Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Selbstkorrektur: Band 1 der Scifi Dystopie - nominiert für den Seraph 2024 als bestes Debüt
Selbstkorrektur: Band 1 der Scifi Dystopie - nominiert für den Seraph 2024 als bestes Debüt
Selbstkorrektur: Band 1 der Scifi Dystopie - nominiert für den Seraph 2024 als bestes Debüt
eBook480 Seiten9 Stunden

Selbstkorrektur: Band 1 der Scifi Dystopie - nominiert für den Seraph 2024 als bestes Debüt

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

»Beschützen wir unsere Welt mit allem, was uns gegeben ist.« Grundregel 1a, Regelbuch
Ministerium für kontinentale Sicherheit, Amt für Sicherheit und Gesundheit

Dank der KIs kennen die Menschen weder Hunger, Gewalt noch Ungleichheit. Lys Deĵoro ist
Wächterin und zuständig für den Schutz der Gesundheits-KI Meneva.
Bis die friedvolle Welt aus den Fugen gerät, als Lys' Wächterkollegen ermordet werden. Ihre
Ermittlungen führen sie schließlich zum Hauptverdächtigen im Mehrfachmord, dem
Schriftsteller Yu Kishida. Eine undurchsichtige Jagd nach der Wahrheit beginnt, die nichts
mit der vorherrschenden Realität gemeinsam hat.
Wer entscheidet über den Wert der Wahrheit, wenn sie den Tod bringt und die Lüge das
Leben?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum23. Juni 2023
ISBN9783910615762
Selbstkorrektur: Band 1 der Scifi Dystopie - nominiert für den Seraph 2024 als bestes Debüt

Ähnlich wie Selbstkorrektur

Ähnliche E-Books

Science-Fiction für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Selbstkorrektur

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Selbstkorrektur - Ume S. Winter

    230329_0155_Cover_Ebook_-_Selbstkorrektur.jpg

    Copyright 2022 by

    Dunkelstern Verlag GbR

    Lindenhof 1

    76698 Ubstadt-Weiher

    http://www.dunkelstern-verlag.de

    E-Mail: info@dunkelstern-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Für alle, die nie aufgegeben haben,

    ihren eigenen Weg zu gehen.

    Inhalt

    ANMERKUNG

    Playlist

    <01 / Denaturierung>

    <02 / Initialisierung>

    <03 / Primerhybridisierung>

    <04 / Elongation>

    <05 / Identitätsfindung>

    <06 / Freier Wille>

    <07 / Alpha-Retexo>

    <08 / Apoptose>

    <09 / Systemkompatibel>

    <10 / Rêverie>

    <11 / Saudade>

    <12 / Datenimport>

    <13 / Datenaufbereitung>

    <14 / Betatest>

    <15 / Modelltraining>

    <16 / »Blackbox« — Input>

    <17 / »Blackbox« — Output>

    <18 / Unerwünschte Wahrheit>

    <19 / Gefährliche Wahrheit >

    <20 / Weltschmerz>

    <21 / Decodierung>

    <22 / Ataraxie>

    <23 / Wahre Wahrheit>

    <24 / Letzte Wächterin Asiens>

    <25 / Systeminkompatibel>

    <26 / Modellauswertung>

    <27 / Regression>

    DANKSAGUNG

    Content Note:

    Eine Content Note findest du auf den hinteren Buchseiten.

    ANMERKUNG

    Die folgenden im Buch genannten Autorinnen und Autoren sowie deren Buchtitel sind frei erfunden. Dies gilt auch für Künstlerinnen und Künstler und deren Gemälde. Überschneidungen mit realen Personen oder Büchern sowie Kunstgegenständen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Die Zitate aus diesen Büchern sind von der Autorin dieses Buches.

    Liberté Rakonti Ein Wort ohne Bedeutung

    Quirin Kim Suzuki Wissensdurst der Unmenschlichkeit

    Kerfie Lainkuuliainen Das System der fragwürdigen Errungenschaften

    Dora Sagawa Vom Finden der Wahrheit und die Revolution der Zerstörung

    Zima Maiyer 2169 – die Liebe stirbt

    Yu Kishida Der Wald ohne Zugang

    Asa Bakki Die Schimäre der Traumlosen

    Reka McAllister Traum eines Quantencomputers

    Grey Jetlikkas Der Algorithmus unserer leblosen Welt

    Nante Megan Nye Der Beginn des schönen Zeitalters im Winkel dieses Zimmers

    Hikari Orton Lichtleer, lieblos und leicht – die Leere als Zuversicht erkennen, eine Essay-Sammlung

    Gemälde von Kea Jewska Das Wunder des Lebens und sein Niedergang sowie Tag und Nacht

    Architektur und Landschaftsbau von Leonard Rumba

    Playlist

    Das sind die wichtigsten Songs, die mich in vielen Szenen inspiriert haben. Die Reihenfolge ist nicht an die Kapitel angepasst. Viel Spaß!

