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Die gelben Quadrate
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eBook337 Seiten5 Stunden

Die gelben Quadrate

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Über dieses E-Book

Der Philosophiestudent Sebastian Calan lebt mit drei Mitbewohnern in einer Wiener Wohngemeinschaft. Calan ist sowohl seines am pulsierenden Leben vorbeiexerzierenden Scheindaseins als Student als auch seiner Beschäftigung als Assistent bei Professor Wilmitsch überdrüssig. Und auch die Beziehung zu seiner Freundin Lydia, deren Trägheit ihn mehr und mehr aufbringt, steht auf der Kippe.

Als Sebastian den jungen Star-Philosophen Geronimo, Wilmitschs Neffen, kennenlernt, verstrickt er sich ganz und gar nicht widerwillig in dessen undurchschaubare Pläne, die ihm eine andere Lebenswirklichkeit näherbringen. So, gänzlich verwandelt, trifft er eine Entscheidung, die nicht nur seine WG-Mitbewohner verstört.
SpracheDeutsch
HerausgeberHollitzer Verlag
Erscheinungsdatum2. Nov. 2018
ISBN9783990125304
Die gelben Quadrate

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    Buchvorschau

    Die gelben Quadrate - Simon Konttas

    SIMON KONTTAS

    DIE GELBEN QUADRATE

    Roman

    Lektorat: Teresa Profanter

    Umschlaggestaltung: Daniela Seiler

    Satz: Daniela Seiler

    Hergestellt in der EU

    Simon Konttas: Die gelben Quadrate

    Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von:

    MA 7 – Kulturabteilung der Stadt Wien

    Alle Rechte vorbehalten

    © HOLLITZER Verlag, Wien 2018

    www.hollitzer.at

    ISBN 978-3-99012-530-4

    1

    „Stört’s dich, wenn ich zumache?", fragte die zwanzigjährige, etwas dickliche junge Frau, nachdem sie ihre ausgerauchte Zigarette in den Innenhof des Altbaus geworfen hatte, und mit glasigen Augen dem zischelnden Verlöschen des Stummels in einer der Pfützen folgte.

    „Pfui, dieser Regen, schon seit drei Tagen", sagte sie und wandte sich dabei wieder dem Brett zu, auf dem geschälte Kartoffeln im fleckigen Licht der Küche matt glänzten.

    „Nein, nein", sagte Sebastian, geistesabwesend und in Gedanken an den seit gestern Abend erwarteten Anruf.

    Sebastian Calan, Student der Philosophie, bewohnte mit zwei weiteren – er pflegte nicht „Mitbewohner, sondern nur das unverfänglichere Wort „Menschen auf diese anzuwenden – Menschen also eine Wohnung eines alten Hauses im fünften Wiener Gemeindebezirk mit hohen Zimmerdecken und knarrenden Fußböden.

    Betrat man die in vier einzelne Zimmer mit gemeinsamer Küche geteilte Wohnung, durchquerte man einen immer im Dunkeln liegenden Vorraum mit einem im Laufe der vielen Jahre schon schwarz gewordenen Parkettboden; linkerhand befand sich ein kleines Badezimmer; geradeaus gehend gelangte man in einen gemeinschaftlich genutzten Raum, in dessen einer Ecke ein Aquarium stand und an dessen Ende sich ein weiterer Flur in das mit vielen Teppichen ausgelegte Zimmer des anderen „Menschen" öffnete. Von der Diele kommend, gellte einem sogleich das Weiß der alten Kacheln der Küche entgegen, in deren einem Eck sich der Raum mit der Toilette befand, die einer der ehemaligen und schon längst ausgezogenen Bewohner mit alten Filmplakaten, Werbebändern und eigenen Zeichnungen beklebt hatte: ein winzig kleiner Raum, in welchem man stets das Gefühl hatte, als ob ein eiskalter Luftzug die entblößten Beine umwehte, in welchem sich länger als notwendig aufzuhalten jedoch um der vielen Bildchen willen nicht unbedingt unangenehm war, wie Sebastian schon oft festgestellt hatte.

