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eBook264 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

Ein schillerndes, abgründiges Buch das aus Spannung, Illusion und Besessenheit einen toxischen Cocktail mixt. Marek Šindelkas Debütroman verbindet Spannung und surreale Poesie zu einer flirrenden Mischung: Kryštof, der Eigenbrötler, wächst mit Andrei, dem "Raben", und der frühreifen Nina in einem kleinen tschechischen Dorf am Waldrand auf. Er entdeckt seine Pflanzenleidenschaft und wird in den Bann der Orchideensammler gezogen, für die er fortan unter Lebensgefahr verbotene Raritäten aus dem Dschungel importiert. Kryštof verstrickt sich in eine geheimnisvolle Story, in der ein vierzehnjähriger, blinder Killer, eine wertvolle, fleischfressende Orchidee, aber auch die russische Mafia und nicht zuletzt seine verlorene große Liebe Nina eine entscheidende Rolle spielen. Als Kryštofs Leiche in einem Feld riesiger Giftpflanzen gefunden wird, steht die Polizei vor mehr als nur einem Rätsel.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum18. Sept. 2018
ISBN9783701745852
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    Buchvorschau

    Der Fehler - Marek Sindelka

    Übersetzerin

    Kryštof

    Kryštofs Leben endete genau dort, wo es einmal angefangen hatte. Ihm selbst fiel das zum Zeitpunkt seines Todes nicht auf, denn er hatte jede Menge anderer Sorgen. Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Er bemühte sich, den letzten Moment wachen Bewusstseins zu nutzen, um zu begreifen, was hier eigentlich mit ihm geschah. Die Welt um ihn herum zerfloss in eine seltsam homogene Masse, die er mit jedem Atemzug unter stechenden, brennenden Schmerzen inhalierte. Als ob er Chlorwasser atmen würde. Er verschluckte diese Masse, während er in ihr ertrank, und mit jedem Schluck versuchte er, etwas Raum zu schaffen für eine Blase reiner Luft, die jedoch nie bis zu ihm durchdrang. In seinen Adern explodierte etwas. Es fühlte sich an wie die Überdosis irgendeiner Droge. »Goldener Schuss!«, jagte es ihm durch den Kopf. Er hörte auf, sich zu wehren. Er kapitulierte, da ihm sowieso nichts anderes übrig blieb. Mit tiefen Zügen sog er die Außenwelt – die er inzwischen nur mehr ahnte – in sich ein. Seine Sinne waren mehr oder weniger außer Funktion. Ein schwindelerregendes Gefühl eigenartiger, nie erlebter Wollust durchströmte ihn. Er neigte den Kopf nach hinten und öffnete den Mund. Er öffnete sich der Agonie, die ihn vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen durchfloss. Er atmete bis in den Weltenraum. Und vielleicht noch weiter …

    Nach einer endlosen Weile spürte er, wie Regen in seinen offenen Mund fiel. Den Mund zu schließen hatte er keine Kraft mehr. Er schlief ein. Der Regen drückte ihm die Augen zu und legte zwei flüssige Münzen darauf, damit er etwas zum Bezahlen hätte auf der Reise zum anderen Ufer.

    Kryštofs Leben (wie er selbst es wahrnahm) begann mit der ersten und ältesten Erinnerung, die er hatte.

    Es war etwa so gewesen: Sie waren mit dem Zug unterwegs. Er und seine Mutter. Es war Abend. Gegen Ende des Sommers. Geschwindigkeit. Eine Landschaft unweit der polnischen Grenze. Das Abteil roch nach Eisen, Kunstleder und dem Linoleum des Bodenbelags. Er stand auf der Armlehne und konnte kaum atmen wegen des Luftstroms, der am Zugfenster vorbeirauschte. Ein Frösteln lief ihm den Rücken hinunter, als er spürte, wie sich der Wind in seinen Haaren verfing. Hinter den hügeligen Fichtenwäldern ging die Sonne unter, und über der Landschaft breitete sich kühle Luft aus. Der Geruch eines Flusses. Danach lange ein Feld. Der Zug bremste, wurde immer langsamer, fuhr schließlich nur noch Schritttempo. Und dann kam es.