    Amazarashi Furui SF eiga 古いSF映画

    Kiro Akiyama Caffeine

    Imagine Dragons Walking the Wire

    9mm Parabellum Bullet Spirit Explosion

    Kitani Tatsuya Seija no kōshin 聖者の行進

    Amazarashi Todome wo sashite とどめを刺して

    The Oral Cigarettes Black Memory

    Amazarashi Bakasawagi wa mō owari バカ騒ぎもう終わり終わり

    <01 / Denaturierung>

    Er rang nach Luft, so leise er konnte. Immer wieder sah er sich ruckartig um. Sein Nacken schmerzte bereits von den zahlreichen Drehungen.

    Keine Aufmerksamkeit erregen. Ich weiß, dass es hier sein muss!

    Seine Atmung normalisierte sich etwas. Geistesabwesend betrachtete er den hohen Aktenschrank, bis sein Blick an der Nummer β2010 haften blieb. Er holte kaum hörbar Luft, und seine Finger begannen, sich durch die digitalisierten Akten zu wühlen. Zunächst durch die nummerierten Aktenkennzeichnungen. Anschließend durch die alphabetisierte Kennzeichnung.

    Ca, Ce, Ci, Co, Cu, Da … De!

    Seine Augen weiteten sich. Deĵoro! Er riss den Datenträger aus dem Flexibildschirm, wobei ihm ein spitzer Schmerz durch die Fingerkuppe fuhr. Verdammt! Er leckte das Blut von seinem Finger und stopfte den Chip mit den Daten, die ihm sein Überleben sichern würden, in seine Manteltasche. Erneut sah er sich um.

    Sein Blick kreuzte sich mit dem eines Wärters. Es war ein Blick von wenigen Sekunden, doch die Gedanken, die sich in Yus Kopf aneinanderreihten, glichen denen von mehreren Jahren.

    Das klare Visier des Wärters füllte sich mit Datensätzen. Yu erstarrte augenblicklich. Jetzt verdrängte ein einziger Gedanke alle anderen: Lauf!

    Er rannte den Korridor entlang und hörte das dumpfe Echo der Hermes-Boots, die seinen Schritten folgten. Seine Brust füllte sich mit einer brennenden Schwere. Noch ein paar Schritte, und er wäre aus dem Gebäude.

    Yu jagte um die Regalreihe und sah, dass der rettende Ausgang bereits von weiteren Wärtern eingenommen war. Es gab noch einen weiteren Ausgang. Schließlich hatte er sich seit Monaten auf diesen Tag vorbereitet und damit gerechnet, dass es hier viele Wärter geben würde. Immerhin war es das alte Archiv. Er änderte ruckartig die Richtung und verdrehte sich leicht eines seiner Knie dabei.

    Das Archiv war zum Glück eines der wenigen Gebäude, die aus der alten Welt stammten, eines, dessen Fenster noch aus der kostbarsten Ressource des Planeten bestand – aus Glas. Aus seiner Jackentasche zog er ein Puck-großes Schwingungsgerät hervor und schmetterte es an die durchsichtige Scheibe einige Meter vor ihm. Ein kurzer schriller Ton ertönte, und das Fenster war von feinen Haarrissen durchzogen. Er sah kurz zurück in den Lauf mehrerer Transkriptor-S und fand den Mut, durch das circa zwei Meter hoch liegende Fenster zu springen. Er verschränkte die Arme vor dem Gesicht, gleichzeitig drückten seine Beine ihn vom Fußboden ab. Ein lautes Klirren untermalte seinen Sprung ins Freie. Ein Glück, dass mein Mantel mit Glasfasern verstärkt ist, dachte er sich, während er nur leichte Blessuren an den Händen und im Gesicht davontrug. Seine Knie federten den Sprung ab und schmerzten, als er auf dem Bürgersteig aufkam. Er rang kurz nach Luft. Adrenalin durchströmte ihn. Yu vergaß den pulsierenden Schmerz in seinen Knöcheln und Knien. Er rannte weiter.

    »Sofort stehen bleiben!« Die Wärter kreierten erneut ein Echo zu seinen Schritten und ließen diese in der Straße verhallen.

    »Im Namen des Gesetzes, der Mitbürger und Meneva sind Sie verhaftet, Yu Kishida!«

    Er blickte kurz nach hinten. Die Wärter waren gute zehn Meter hinter ihm. Seine Schulter schmerzte. Er geriet ins Taumeln, konnte sich aber auf den Beinen halten. Erst in diesem Moment bemerkte er all die Passanten, die ihn fassungslos ansahen.