    So saß auch jetzt der dritte „Mensch, Bruno, ein vierzigjähriger und, wie auch die junge Frau, etwas dickerer Mann, auf ebenjenem Ort, wobei sein ausgestoßenes Gepfeife die Räume halb mit Lustigkeit, halb mit einer gekünstelten und darum, zumal für Sebastian, nicht unbedingt leicht erträglichen Unbefangenheit erfüllte. Das Mädchen, ähnlich unbedarft wie ihr älterer Mitbewohner und von weniger anspruchsvollem Gemüt, begann zu lächeln. Zwischen den beiden entspann sich ein sorgloses Geplänkel, das mit der knarrenden Wasserspülung, deren krachendes und schäumendes Kreischen die gesamte Wohnung auszufüllen schien, ein jähes Ende fand. Der Mann, der eine einer Tonsur ähnelnde Glatze hatte, strich sich, aus dem kleinen, kalten Raum tretend, mit selbstgefälliger Zufriedenheit über den Bauch und platzierte sich auf einer der Arbeitsflächen. Während er sich streckte, wippte er mit den Beinen hin und her, wobei er, nach einigem Gähnen und Knacken mit den wulstigen Fingern – Sebastian wunderte sich immer aufs Neue, dass aus diesem weichen Wulst sich ein derartiges Knacken überhaupt vernehmen ließ – sagte: „Mmhh, das riecht gut. Was wird das, wenn’s fertig ist?

    „Ein ganz normaler Kartoffelauflauf", sagte Beate.

    „Mmhh, ich mag Kartoffeln sehr", sagte Bruno.

    Die beiden „Menschen hatten, nachdem sie hier, einige Monate vor Sebastian, eingezogen waren, Gefallen gefunden an der Tatsache, dass die Initialen ihrer Namen sich deckten; dies in mundfertig-rascher Schalkhaftigkeit als Schicksal ausgelegt und beschlossen, dass, nach Aufnahme der vierten und letzten Mitbewohnerin, man in der Wohngemeinschaft ein Herz und eine Seele sein wolle; welches Vorhaben weniger durch die nach Sebastians Einzug an ihm spürbar werdende Abstandnahme von einer allzu raschen und voreiligen Berührung der Lebenskreise anderer Menschen vereitelt wurde, denn eher durch die gereizte Verschlossenheit der neuen Mitbewohnerin Carolina, die sich, außer abends, kaum je blicken ließ und sich auch sonst in einer schweigsamen Ummanteltheit gefiel, in der sie, wie Sebastian beobachten konnte, ihr vorgeblich durch die Männer verursachtes Leid ungestört bejammern konnte. Auch an diesem Septembervormittag saß sie in ihrem Zimmer und versteckte sich vor den anderen. Man wusste davon. Um aber etwas zu sagen, flüsterte Bruno mit ernstem Gesichtsausdruck und so, als ob er auf Grundlage dieses Wissens weitere Aussagen tätigen wollte: „Und die Caro, wo ist die?

    „Im Zimmer, natürlich."

    „Ach so", war die Antwort des ältesten der Mitbewohner. Dann schwieg man wieder und die vorgebliche Wichtigkeit der Sache verebbte.