    Sie fuhren in einen Wald hinein. In einen wundersamen Wald. Kryštof hielt den Atem an. Sogar seine Mutter stand auf, um einen besseren Blick auf diese sonderbaren Bäume zu haben. Er spürte, wie sie, ohne es zu merken, seine Hand fest umfasste. In den Nachbarwaggons ratterten die Fenster hinunter, da den neugierigen Reisenden der Blick durch die fettigen und zerkratzten Scheiben nicht genügte. An ihnen vorbei huschten mächtige Stämme und weiße, eigenartig verzweigte Kronen unbekannter Gewächse. Die geäderten Äste waren von einer sattgrünen, manchmal violett durchwirkten Farbe, sie wuchsen aus einem dicken Stängel heraus, liefen gleichmäßig auseinander und trugen an ihren Enden riesige Blüten. Im Abteil verbreitete sich ein intensiver Geruch. Stickig wie in einem Viehstall. Und irgendwie sonderbar salzig.

    »Das sind Herkulesstauden«, sagte seine Mutter.

    Ein paar Mal wiederholte er diesen Namen still und leise nur für sich.

    »Kryštof, niemals … hörst du … niemals darfst du mit diesen Blumen spielen, hast du mich verstanden?«

    Er nickte.

    »Die sind sehr, sehr giftig«, erklärte sie ihm. »Innen drin ist so ein Saft, der dir die Haut verbrennt. Auf dem Feld hat der Opa mal welche abgemäht, und dabei ist ihm der Saft auf die Hand getropft … Und noch Monate später hat er dann eine Blase gehabt, die so groß war wie eine Tomate!«

    Kryštof verzog das Gesicht. Er stellte sich vor, wie dem Großvater eine Tomate aus der Hand wuchs.

    Ohne es zu ahnen, blickte er damals genau auf die Stelle, an der er vierundzwanzig Jahre später sterben würde.

    Herkulesstauden. Seitdem ging Kryštof dieses Wort nicht mehr aus dem Kopf. Seine gesamte Kindheit hindurch fürchtete er sich vor dieser Pflanze. Fürchtete sich davor wie vor einem gefährlichen Tier. Fürchtete, dass diese Pflanze einmal in ihrem Prager Haus wachsen würde. Vielleicht im Keller oder auf dem Gang, und sie würden nicht entkommen können. Er bekam Albträume. Seine Mutter beruhigte ihn zwar, dass nichts dergleichen geschehen könnte, weil in Städten keine Herkulesstauden wüchsen, aber das half ihm ganz und gar nicht. Kryštof hatte das Gefühl, dass diese Pflanze eher so etwas wie ein Gespenst war, das sich nur als Pflanze getarnt hatte. Zahllose Nächte verbrachte er schließlich starr vor Grauen, vor Angst wie versteinert, wobei er unter seiner Bettdecke fast erstickte, weil er immerzu dieselbe Luft atmete. Nicht das kleinste Luftloch wagte er aufzudecken. Er wusste, dass durch solch einen Spalt eine giftige Wurzel hineinkriechen oder ein gieriges, scharfes Blatt nach ihm greifen würde.

    Herkulesstauden. Alles, was er später über diese Pflanzen hörte oder selbst herausfand, grub sich tief durch alle anderen Erlebnisse, die sich in seinem Gedächtnis abgelagert hatten, und drang bis zu seiner ältesten Erinnerung durch, um sich dort festzusetzen. Herkulesstauden umgrenzten sein Leben. Nie würde Kryštof begreifen, warum er sich nur an dieses eine Detail ihrer Reise erinnerte. Schließlich war er damals mit der Mutter unterwegs gewesen, um den Vater zu besuchen. Warum nur konnte er sich nicht an ihn erinnern? Und warum an nichts anderes aus dieser Zeit? Kryštof wusste es nicht. Am 25. August des Jahres 2002 bekam er die Chance, das alles zu begreifen, aber wie bereits gesagt: Am Ende hatte er andere Sorgen.