    »Im Namen des Gesetzes, der Mitbürger und Meneva sind Sie verhaftet, Yu Kishida.«

    Er sah zu den Lautsprecher-Drohnen nach oben. Alle Blicke waren ihm zugewandt. Yu fühlte sich wie in einem dichten Wald, der die Fähigkeit entwickelt hatte, zu sehen und zu hören. Doch genau wie Bäume verharrten die Passanten angewurzelt an Ort und Stelle. Keine Regung ging von ihnen aus. Keiner hielt ihn auf. Seine Lunge brannte. Dennoch stoppten seine Beine für keinen Moment. Dann sah er nach oben zur Bahnbrücke, die im Minutentakt Züge über die verästelten Verkehrswege der Metropole trug, vorbei an begrünten Glasfassaden und kühlen Wolkenkratzern. Yu griff nach dem Chip und hielt ihn fest, bis die scharfen Kanten in seiner Hand schmerzten. Er war glücklicherweise beim Sprung nicht abhandengekommen. Seine Beine begannen zu krampfen, doch er durfte nicht stehen bleiben.

    Wie ist es bloß zu all dem gekommen?, ging es ihm stets durch den Kopf. War es wirklich wichtig, die Wahrheit zu kennen? Sie von allen Perspektiven und Zeitpunkten ergreifen und begreifen zu müssen?

    Würde man dadurch ein besseres, glücklicheres Leben führen können? Im Endeffekt nützte diese Wahrheit sowieso niemandem. Ganz im Gegenteil, sie hätte nur negative Konsequenzen für jeden. Das wusste Yu bereits jetzt aus eigenen Erfahrungswerten.

    Bisher war sein Leben relativ systemkonform gewesen – ja, geradezu vorbildlich. Zumindest sein Erwachsenenleben. Für einen Schriftsteller hatte er wenige Blackboxes in seiner Vergangenheit angesammelt. Wenige Dinge, die nicht gern gesehen waren, vom Ältestenrat oder Meneva. Er wusste Grauzonen zu nutzen. Er wollte schreiben, über echte Tatsachen, verpackt in fiktionale Erzählungen. Mit seinen Romanen wollte er seinen Lesern Vorstellungskraft vermitteln, etwas, das nur noch wenigen Menschen vorbehalten war. Damit das möglich war, achtete er auf eine akribische Authentizität seiner Figuren und der Erzählperspektiven. Oft brachten ihn die Recherchen dazu mit dem Gesetz in Konflikt. Dieses Mal aber konnte er nicht mit Minuspunkten auf seinem Sozialkonto rechnen. Dieses Mal würde ihn sein Vergehen das Leben kosten.

    Als er die Leichen im Archiv des Zentrums gefunden hatte, hatte er gerade noch nach einem Buch greifen können, bevor er Hals über Kopf geflohen war. Der Chip in seiner Manteltasche war seine Versicherung. Auf ihm waren Personendaten gespeichert, die ihn direkt zu der einzigen Person führen würden, die ihn vor dem System schützen konnte. Die ihm das Leben retten konnte.

    Endlich erreichte er einen der hoch gelegenen Bahnhöfe. Er presste sich an der Menschenmenge vorbei und entwendete dabei geschickt eine herumbaumelnde ID-Karte eines Passanten. Die Ticketschranken öffneten sich, und ihm gelang es, in den gerade eingefahrenen Zug einzusteigen. Sein Hals war trocken und brannte. Jeder Atemzug verlangte nach mehr Sauerstoff, doch er tat das Gegenteil. Yu versuchte, seine Atmung zu normalisieren, und sehnte sich nach einem Schluck kühlendem Wasser. Zaghaft sondierte er die anderen Fahrgäste und entdeckte schließlich einen freien Platz am Fenster gegenüber einer Frau, der immer wieder die Augen zufielen. Er setzte sich und griff nach dem Buch in seiner Manteltasche. Ganz kurz linste er noch mal auf den Titel. Ja, das war das richtige.

    Ein leises Husten schreckte ihn auf. Sein Gegenüber nahm gerade die Ellenbeuge vom Gesicht. Yu betrachtete die Frau genauer. Husten um diese Jahreszeit, das kam selten vor. Sie musste in seinem Alter sein. Er suchte nach Daten über seinen Iris-Chip, dem FOKUS (=Fixierte Optimierung konstruiert für Umgebungsdaten-Sicherung), doch er fand keine Daten aufpoppen. Nichts war vermerkt. Nur eine Auskunft mit dem Hinweis: Daten gesperrt. Sein Blick wurde ernster.