    Sebastian hatte für Bruno weder eine Zuneigung, noch war ihm dieser Mensch sonderlich angenehm. An die unteren Küchenschränke gelehnt, glitt sein Blick an Brunos Gestalt ab und er fragte sich: ‚Was ist eigentlich an diesem Menschen dran? Wie kann es sein, dass er schon vierzig Jahre alt ist, sich aber benimmt wie ein Zwanzigjähriger? Was hat er sein Lebtag lang eigentlich gemacht? Wozu auch muss er sich in seinem Aquarium seit Neuestem eine kleine Schildkröte halten?‘ – Und indem Sebastian zugleich an das kleine Tier und an den dicken Menschen dachte, der in wippender Selbstgefälligkeit vor ihm stand, empfand er so etwas wie Mitleid mit der Schildkröte, die in einförmiger Nichtigkeit ihre traurigen Runden im Aquarium drehte, ab und an ihr Köpflein aus dem Wasser streckend, angewiesen auf die Gutmütigkeit von Menschen wie Bruno oder Beate, die, wenn sie geruhten, es nicht zu vergessen, das Tier fütterten; wobei sie dies aber häufig zu tun vergaßen. Das bald in erstickender Größe wie aufplatzende und bald wie unverhältnismäßig aufgequollene Mitleid mit dem Tier verdichtete sich in einem prüfend-wägenden Blick auf Bruno, der wieder mit seinem Pfeifen begann und an das schmale und hohe Fenster getreten war, dann das Pfeifen unterbrach und sagte: „Pfoah, so ein Wetter. Ich mag das Wetter im September überhaupt nicht. Eigentlich mag ich nur den Sommer. Im Sommer geh ich ins Gänsehäufl, aber man kann ja auch auswärts schwimmen gehen, oder? Ich meine, was willst du im Winter eigentlich machen; kannst ja nur zu Hause sitzen und nichts tun, ich meine: Was willst du im Winter machen? Ich verstehe die Caro schon irgendwie. Die liest ja viel, oder? Aber ich hab gar keine Kraft zu lesen. Das Wetter schlägt mir einfach zu sehr aufs Gemüt … Sebastian horchte auf: Hatte Bruno soeben das Wort „Gemüt verwendet? Aber wie sollte man sich diesen, nun, zwar nicht Koloss, aber anständig beleibten Menschen beim Schwimmen vorstellen, und das auch noch gemütvoll …? „…und dann fühl ich mich einfach so müd beim Lesen. Ich bewundere das, keine Frage, das muss ich schon sagen, genau. Ich habe letztens ein Buch über die Aura des Menschen ausgelesen. Sehr interessant. Du musst die Aura von unten bis oben entoden oder so irgendwie heißt das: Ich glaube, da sagt man ‚entoden‘. Das heißt: du musst dich hinstellen und dann dich ganz auf die Mitte deines Körpers konzentrieren und dann musst du gut und langsam atmen. Das ist deshalb, damit du deine Aura reinigst. Dann fühlst du dich sauber und kannst dich ganz mit voller Energie den Sachen widmen, genau. Bruno hatte die Angewohnheit, am Ende seiner Ausführungen das Wörtchen „genau zu verwenden, so als ob er jene Bestätigung, deren er auswärts nicht teilhaftig wurde, sich einfach selber gebe.

    „Und, kommt die Lydia heut übrigens?, fragte Bruno, sich in einem jähen Ruck vom Fenster zu Sebastian wendend, der, noch am Faden wie tropfenweise sich formender Gedanken spinnend, nicht sofort zu antworten vermochte. Nach einigen Augenblicken erst nickte er. Dann, als sich Bruno erneut zum Fenster drehen wollte, um sein Selbstgespräch fortzusetzen, sagte Sebastian: „Ach so, nein, nein, sie kommt nicht. Ich fahre hin. Ich fahre zu ihr.

    „Ach so, du fährst heute nach Blumau?", fragte Beate.

    „Ja, ja", sagte Sebastian.

    „Blumau ist übrigens ein schöner Ortsname, findest du nicht? Lass dir das auf der Zunge zergehen: Blum. Au. Die Au, wo die Blumen blühen, fast wie im Paradies, oder? Die Lydia hat dort ein Pferd stehen, oder?" Sebastian bejahte die Frage.

    „Seit wann kennt ihr euch eigentlich?, fragte Bruno, wobei er aber, ohne die Antwort abzuwarten, fortsetzte: „Genau. Blum. Au. Finde ich schön, oder? Da gibt es ja das Sommertheater und die Steinerschule ist dort, oder? Ich war einmal dort, in der Gegend, Fliesen legen. Ja, das ist aber auch schon zwanzig Jahre her. Da hab ich noch Kraft in den Muskeln gehabt, echt wahr. Ordentliche Muskeln und sogar einen Waschbrettbauch hab ich gehabt. Beate wandte sich um: „Echt?, fragte sie, das „E in die Länge ziehend.

