen Babys vielleicht viel besser als wir Erwachsenen, wie wichtig Bindung ist und warum sie mit solcher Entschlossenheit danach streben. Bowlby und Ainsworth hatten bereits jede Menge Hinweise darauf, dass das Fehlen von Bindung in den ersten Lebensjahren einem Kind schaden kann, daher widmeten sie sich während der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts der Erforschung der Bindungsthematik. Sie identifizierten drei Untersysteme, die im Bindungsprozess eine Rolle spielen:

    • das Bedürfnis nach Zuwendung: der Instinkt, in jemandes Nähe zu bleiben, der Geborgenheit und Schutz bieten und die eigenen Gefühle ordnen kann

    • Erkundung: der Instinkt, der eigenen Neugier zu folgen und etwas zu meistern

    • das Gewähren von Zuwendung: der Instinkt, die benötigte Zuwendung zu geben und eine Bindung zu dem Baby zu entwickeln

    Wie Sie in Kapitel 3 sehen werden, bilden diese drei Instinkte die Landschaft für den Kreis der Sicherheit. Diese Instinkte erklären, warum Babys eine sichere Bindung brauchen, damit sie weiterleben, sich entwickeln und zu Individuen werden, und warum sie am besten in Beziehungen gedeihen. Ironischerweise konzentrieren sich viele Menschen in der Pädagogik heutzutage noch immer auf das Verhalten, vielleicht, weil es etwas ist, das wir von außen sehen können, und wenn wir es verändern können, denken wir, dass wir damit die Probleme gelöst hätten. Doch Verhaltensweisen sind lediglich Ausdruck der Bedürfnisse eines Kindes. Verhalten ist eine Botschaft – eine Botschaft bezüglich der Bindungsbedürfnisse, die vor den Augen aller verborgen liegen.

    Vor den Augen aller verborgen: Warum Verhaltensmanagement nicht ausreicht

    Mal ehrlich: Als Eltern oder werdende Eltern haben wir viel dringendere Sorgen als die Aufwertung der Spezies für eine ungewisse Zukunft. Wir alle haben mehr als genug zu tun, und der Versuch, unseren eigenen Kindern eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen, ist schon überfordernd genug. Das ist natürlich auch der Grund, warum so viele Eltern und andere Betreuer von Kindern auf Verhaltensmanagement zurückgreifen, um die Kinder dazu anzutreiben, in Bezug auf ihre Gefühle, ihr Verhalten und ihr ganzes Sein ihr Bestes zu geben. Wie wir bereits sagten, haben Belohnungen durchaus ihren Platz im Leben mit Kindern. Doch wenn wir lediglich auf die sichtbaren Verhaltensweisen abzielen, können wir uns auch gleich an den Gedanken gewöhnen, für immer und ewig mit „Sternchentabellen und „Auszeiten zu arbeiten. (Stellen Sie sich einmal vor, Sie müssten Ihrer dreißigjährigen Tochter jede Woche zehn Euro schicken, damit sie Sie anruft.) Wenn man nur das Verhalten adressiert, dann ist das in etwa so, wie wenn man zwar die Symptome einer Erkrankung behandelt, deren Ursachen jedoch ignoriert.

    Die Entstehung der Bindungstheorie

    Wenn Babys mit allen offensichtlichen Notwendigkeiten des Lebens versorgt wurden, aber dennoch nicht gediehen, so spekulierte John Bowlby, lag dem Drang zur Bindung möglicherweise ein tieferer Instinkt zugrunde: Steckte ein evolutionärer Trieb dahinter? Konnte etwas, das Eltern ihren Kindern über die körperlichen, lebensnotwendigen Bedürfnisse hinaus gaben, zum Erhalt der Spezies notwendig sein?

    Untersuchungen an Tieren bestätigten dies. Konrad Lorenz, Pionier und Experte auf dem Gebiet der Tierverhaltensforschung, fand heraus, dass kleine Gänschen aufgrund eines Phänomens namens „Prägung demjenigen Tier oder Objekt folgen, das sie als Erstes sehen. Später erforschte der Psychologe Harry Harlow die Mutter-Kind-Bindung, indem er das Verhalten von Babyaffen beobachtete. Zunächst stellte er fest, dass die Affen, die im Labor und isoliert von anderen Affen aufgezogen wurden, sich zurückzogen, kein normales Sozialverhalten mit anderen Affen, dafür aber ein ungewöhnliches Ausmaß an Angst und Aggression zeigten. Als er in einer zweiten Studie jungen Affen die Wahl gab zwischen einem Affen aus Draht, der Futter ausgab, und einem Affen aus Stoff, der das nicht tat, wählte die überwältigende Mehrheit der Babys einen Affen, der sich eher wie das Fell der Mutter anfühlte, selbst wenn er kein Futter anbieten konnte. Nachdem sie mit diesen Ersatzmüttern bekannt gemacht wurden, kehrten sie wieder und wieder zu der gleichen Attrappe zurück und zeigten klare Anzeichen dessen, was inzwischen als „Bindung bekannt ist.