    Antonín Brom wurde von dem Fall abgezogen. Aus gesundheitlichen Gründen war er nicht länger in der Lage, die Ermittlungen zu leiten. Sein Zustand verschlechterte sich zusehends. Knapp zwei Wochen später starb er an den Folgen einer bis zuletzt nicht näher diagnostizierten Infektionskrankheit. Da Brom unmittelbar nach seiner Suspendierung ins Krankenhaus eingeliefert worden war, hatte er den Bericht über den bisherigen Verlauf der Ermittlungen nicht mehr abschließen können. Die Akte über den Fall hatte er nicht sehr sorgfältig geführt, was die Vermutung nahelegt, er hätte vorsätzlich etwas verschwiegen. Freilich ist das nur eine Mutmaßung, aber es ist durchaus möglich, dass der Fall für Brom zum persönlichen Anliegen geworden und er einer Sache auf der Spur gewesen war, die er bewusst aus der Akte herausgehalten hatte.

    Momentan steht uns für unsere Arbeit nur wenig Material zur Verfügung. Aus diesem Grunde bedienen wir uns aller zugänglichen Quellen einschließlich des persönlichen Tagebuchs von Brom, in dem er über den Verlauf der Ermittlungen relativ detaillierte Angaben macht (leider ungeordnet und unvollständig), um die Umstände des Falls im Nachhinein so genau wie möglich zu rekonstruieren.

    Im Tagebuch Antonín Broms fanden sich zwei Briefe in Kopie (die Originale sind als Anlage Nr. 4 der Akte Kryštof Warjak beigefügt).

    Der erste Brief trägt das Datum 26. 8. 2002 und ist an Dr. Josef Unterlinden adressiert, einen Fachmann für die Flora Asiens einschließlich bedrohter Arten auf den japanischen Inseln; Unterlinden war unter anderem Mitarbeiter des Instituts für Botanik an der Tschechischen Akademie der Wissenschaften:

    Betreff: Wissenschaftliches Gutachten zur beiliegenden Probe

    Sehr geehrter Herr Dr. Unterlinden,

    wie bereits am 25. 8. 2002 telefonisch vereinbart, übersende ich Ihnen hiermit die betreffende Pflanze zur Begutachtung. Aus den uns zugänglichen Quellen konnten wir leider nichts Konkretes über die Art in Erfahrung bringen. Mit der Bitte um alsbaldige Erledigung verbleibe ich dankend,

    A. Brom

    Beim zweiten Brief handelt es sich um Unterlindens Antwort vom 28. 8. 2002:

    Sehr geehrter Herr Kommissar,

    zunächst einmal Folgendes: Die von Ihnen eingesandte Pflanzenprobe (Teil einer Blüte sowie Wurzelbestandteile) stammt höchstwahrscheinlich vom letzten Exemplar dieser Art. Es ist ausgesprochen bedauerlich, dass Sie nichts unternommen haben, um die Pflanze am Leben zu erhalten, wiewohl dies durchaus möglich gewesen wäre. Für die moderne Botanik ist das ein unermesslicher Verlust, was ich an dieser Stelle betonen möchte. In einem so ungewöhnlichen Fall hätten Sie unverzüglich einen Fachmann kontaktieren und alle voreiligen Schritte unterlassen sollen. Sie machen sich gar keine Vorstellung davon, wie groß der Schaden ist, den Sie durch Ihr unüberlegtes Handeln angerichtet haben.

    Doch nun zu Ihrer Anfrage: Die Pflanze trägt keinerlei offiziellen Namen, da man sie aus der Klassifizierung herausgenommen hat. Das Problem dieser halbfantastischen Art (siehe weiter unten) wurde zuletzt von einigen Fachleuten eher allgemein und nur am Rande einer internationalen Konferenz in Tokio im Jahre 1982 diskutiert, wobei sich definitiv bestätigt hat, dass es sich lediglich um eine fiktive und durch nichts zu erhärtende Theorie handelte. Einen anderen Standpunkt zu vertreten war völlig unmöglich. Bis heute gab es keinerlei Beweis, der die Existenz dieser Pflanze belegt hätte, und somit erübrigte sich jede weitere Diskussion.