    „Pfoah, wenn ich noch Fotos hätte, könnt ich die euch zeigen. Anfang der Neunziger war das, genau. Da habe ich noch einen Waschbrettbauch gehabt. Aber, na ja, man kann ja nicht alles haben. Die Zeiten ändern sich eben, oder? Ich mein, so ist das halt, da kannst du nichts machen. Ich weiß nicht, was ich heute als Student tun würde, wenn ich kein Geld hätte. Damals ist es uns wirtschaftlich ja noch gut gegangen. Du hast dich wo hingestellt, hast gesagt: Hallo, da bin ich, nehmt mich und – zack, bum – da haben sie dich dann genommen. Und ich hab wirklich gut verdient, als Student. Ich mein, ich war ja auch fesch, ich mein, mit Verlaub, jetzt kann ich das sagen. Ich hätte mehr Freundinnen haben können. Ich sage: ‚hätte‘. Ich weiß wirklich nicht, was ich heute tun würde, um zu Geld zu kommen. Heute kannst du einfach nichts machen. Du bist heute einfach total hilflos, ich meine, die Wirtschaftskrise und das alles. Was kannst du schon machen? Du kannst Plasma spenden oder Schmuck stehlen, genau … und dann verkaufen, oder du kannst drei Handys … – die kannst du anmelden und dann gleich wieder verkaufen, genau … aber ich meine: Wer macht das, wer tut sich das an? Aber so ist das halt, genau. Die Zeiten ändern sich und wir müssen uns an die Zeit anpassen, da hilft nichts. Wenn du nichts machen kannst, kannst du eben nichts machen, da hilft das Jammern auch nichts. Ich meine, du brauchst ja nur aus dem Fenster schauen. Das Wetter war einfach auch besser, damals. Ich meine auch: Wie soll ich jetzt noch trainieren? So einen strammen Waschbrettbauch bekomme ich nie mehr wieder zusammen, aber die Zeiten ändern sich eben, genau."

    „Dann musst du dich eben entoden", sagte Beate.

    „Ja, genau, deshalb hab ich ja auch das Buch gekauft. Ich hab’s ja nicht umsonst gekauft. Du kannst ja nichts machen, was willst du tun? Im Kaffeehaus kann ich auch nicht den ganzen Tag sitzen, das Spazierengehen wird auch langweilig mit der Zeit. Pfoah, jetzt hab ich mich geschreckt!", rief Bruno plötzlich aus.

    „Huh, ich mich auch." Das an der Wand angebrachte Telefon klingelte, ein richtiges Festnetztelefon, dessen Notwendigkeit von der alten Vermieterin, die in einer Villa im neunzehnten Bezirk wohnte und sich immer mit dem Taxi in die Cafés des ersten Bezirks fahren ließ, aufs Entschiedenste verteidigt wurde.

    „Ist das jetzt dein Professor?", fragte Bruno, während Sebastian, innerlich unwillig sowohl über diese ihm dreist anmutende Frage wie auch über den Anruf selber, den er mehr gefürchtet denn erwartet hatte, sich dem laut und aufdringlich läutenden Apparat näherte. ‚Alles ist in dieser Wohnung laut und aufdringlich: die knarrenden Bretter, die Toilettenspülung, das Telefon, dieser Bruno. Zum Glück geht mein Zimmer auf eine Sackgasse. Gott sei Dank ist es in meinem Zimmer ruhig.‘ Sebastian atmete, in dieser Mischung von Beklemmung und Glück, schwer und ihm war plötzlich – ‚Wie lange schon‘, fragte er sich, habe ich nicht so gefühlt? Und warum nicht?‘ – nach Weinen zumute: ‚Ja, warum habe ich nicht so gefühlt? Und jetzt das. Jetzt ruft dieser Wilmitsch mich an. Seinetwegen fühle ich so. Seinetwegen erlebe ich ein Gefühl. Dann aber wird er mich vereinnahmen, dann wird er mich binden und ich werde sein Mitarbeiter sein und dann werde ich nichts mehr empfinden, dann werde ich abstumpfen und versauern in der stickigen Luft der Archive und des Kellers. Und wozu das alles? Für die neue Edition irgendeines Werks, für das sich niemand interessiert? Wozu das alles? Kurzes Erleben, kurzes Aufflackern einer menschlichen Regung und dann soll das alles aus sein, überfrachtet und überstickt von der erbärmlichen Nichtigkeit der Wissenschaft und wozu, wozu …?‘ Sebastian hörte Professor Wilmitschs fröhliche, bubenhafte Stimme, der das beständige Lächeln eingeschrieben war wie einem Baumblatt seine Adern. Und kaum hatte Sebastian sich versehen, sagte er ein ‚Ja‘ und in diesem Augenblick, als er es aussprach, schien ihm, dass alles egal und gleichgültig sei; nicht einmal mehr der trotzende Unmut, verursacht durch die dreiste Ungezwungenheit Brunos, vermochte ihn noch zu stören. ‚Mich stört nichts, weil mir alles egal ist. Mir ist alles egal, weil ich plötzlich innerlich abgestorben bin.‘ Sebastian war, als ob er ausspucken müsste, wie nach einer langen Anstrengung, die er bald auskostete und die er zugleich lächerlich übertrieben fand. Er sprach mit Wilmitsch.