    In den darauffolgenden Jahrzehnten formulierte Bowlby die Bindungstheorie, eine Perspektive, die erklärt, auf welche Art und Weise die Suche nach Verbundenheit mit einer primären Bezugsperson nicht nur dem Überleben des Individuums dient, sondern auch dem Erhalt der Spezies. Prägung als eine Art primitives Bindungsverhalten kann somit als Weg betrachtet werden, auf dem das neugeborene Tier in seine Spezies eingeführt wird – nicht nur, damit das Junge von einem Tier mit denselben Bedürfnissen und dem Wissen, wie sie befriedigt werden können, Überlebensstrategien lernt, sondern auch, damit es später weiß, nach welchen anderen Tieren es zur Paarung und Fortpflanzung suchen soll.

    Doch in welchem Maß ähneln wir Menschen den Tieren? Wie wird der Erhalt der menschlichen Spezies durch Bindung gefördert? Die einfachste Antwort ist die: Wenn menschliche Babys in der Nähe eines sie beschützenden, fürsorglichen Erwachsenen bleiben, ist die Wahrscheinlichkeit des langfristigen Überlebens höher, und je mehr Kinder das Erwachsenenalter erreichen, desto eher bleibt die Spezies bestehen. Allerdings wissen wir inzwischen, dass Bindung sich positiv auf die Entwicklung auswirkt und nicht nur für mehr erwachsene Menschen sorgt, sondern auch für bessere. Durch sichere Bindungen überlebt die Spezies nicht nur, sie entwickelt sich auch weiter. Wenn der Bindung also ein solch enormes Potenzial innewohnt, wie lässt sich dann ihre Entstehung begreifen, und wie kann man dafür sorgen, dass sie sich so oft wie möglich entwickelt?

    Zurück ins Labor der Menschheit. Die Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth, Mitarbeiterin in Bowlbys Forschungsteam in London, spielte eine entscheidende Rolle dabei, die Muster bei der Entstehung von Bindung aufzuzeigen. Basierend auf ihren Beobachtungen bei einer bahnbrechenden Feldstudie in Uganda und später in Baltimore in den Vereinigten Staaten legte Ainsworth verschiedene Bindungsstile fest, die zwischen der Mutter (oder einer anderen primären Bezugsperson) und dem Baby entstehen. Später entwickelte Ainsworth außerdem ein sehr nützliches Forschungsinstrument zur Identifikation des Bindungsstils einzelner Eltern-Kind-Paare. Ainsworths sogenannter Fremde-Situations-Test (FST, auf Englisch: Strange Situation Test, SST), der in Kapitel 4 beschrieben wird, ist heute der Maßstab zur Erfassung des Bindungsstils und ein zentraler Bestandteil unserer eigenen Arbeit mit Familien. Er hilft uns und anderen, die mit der Bindungsthematik arbeiten, zu verstehen, wo Bindung möglicherweise nicht sicher ist und wie man Eltern und Kindern helfen kann, eine Bindung zu entwickeln.

    Wenn wir es mit einem Kind zu tun haben, das „sich danebenbenimmt oder bekümmert wirkt, ist es hilfreich zu überlegen, was möglicherweise vor aller Augen verborgen liegen könnte: Ist das Kind frustriert, weil es das Gefühl hat, uns sein Bedürfnis nach Geborgenheit nicht verständlich machen zu können? Ist dieses kleine Mädchen „so emotional, weil es nicht gelernt hat, seine Gefühle mithilfe des liebevollen Verständnisses und der souveränen Begrenzungen eines Erwachsenen zu regulieren? Tut dieser kleine Junge sich so schwer damit, das Alphabet zu lernen, weil er innerlich ständig versucht, sein Bedürfnis auszudrücken, selbst der Architekt seiner eigenen Abenteuer zu sein? Hat dieses Kind vielleicht deswegen Schwierigkeiten damit, Freunde zu finden, weil es nicht gelernt hat, auf das Wohlwollen anderer zu vertrauen?