    Ich selbst habe erst recht spät und eher zufällig von dieser »Spezies« erfahren. Vor zwölf Jahren führte mich ein Studienaufenthalt nach Kyoto, wo ich an einem umfangreicheren Artikel über interessante ausgestorbene Arten der Insel Honshu arbeitete. Im Zuge dessen stieß ich auch auf einige Informationen über diese Pflanze, deren Reste Sie mir nun zukommen ließen. In meinem Artikel ließ ich dies alles jedoch unerwähnt, denn damals hielt ich die Pflanze – insbesondere im Hinblick auf das Wesen der genannten Informationen (Informationen kann man das eigentlich gar nicht nennen, waren es doch eher vage Gerüchte) – für ein reines Hirngespinst bzw. eine Art Botanikerlegende.

    Zum ersten Mal gestoßen bin ich auf diese Pflanze beim Studium einer Sammlung alter asiatischer Schriften, die Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen ist und mir während meines Kyoto-Aufenthalts in die Hände fiel. Es handelte sich um eine relativ umfangreiche Überlieferung japanischer Sagen, volkstümlichen Aberglaubens sowie merkwürdiger Phänomene und Mysterien. Übrigens sind in Japan seit jeher als Kaidan bezeichnete Erzählungen beliebt: Schilderungen unerklärlicher Begebenheiten, die teils als Märchen, häufiger jedoch als Horrorgeschichten daherkommen. Die erwähnte Sammlung bot etwas Vergleichbares. Ich las die Geschichten also in meiner Freizeit. Vor allem eine hat mich besonders fasziniert, wies sie doch (wenn auch nur oberflächlich) einen gewissen Bezug zu meinem Fach auf. Es war die Sage von der Blume Ushimitsuzoki (»Mitternacht«). In dieser Sage wird von einem einsamen Mann erzählt, der vor sehr langer Zeit eine Blume züchten ließ, die zu einem getreuen Abbild der Trauer werden sollte. Deshalb nannte er sie »Mitternacht«. Für ihre Veredelung opferte er seinen gesamten Besitz. Die Blume war wunderschön, aber das Tageslicht schien ihr zu schaden, und schon nach kurzer Zeit begann sie zu welken. Der bekümmerte Mann, der nun außer dieser Blume nichts mehr besaß, entschloss sich, dieser Blume sein Leben zu opfern. Er verübte Seppuku (ein Samurai-Ritual zur Selbsttötung) und starb mit dem an die Götter gerichteten Wunsch, seine Seele möge in diese Blume fahren. Und wirklich, nicht lange nach seinem Tod blühte die Blume wieder auf – und zur Erinnerung an diese merkwürdige, in den Augen der damaligen Adelsgesellschaft romantische Tat wurde die Blume zu einer besonderen Auszeichnung des Hochadels.

    Da mir die Geschichte gefiel, wollte ich herausfinden, ob sie nicht mit irgendeiner konkreten Pflanzenart zusammenhing, denn dann hätte ich diese erstaunliche Erzählung in meinen Artikel aufnehmen können. Ich versuchte also, mehr in Erfahrung zu bringen, und besuchte diverse Archive. Nach langer, ergebnisloser Suche fand ich schließlich in einem uralten Herbarium weitere Details. Das Werk in seiner Gesamtheit wirkte äußerst laienhaft. Am Rande jedoch wurde ein japanischer Adliger aus dem 17. Jahrhundert zitiert (Beginn der Edo-Zeit, aber an den Namen des Adligen kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern), der eine Blume mit der Bezeichnung »Mitternacht« beschrieb: Ihre Blüte ähnele der des Lotos, insgesamt sei sie jedoch wesentlich zarter, und noch dazu tiefschwarz … Ich erinnere mich, dass dieser Adlige zum Vergleich Begriffe wie »Finsternis« oder »Tusche« gebraucht hat. Angeblich hatte die Blume keinerlei Blätter, sondern nur lange, haarfeine Wurzeln (was genau Ihrer Probe entspricht). Sicher erwähnenswert ist, dass dieser Adlige die Blume weniger als eine Pflanze, sondern eher als eine Art »Wesen« beschrieben hat. Als habe sie eine ganz besondere Anrede verdient.

    Diese Pflanze also kam angeblich ausschließlich in Japan vor, niemals jedoch in der freien Natur. Sie war künstlich gezüchtet worden (dem Vernehmen nach als hochwirksames Verdauungsmittel; exakt zu diesem Zweck wurde sie später angeblich auch in der gehobenen Tokioter Gesellschaft verwendet, was im seltsamen Widerspruch zu der von mir weiter oben ausgeführten Legende steht). Die gesamte Pflanze war angeblich extrem giftig, und eine aus der Blüte extrahierte Substanz kam geringdosiert wohl auch als Droge mit stark halluzinogener Wirkung zum Einsatz; konkretere Ausführungen fanden sich aber keine.