    2

    Die Mutter von Sebastians Freundin Lydia, eine kleine, schwarzhaarige Frau, die, hierin ganz das Gegenteil ihrer trägen und schwerblütigen Tochter, großen Gefallen fand an Gartenarbeit und an haushälterischen Verrichtungen, wohnte – schon seit Langem von ihrem Mann geschieden – in einem heruntergekommen wirkenden Häuschen am Rande des Örtchens Blumau. Das Häuschen ähnelte einem englischen Cottage. Seine Wände waren weiß getüncht, es war einstöckig, hatte an einer Stelle ein sehr weit hervorragendes Dach und war niedrig, viel zu niedrig für Sebastians Geschmack. So sehr Lydias Mutter Helga in der Arbeit im Freien Sinn und Kraft fand, so wenig tat sie dies innerhalb ihrer eigenen vier Wände. Die innerhäuslichen Verhältnisse waren zwar nicht unsauber oder gar unhygienisch, aber es herrschte ein ziemliches Durcheinander, das durch die dösende und lustwandelnde Anwesenheit von zehn Katzen und Katern nicht wenig unterstrichen wurde; die Enge der Zimmer sowie die Niedrigkeit der Zimmerdecken trugen das Ihre bei, um dem Haushalt einen Anstrich von sorgloser Wildheit zu verleihen. Auch tummelten sich in dem Haus zwei Hunde, die dank des großen Gartens jedoch so gut wie nie ausgeführt wurden. Die zwei großen Tiere, gutmütig und ihres an Gerüchen reichen Lebens froh, waren von derselben dahingefläzten Urwüchsigkeit wie sie auch die Katzen auszeichnete und wie sie Sebastian – leider zu oft – auch an Lydia glaubte ausmachen zu können.

    In diesem Haus nun hielt sich Sebastian vor einem Jahr auf. Seit seiner Verbindung mit Lydia war es zu sehr vielen Besuchen gekommen, die, wenngleich die inneren Verhältnisse nicht ganz Sebastians Erwartung übersichtlicher Reinlichkeit entsprachen, er dennoch nicht ungern über sich ergehen ließ, zumal die Nähe des Waldes, heller Lichtungen und kleiner Flüsse seinem Wesen, wie ihm schien, sehr schmeichelte. Auch hatte Helga eine eigentümlich mütterliche Sympathie für den Lebensgefährten ihrer Tochter entwickelt, nicht zuletzt weil Sebastian sich immer einem der beiden Hunde annahm, um diesen auszuführen, wobei er oft mehrere Stunden lang mit dem Tier ausblieb, das dann, von solchem ungewöhnlichen Abenteuer ermattet zurückkehrend, sich gleich in sein Körbchen legte, um in seliger Indolenz einzuschlafen. Besondere Vorliebe hatte Sebastian für den schwarzen Mischlingshund, der auch an diesem Tag vor einem Jahr zu seinen Füßen lag, als er, Äpfel für einen Kuchen schälend (Helga hatte ihn darum gebeten), dem pausenlos laufenden Radioprogramm seine Aufmerksamkeit schenkte.

    Helga besaß keinen Fernseher oder andere ähnliche ‚Kontakte zur Außenwelt‘, wie sie, in einer ihrer Tochter ganz entgegengesetzten Verschmitztheit zu sagen pflegte, stolz auf ihre Abgeschiedenheit, die es ihr auch gestattete, in solch dem Durcheinander ergebenen Wohnverhältnissen zu hausen, ohne dabei auf andere mit einer allzu übertriebenen Reinlichkeit Rücksicht nehmen zu müssen.