    Das, was vor den Augen aller verborgen liegt, wurde in den letzten fünfzig Jahren von der Wissenschaft ausführlich erforscht. Wir wissen jetzt, dass die Bindung sich auf den Stresslevel eines Kindes, seine Fähigkeit, mit emotionalen Erfahrungen umzugehen, seine Lernkapazität, seine körperliche Vitalität, sein soziales Wohlbefinden und vieles mehr auswirkt. Je mehr wir als Eltern darüber wissen, was unter dem Verhalten unseres Kindes und vor unseren Augen verborgen liegt, desto klarer erkennen wir die Notwendigkeit, eine sichere Bindung zu ihm aufzubauen.

    Der führende Neuropsychologieforscher Allan Schore fand heraus, dass die Entwicklung vieler regulierender und überlebenswichtiger Funktionen in der rechten Gehirnhälfte (die während der ersten drei Lebensjahre dominanter ist als die linke) von den Erfahrungen des Babys abhängt, insbesondere von den Bindungserfahrungen mit seiner primären Bezugsperson.

    Eine sichere Bindung schützt Kinder vor toxischem Stress

    Wenn Bindung ein solch hartnäckiger, ursprünglicher Instinkt ist, dann stellen Sie sich einmal vor, wie viel Stress es verursachen muss, wenn er blockiert ist. Der Stress unerfüllter Bindungsbedürfnisse kann sich im Verhalten eines Kindes ausdrücken (Wie verhalten Sie sich, wenn Sie großen Stress haben?), und aus zahlreichen Studien wissen wir, dass er sich ebenfalls negativ auf die mentale, emotionale, soziale und körperliche Entwicklung des Kindes auswirkt.

    Die Art von Stress, die in der frühen Kindheit beginnt, wenn die Nöte eines hilflosen Neugeborenen nicht durch die Geborgenheit eines Elternteils gelindert werden, nennt man „toxischen Stress, weil er im Gehirn neuronale Bahnen erzeugt, durch deren Aktivierung das Kind sich ständig in einem alarmierten Zustand befindet. Dieser Zustand erschwert es dem Kind, sich auf das Lernen zu konzentrieren, und macht es anfällig dafür, vorschnell zu reagieren, bevor es sich fragen kann, was überhaupt los ist. Wenn ein Baby hungrig, nass oder verängstigt ist, strömt das Stresshormon Cortisol durch sein Gehirn; Cortisol löst eine Art von Verlangen aus, das sich wie ein „schwarzes Loch anfühlt und das ein Neugeborenes zwar nicht artikulieren kann, aber intensiv spürt. (Auf Seite 51 finden Sie weitere Details zu den gesundheitlichen Auswirkungen von übermäßigem Stress.)

    Wenn wir uns in der Anwesenheit einer liebevollen, verlässlichen Bezugsperson sicher fühlen, ist das so, als ob man uns eine zweite Haut gibt, die uns in stressigen Zeiten schützt.

    Sicherheit sorgt dafür, dass Kinder sich gesund entwickeln

    Der durch unerfüllte Bindungsbedürfnisse ausgelöste Stress kann ein Kind nicht nur in der frühen Kindheit, sondern auch während seiner gesamten Entwicklung belasten. Auch wenn sich nur schwer sagen lässt, wie direkt eine sichere Bindung sich auf die Erreichung bestimmter Entwicklungsmeilensteine auswirkt, wies eine bahnbrechende, dreißig Jahre andauernde Studie an der Universität von Minnesota, die Mitte der 1970er-Jahre begann, langfristige Muster zwischen einer sicheren Bindung und bestimmten Entwicklungsaspekten nach. Stellen Sie sich einen Neunjährigen vor, dessen Mutter Brustkrebs hat oder dessen Vater als Alleinverdiener der Familie seine Arbeit verloren hat. Ereignisse wie diese, tragisch, aber weit verbreitet, sorgen für großen Stress. Hier kommt die Sicherheit, die wir aus einer guten Bindung beziehen, zur Rettung. Die Wissenschaftler aus Minnesota fanden unter anderem heraus, dass Kinder in der vierten Klasse mit einer sicheren Bindungsgeschichte weniger Verhaltensprobleme hatten, wenn ihre Familien unter großen Stress gerieten, als solche, die keine sichere Bindung erlebt hatten.