    Die Ushimitsuzoki-Blume war ungeheuer selten. Gezüchtet wurden stets nur einige wenige Exemplare. Es handelte sich um ein sehr teures Luxusgut. Den Aufzeichnungen lässt sich im Grunde entnehmen, dass der Pflanze auch eine Art gesellschaftlicher oder, genauer gesagt, fast ritueller Stellenwert zukam. Zuweilen bezeichnete man sie gar als Kleinod, Juwel oder Schmuck, allerdings auch das ohne weitere Details. Grundsätzlich gibt es viele Unklarheiten; aus mir unerfindlichen Gründen scheinen manche Tatsachen gar absichtlich verschwiegen worden zu sein.

    So viel also zu all den Legenden und Gerüchten. Was meine aktuelle Kenntnis anbelangt, so kann ich nur Folgendes ergänzen: In Anbetracht der Pflanzenfarbe, also der Abwesenheit irgendwelcher grüner Teile enthält die Pflanze wohl keinerlei Chloroplasten. Folglich betreibt sie keine Photosynthese, was daraufschließen lässt, dass es sich um eine Art Parasit handelt. Der Verdacht, den Sie bei unserem Telefonat hinsichtlich der ungewöhnlichen Nährstoffaufnahme geäußert haben, lässt sich aber nur durch genauere Laboruntersuchungen erhärten. Da die gesamte Pflanze wirklich extrem giftig ist, besteht natürlich die Möglichkeit, dass Kryštof Warjak an einer Vergiftung gestorben ist. Das Resultat meiner Analyse werde ich Ihnen zu Vergleichszwecken alsbald zukommen lassen.

    Alles Weitere ist Mutmaßung und reine Spekulation. Sie erwähnten noch irgendwelche krampfartigen Bewegungen, die die Pflanze vollzogen hätte, als Sie sie entdeckt haben. Könnten Sie mir eine detailliertere Beschreibung nachreichen? Oder wäre es vielleicht möglich, dass wir uns treffen, um das Ganze persönlich zu besprechen? Sehr gern würde ich weitere Einzelheiten erfahren.

    Zum Abschluss noch dies: Offensichtlich ist diese Pflanze für eingeweihte Privatsammler von unschätzbarem Wert. Deshalb würde ich auch die Möglichkeit nicht ausschließen, dass K. Warjak in den Handel mit seltenen Pflanzen involviert gewesen ist.

    J. Unterlinden

    Aus Antonín Broms Tagebuch, Seite 23:

    (undatiert)

    Auffindungssituation der Leiche von Kryštof Warjak

    Den Fund gemeldet hat am 25. 8. 2002 um 20:05 Uhr eine Anna Bielinsky. Die Leiche wurde zunächst von zwei Kindern aus einem vorüberfahrenden Schnellzug (Intercity Prag–Breslau) entdeckt: Petr und Štěpán Bielinsky, die Söhne der Anna Bielinsky.

    Kurz vor 20:00 Uhr teilte A. Bielinsky dem Schaffner mit, neben den Gleisen liege offenbar ein Toter. Im nächsten Bahnhof wurde der Zug für zehn Minuten gestoppt, und die Bielinsky meldete ihre Beobachtung über das Bahnhofstelefon. Der Zug konnte jedoch nicht länger angehalten werden. Deshalb wurden die Bielinsky und ihre beiden Söhne erst am Folgetag in Breslau vernommen.

    Um 21:20 Uhr, also eine Stunde und 15 Minuten nach Eingang der Meldung, trafen wir am Fundort ein. Den Angaben der Bielinsky zufolge lag der Tote in einem Feld aus Herkulesstauden (eine eingewanderte Pflanze, die im betreffenden Gebiet große Flächen überwuchert hat und als Schmarotzer auf ehemaligen Weiden und Feldern gedeiht) unweit der polnischen Grenze. Vom Bahnhof Těchonín aus gelangten wir mit einer von zwei Bahnangestellten bedienten Draisine zum Fundort. Langsam fuhren wir die Bahnstrecke ab, die der Beschreibung der Bielinsky entsprach. Links und rechts der Gleise erhob sich ein hoher Wall aus Herkulesstauden. Der Fundort war problemlos zu lokalisieren. Das Erste, was wir sahen, war die rote Jacke des Toten, die durch den Raum zu leuchten schien.