    Es war ein gutes Radioprogramm, das neben klassischer Musik und World Music Reportagen aus anderen Ländern brachte sowie Diskussionssendungen. ‚Ich versteh zwar nicht viel von dem, was die Leut da reden, aber ich hör mir’s schon gern an, weil sie so schön sprechen. Das mag ich‘, hatte Helga einmal gesagt. An jenem Nachmittag, nachdem ein tönender Gong die Nachrichten eingeläutet hatte, folgte eine Diskussionsrunde. Es wurde über literarische und philosophische Neuerscheinungen gesprochen. Der Moderator, bekannt für seine weiche und tragend-tiefe Stimme, beherrschte mit milder Teilnahme die sich Unterhaltenden, von denen einer über ein erst neulich erschienenes Werk eines gewissen Geronimo Weißler zu sprechen begann. Sebastian hatte am Vortag, im Café sitzend, zufällig einen Artikel über eben diesen Weißler gelesen, dessen Foto, beinah größer als der Text selber, neben diesem abgedruckt war: ein gutaussehender, dreiunddreißig Jahre alter Mann, der, eine schlanke Blondine im Arm, mit in den Nacken geworfenem Haar, in seines Erfolgs sicherer Selbstgewissheit in die Kamera lächelte. Sebastian hatte den Text nur überflogen und nicht viel von dem aus Weißlers Buch Zusammengefassten verstanden. Der Artikel handelte mehr von des ‚Pop‘-Philosophen (wie Weißler betitelt wurde) schöner Freundin, die, selbst eine Philosophin, sich zuerst als Model, wie es in dem Artikel hieß, ‚durchgeschlagen‘ hatte, bevor sie, vermittels der Berühmtheit ihres Lebensgefährten, jener Aufmerksamkeit teilhaftig geworden war, die ihr eigentlich schon vor seinem Ruhm gebührt hätte. Es war ein Frauenmagazin, das Sebastian durchgeblättert hatte. Vergeblich versuchte er aus dem Artikel herauszulesen, worin die denkerische Leistung der Model-Philosophin bestanden haben sollte, die, wenn sie in gedruckter Form vorläge, sicherlich nicht wenig einschlägig wäre, wie Sebastian dachte.

    Helgas Hund blickte, zu Sebastians Füßen liegend, auf, als sich dieser nun doch erhob, um das Radiogerät lauter zu stellen.

    Die eigentliche Gesprächsrunde über Weißlers zwar nicht erstes, aber neuestes und vorgeblich bahnbrechendes Werk, hatte erst begonnen. Ölig weich eine nicht gerade leicht nachvollziehbare Frage formulierend, wandte sich der Moderator an einen der Philosophen, der, nach einem Räuspern, den offenbar ebenso wenig leicht nachvollziehbaren Versuch wagte, das in Weißlers Buch Dargestellte der Hörerschaft zu vermitteln: Der eigentlich interessante Gedanke, so der Philosoph, bestehe darin, dass die Welt, laut Weißlers Untersuchungen, in Wirklichkeit gar nicht existiere; nicht, weil sie nicht etwa in actu existiere, sondern weil das denkende Subjekt nicht vermöge, sich seiner Beteiligtheit an dem, was Welt sei, zu entschlagen, sprich (der Philosoph verwendete, so wie Bruno das Wörtchen ‚genau‘, ebenso häufig das Wörtchen ‚sprich‘) aus der Welt herauszutreten. Da sei nun einmal ‚gleichsam‘ die ‚axiomatische Annahme‘ des Philosophen Weißler. Es handle sich dabei um einen ‚radikalen Realismus‘, den Weißler ja, wie bekannt sei, vor einem Jahr an einem heißen