    Stress und Gesundheit

    Der menschliche Körper ist mit einem brillanten System zum Umgang mit Bedrohungen ausgestattet. Allerdings haben wir meist keine Kontrolle über die Art der Bedrohungen, denen wir uns gegenüber sehen: ständige Sorgen um die finanzielle Situation, Familienkonflikte, das Leben in einer gefährlichen Umgebung oder, im Falle eines Kindes, die allgemeine An- oder Abwesenheit einer feinfühligen, zugänglichen Bezugsperson – und dadurch entsteht Stress. Eine wahrgenommene Bedrohung löst eine komplexe Reihe neurochemischer Prozesse aus, in die auch das Stresshormon Cortisol involviert ist. Die Hauptaufgabe des Cortisols ist es, den Körper nach dem stressigen Ereignis in einen Zustand des Gleichgewichts und der Stabilität (Homöostase) zurückzubringen. Das Problem ist, dass sich das Cortisol bei der Regulation verschiedener von Stress beeinflusster Systeme, hauptsächlich des Stoffwechsels, nebenbei auch auf andere Systeme auswirkt, allen voran auf das Immunsystem. Die Aufgabe des Cortisols besteht darin, dem Körper zu signalisieren, dass er mit dem Kämpfen aufhören und in einen stabilen Zustand zurückkehren soll; es hat auch eine dämpfende Wirkung auf das Immunsystem und macht den Körper damit anfälliger für Krankheiten. Das ist einer der Gründe dafür, dass Menschen, die unter chronischem Stress leiden, häufiger krank werden als andere. Unglücklicherweise werden durch wiederholte Episoden von akutem Stress und auch durch chronischen Stress übermäßige Mengen an Cortisol freigesetzt – das kann das Gedächtnis und die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigen und sogar für eine Zunahme von Bauchfett sorgen, was wiederum ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko nach sich zieht. Babys, deren Bindungsbedürfnisse nicht erfüllt werden, beginnen ihr Leben also unter schlechteren geistigen wie körperlichen gesundheitlichen Bedingungen.

    Als Erwachsene haben wir oft keinen Begriff mehr davon, wie stressig solch profane Probleme für ein Kind sein können, doch bei einem Baby kann jedes unerfüllte Bedürfnis zu einem Anstieg des Cortisolspiegels führen – und damit zu einer Erweiterung des schwarzen Lochs. Glücklicherweise gibt es ein Gegenmittel: die Geborgenheit, die es bei der Mutter oder dem Vater erlebt. In Laborstudien konnte gezeigt werden, dass der Cortisolspiegel von Babys sinkt, wenn sie in einer stressigen Situation auf den Arm genommen und gehalten werden.

    In der Studie aus Minnesota untersuchten L. Alan Sroufe, Byron Egeland, Elizabeth A. Carlson und W. Andrew Collins die Entwicklung von 180 Kindern vom letzten Schwangerschaftstrimester bis ins Erwachsenenalter und stellten fest, dass eine sichere Bindung am Anfang des Lebens einen nachweisbaren Schutz vor den verheerenden Auswirkungen von Stress während der gesamten untersuchten Zeitspanne darstellte.

    Außerdem fanden sie Zusammenhänge zwischen Unsicherheit und späteren psychischen Problemen. Sicherheit zu geben bedeutet, einen sicheren Hafen der Geborgenheit und eine sichere Basis für Erkundung zu bieten, je nachdem, was gebraucht wird. In der zuvor beschriebenen Szene konnten wir sehen, wie Leis Vater seiner Tochter beides gab. In der Minnesota-Studie zeigten Kinder, deren Eltern ihnen keine emotionale Geborgenheit geben konnten, mehr Störungen des Sozialverhaltens in der Adoleszenz, und Kinder, die von ihren Eltern am Erkunden gehindert wurden, litten als Jugendliche mit größerer Wahrscheinlichkeit unter Angststörungen. Die Studie fand zudem einen Zusammenhang (wenn auch keinen ganz so deutlichen) zwischen diesen zwei Arten von Unsicherheit und Depressionen – die Kinder fühlten sich entweder hoffnungslos und entfremdet oder hilflos und ängstlich.

    Der Weg der Entwicklung ist voller Aufgaben, die Ihr Baby bewältigen muss, Fertigkeiten, die es zu lernen, und Fähigkeiten, die es zu entwickeln gilt. Und wie sie sehen werden, spielt Bindung bei vielen davon eine entscheidende Rolle.

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