    Auf dem betreffenden Streckenabschnitt fahren die Züge immer langsamer. Beim späteren Verhör teilte mir der Lokführer mit, dies sei wegen der veralteten Schienen, die bald instandgesetzt würden. Die Obduktion K. Warjaks ergab, dass dieser weder aus dem Zug gefallen noch von jemandem gestoßen worden war. Wahrscheinlicher scheint, dass er absichtlich ausgestiegen ist. Nach wie vor ist jedoch unklar, warum.

    Vorsichtig betraten wir also das schattige, mit Herkulesstauden überwucherte Feld. Der Tote lag direkt neben der Bahnstrecke, keine zehn Meter entfernt. Aus unerfindlichen Gründen schienen alle in einem Radius von etwa drei Metern um Warjaks Leiche herumstehenden Pflanzen abgestorben und waren schwärzlich verfärbt. Teilweise bedeckten sie den Toten. Der gesamte Fundort wirkte irgendwie sonderbar. Fast unheimlich. Es herrschte eine nahezu unwirkliche Stille, ganz so, als wären wir in einen Todesstreifen geraten. Nicht das Mindeste schien dort lebendig zu sein. Alles war verdorrt. Wir bemerkten, dass nicht einmal mehr Insekten vorhanden waren, obwohl überall sonst in der schwülen, fast tropischen Luft zahlreiche Mückenschwärme hingen.

    Das war uns bereits bei unserer Ankunft aufgefallen. Weil es schon dunkel war, hatten wir den Fundort mit Taschenlampen ausgeleuchtet. Nachdem alles fotografiert worden war, machten wir uns daran, die störenden Herkulesstauden zu beseitigen und die Leiche zu untersuchen. Bis irgendwer (wahrscheinlich Waldner) uns darauf aufmerksam machte, dass die vom Licht angezogenen Nachtfalter nicht bis zu unseren Lampen geflogen kamen, was normal und natürlich gewesen wäre, sondern dass sie exakt den um den Toten herum freigebliebenen Umkreis von drei Metern aussparten und dessen Grenze nicht überflogen. Da aber immer mehr Falter Richtung Licht flatterten, dauerte es nicht lange, bis wir von einer unangenehm summenden Wand aus Insekten umgeben waren, die zwischen den noch lebenden und den bereits abgestorbenen Herkulesstauden herumschwirrten.

    Befremdet und beunruhigt zugleich machten wir uns zunächst daran, die nähere Umgebung der Leiche zu untersuchen. Wir nahmen Proben von den abgestorbenen Pflanzen und vom Erdreich. Das spätere Gutachten ergab Erstaunliches. Es gab in diesem Radius wirklich nichts Lebendiges mehr. Allerdings waren die abgestorbenen Herkulesstauden nicht verfault. Sie wiesen keinerlei Zersetzungsreaktion auf. Und auch im Boden fand sich nicht die geringste Spur irgendeines Bakteriums. Nicht das kleinste Lebewesen wurde entdeckt. Und an einer bestimmten Grenze, zu einem bestimmten Zeitpunkt war der Tod dann einfach stehen geblieben, hatte sich nicht weiter ausgebreitet. Wie eine Art Fehler im Ökosystem. In diesem Moment waren unsere Körper das einzig Lebendige innerhalb dieses beklemmenden Kreises, in dessen Mitte in Embryonalstellung der tote Warjak lag.

    Ich untersuchte die Leiche. Warjak lag zusammengerollt auf dem Boden, den Kopf nach oben verdreht, die Knie an die Brust gezogen. Er trug eine rote Trainingsjacke, ein blutüberströmtes hellblaues Polohemd, Cordhosen und weiße Turnschuhe. Seine Hand verdeckte die linke Hüfte, die eine zehn Zentimeter lange Verletzung aufwies – offenbar eine Schnittwunde (doch das Polohemd war

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