Juliabend in Rom mit seinem Freund und Mitdenker Karl Rank, ausgerufen habe, indem die beiden Denker sich durch ein Fachblatt an die denkerische Öffentlichkeit gewandt hatten, diesem Ausruf zu folgen, um ‚gleichsam‘ ein neues Zeitalter des ‚fühlenden Denkens, in dem nichts unmöglich sein soll‘ auszurufen. Das aber wolle er nur am Rande für die ‚Hörerinnen und Hörer ins Gedächtnis rufen‘. Es sei also insofern ein ‚radikaler Realismus‘, als er sich ‚diametral‘ vom Konstruktivismus unterscheide, indem dieser behaupte, es gebe in einer Situation nur so viele Glieder, wie es Glieder gibt; was man sich konkret so denken könne: Man sitze hier im Radiostudio in Wien und so gebe es die Hörerschaft, das Radio und das Thema, über das geredet werde; der ‚radikale Realismus‘ jedoch gehe davon aus, dass es zu jedem Bezugspunkt der Realität einen weiteren Bezugspunkt gäbe, indem er denselben von innen heraus konstruiere, wobei man sich das Ergebnis wie ein Netz vorstellen könne. Der Moderator fragte, ob er dies anhand eines Beispiels den ‚Hörerinnen und Hörern‘ näher erläutern können; das sei ja doch ‚durchaus kompliziert‘. Nein, da dürfe man, so der Philosoph, nicht zu kompliziert denken und so sagte er: „Stellen Sie sich vor, Sie lesen ein Buch, wobei Ihnen jemand zuschaut. Für den Konstruktivismus gibt es das Buch, den Leser, den Zuschauer. Für Weißler jedoch gibt es das Buch, das Buch für den Leser, das Buch für den Zuschauer; und, weiter gesprochen, gibt es laut Weißler den Zuschauer für den Zuschauer, den Zuschauer für das Buch und so weiter …" – Man müsse sich also, so der Interviewte, die Welt wie ein großes Geflecht vorstellen, in dem die Interaktionen nicht mehr einseitig perzipiert werden dürfen, sondern man ‚gleichsam‘ eine Perspektive des ‚äußeren Innen‘ und ‚inneren Außen‘ einnehmen müsse, was ja bekanntlich auch Weißler in seinem neuesten Werk sehr schön mit Gedichten von Rilke illustriere, in welchen – vor allem im Stundenbuch – die Perichorese der Dinge gewürdigt würde. Der Moderator sagte: „Wir sollten hier vielleicht das Wort ‚Perichorese‘ als Durchdringung …, aber der Interviewte unterbrach ihn: „Richtig, als Durchdringung begreifen. Das ist ein aus der russischen Orthodoxie entlehnter Begriff, genauer, aus der Dogmatik, durch welchen die wechselseitige Durchdringung der drei Hypostasen der Trinität bezeichnet wird. – Rilke nun habe dieses Gefühl der Durchdringung, das ja auch ‚gleichsam eminent‘ ein Gefühl des Weltzusammenhangs sei, in seiner Philosophie des ‚Außen ist Innen und Innen ist Außen‘ gelebt und ‚kongenial‘ in seinen Gedichten darzustellen gewusst; Weißler nun falle hier der Verdienst zu, das von Rilke und vielen anderen im Laufe der Geistesgeschichte ‚gleichsam‘ nur mystisch Empfundene in klare Kategorien überführt zu haben, wobei Weißler auch Konsequenzen fürs eigene Handeln und für den Diskurs ziehe; wobei sich Weißler auch dieses Begriffes zu Genüge bediene, um darzustellen, dass kein Diskurs nur an sich selber Genüge finde, sondern nur im Rahmen eines Netzwerkes ‚konfigurierter Interaktion‘ Sinn habe.

    Nachdem der Philosoph geendet hatte, fragte, seine Frage noch zögerlich, in stirnrunzelndem Nachdenken sich bilden lassend, der Moderator, inwieweit Weißlers Thesen dem Zeitgeist entsprächen, zumal der Gedanke des ‚Netzes‘ in ‚unserer vernetzten Zeit‘ auf der Hand liege. Wieder räusperte sich der so Gefragte und setzte an: dass natürlich jede Philosophie einer zeitgeistigen Strömung ihre ‚Reverenz‘ erweise, sie aber nichtsdestotrotz als ‚gleichsam‘ eigenständige Substanz, wenn man das so plakativ und ‚salopp‘ sagen wolle, wahrgenommen werden müsse, da nur die konzentrierte, aus dem Zusammenhang gerissene Betrachtung, ‚gleichsam‘ im Stile der ‚epoché‘ der Phänomenologen, einen Anhaltspunkt bieten könne für ein der Sache gemäßes Verstehen, wobei man natürlich, wenn man sich an die Sache aus diesem Blickwinkel herantaste, durchaus die Geschichte und den Diskurs mit ins Spiel nehmen dürfe, um nicht einer solipsistischen, ‚gleichsam‘ autistischen Betrachtungsweise zu verfallen …

    Sebastian erhob sich, schaltete das Radio ab und setzte das Schälen der Äpfel fort. Es war still im Haus. Die Katzen bewegten sich lautlos, der schwarze Hund schlief, der andere Hund war im Garten, Lydia befand sich bei ihrem Pferd im Stall und Helga war weggefahren, um Einkäufe zu erledigen. Die Ausführungen des langsam und gewählt sprechenden Philosophen – er sprach so, als ob er jedes einzelne Füllwort, deren er viele gebrauchte, zehnmal abwägen müsste – hatten in Sebastians Kopf eine sonderbare Leere erzeugt. Er betrachtete den Apfel, den er in der Hand hielt, und sah dann aus dem Fenster. Es war sehr warm für einen Septembertag, und es schien die Sonne. Sebastian war, als könne er sich, im Überschwang eines kitzelnden Augenblicks, in den im Garten im Erdreich wühlenden Hund hineindenken. Es wühlte und grub in ihm und schwere, trockene Erdklumpen warfen sich ihm ins Gesichts; er grub und grub, bis er auf etwas Hartes stieß, ein Stück Stein; dann trat er einen Schritt beiseite und grub an einer anderen Stelle weiter, so lange, bis er ausglitt und auf etwas Flüssiges stieß. Dann macht er kehrt und trottete durch den Garten, in dem schon seit Jahren verstreutes Plastikspielzeug lag, das eines der Nachbarskinder, als es sich mit seinen Eltern hier aufhielt, vergessen hatte. Über eine der Plastikgießkannen wucherte schon etwas Moosartiges und in zwei, drei Jahren würde die Erde diese Kanne vielleicht schon ganz verschluckt haben; so wie Bäume, die an Maschendrahtzäunen wachsen, diese überwuchern und den Zaun in sich aufnehmen; gerade so, als hätte der Baum einen Mund, der sich auf immer und ewig um den Zaun schließe, ihn nie mehr wieder loszulassen. Sebastian fühlte plötzlich einen seltsamen Ekel in sich aufsteigen und schüttelte sich. Ein Apfel fiel zu Boden. Der Hund, aus seinem Schlaf gerissen, erschrak, stieß an Sebastians Fuß.

    „Ach, lass liegen, sagte Sebastian zu dem Hund. Der blickte ihn an, groß und erwartungsvoll. „Blödsinn, sagte Sebastian und hob den Apfel auf, um ihn zur Abwasch zu tragen. Dort wusch er den Apfel und legte ihn ungeschält in die Schale. „So, steh auf", sagte er zu dem Hund, der gehorchte, sich streckte und reckte und begann, Sebastian nachzutrotten.

    „Ich gehe jetzt in den Garten und du gehst da jetzt auch hin und pinkelst dann, ja? Der Hund blickte Sebastian an. „Du sollst Lulu machen gehen, sagte er und lachte dabei. Plötzlich war ihm nach Lachen zumute. „Lulu geh machen, ja, gelt, Lulu!", rief er dem Hund zu, der, sich immer ungestümer bewegend, es gar nicht mehr erwarten zu können schien, weiteren Anweisungen Sebastians Folge zu leisten.

    Der September verging, nachdem er so manchen sonnigen Tag ins Land gesandt hatte, windig und regnerisch. Von abweisender Widersinnigkeit wie das Wetter erschien Sebastian auch der Besuch der Universität, deren entweder überheizte, unterkühlte oder stickige Säle nur ein Gleichnis und Bildnis für jene innere Gestimmtheit abgaben, die ihn schon seit mehreren Jahren daran hinderten, Sinn und Zweck der ihm angedeihenden Ausbildung klar ins Auge zu fassen, ohne dass er dabei die Kraft und den Mut gefunden hätte, entweder den angestrebten Zweig der Ausbildung zu wechseln oder gar auf einen Besuch dieser ‚Anstalt‘, wie er sie nannte, zu verzichten. Der durch diese Unschlüssigkeit verursachte Zwist mit seiner eigenen Redlichkeit war ein weiterer Grund, ihm schon die schiere Anwesenheit in diesen Räumen zu verleiden. Schon vor zwei Jahren hatte sich Sebastian gesagt: ‚Ich muss etwas tun, ich muss etwas dagegen tun; ich muss etwas erleben. Das ist nicht das Leben. Das macht mich krank.‘ – Und doch hatte er nichts getan, hatte Jahr um Jahr in nicht gerade vorbildloser Anständigkeit seine wissenschaftliche Ausbildung durchlaufen, so wie Menschen eben, die ihrer Arbeit überdrüssig sind, diese durchführen, weil sie nicht anders können, weil sie es sich nicht ‚leisten‘ können, auf diese Arbeit zu verzichten. ‚Ich kann es mir nicht leisten, ich kann es mir nicht leisten‘, hatte auch Sebastian immer wieder für sich selber wiederholt; dann jedoch, wenn er sich fragte, worin dieses Leisten bestünde und worin auch der Verlust, würde er dem zwar nicht Gehassten, aber ihn in verschiedener Weise seelisch Drückenden den Rücken kehren, fand er darauf keine Antwort; und wenn er eine fand, so ließ ihn diese nur mit einem Entsetzen zurück, gerade so,

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