    Die Frau starrte hingegen gedankenverloren aus dem Fenster. Ihre linke Hand stützte ihr Gesicht. Auf ihren Fingern waren verblasste Schwielen zu erkennen. Schwielen, die von etwas Schwerem verursacht worden waren. Etwas, das sie jeden Tag in den Händen halten musste. Ja, fast wie die Abdrücke einer Transkriptor, die sich auf der blassen Haut verewigt zu haben schienen. Er begann, sie zu studieren. Blasse Haut, unter der sich leicht die dunkelblauen Augenringe abzeichneten. Eine zierliche Statur, versteckt in einer lockeren Jacke.

    Kurz kreuzten sich ihre Blicke. Ihr gedankenverlorener Ausdruck war jetzt gänzlich verschwunden. Yu musste den Augenkontakt umgehend unterbrechen, doch diese hellgrauen Augen, in deren Helligkeit das Abbild der Stadt reflektiert wurde, schienen ihm auch etwas anderes zu zeigen. Etwas, wofür er noch keine Worte fand. Sein Atem stockte leicht.

    Ihre Augenbrauen zuckten kaum merkbar, dann sah sie wieder aus dem Fenster. Dieses Mal leicht verärgert. Diese Frau musste einen Beruf haben, der von ihr sowohl mental als auch physisch alles abverlangte.

    Erschöpfung kannten die meisten Menschen nämlich ausschließlich aus den historischen Aufzeichnungen. Dennoch verursachten einige Berufe nach wie vor diesen Zustand, wenn auch nur noch sehr wenige. Daraus schloss er, dass sie für den Staat arbeitete. Sein Blick wanderte hin zu ihren Schuhen, doch er hielt oberhalb ihrer Knie inne. Lichtfressend schwarze Blazer-Spitzen fielen unter dem Jackensaum hervor, während sie ihre Beine überschlug.

    Eine rationale, mit Heiterkeit untersetzte Stimme ertönte: »Shinmichi-Roku-Chōme. Shinmichi-Roku-Chōme. Shinmichi-Roku-Chōme.« Die Bahn kam zum Stehen. Ein schrilles Piepen ertönte rhythmisch und untermalte das Surren der sich öffnenden Türen.

    Lichtfressendes Schwarz! Hastig sprang er vom Sitz auf. Die Türen schlossen sich wieder. Das Piepsen ebbte ab. Er eilte zur Tür und presste schon fast panisch auf den Öffnen-Knopf. Widerwillig gaben die Türen seinem Wunsch nach, und es gelang ihm in letzter Minute, die Bahn zu verlassen. Am Gleis rang er nach Luft. Vor ihm tat sich eine Warnung über seinen hohen Puls auf. Er versuchte, sich zu beruhigen. Ein Atemzug folgte auf den anderen. Jeder weitere ein wenig länger als der vorherige. Ruhig und bedacht mischte er sich unter die Menge. Er verließ den Bahnhof ohne Schwierigkeiten mit einer neu gestohlenen ID-Karte. Der bestohlene Passant versuchte, ihm nachzujagen, doch er verlor Yu schnell in der Menschenmenge. Die Video-Suchbefehle und Lautsprecherdurchsagen zu seiner Person waren bereits verstummt. Er war froh darüber und zugleich äußerst verwundert. Sollte er etwa nicht gefunden werden? Obwohl er wegen mehrfachen Mordes verdächtigt und wegen des Einbruchs in das Archiv gesucht wurde?

    Yu hatte keine Ahnung, wo er hinsollte. Sein Haus wäre sicher zu gefährlich. Meneva und das ASG könnten ihn direkt über die eingebauten Biosensoren orten. In kürzester Zeit würde ihn dann eine Security-Drohne in Gewahrsam nehmen. Doch er brauchte ein Versteck, damit er seine nächsten Schritte planen konnte, und um die Person zu finden, die auf dem Datenchip gespeichert war.

    Hastig sah er sich um. Zu seiner Rechten tat sich eine dunkle Gasse auf. Hier fand er kurz Schutz. Er atmete durch und nutzte die flüchtige Ruhe, um nachzudenken. Er griff in seine Manteltaschen. Der Chip pikste in seine linke Handfläche, während er in seiner rechten Manteltasche ins Leere griff.

    Das darf nicht wahr sein!

    ***

    Mit jeder Fahrt über eine der filigranen Stadtbrücken rutschte ihr zartes Kinn weiter von ihrer Schwielen-gekennzeichneten Hand ab. Schließlich donnerte sie bei der Übersetzung einer größeren Brücke unsanft mit der Stirn gegen die Scheibe. Vor ihrem inneren Auge erschien sofort ein Vitalwerte-Report, der ihr eine minimale Beule an besagter Stelle prognostizierte. Sie schloss die Augen für zwei Atemzüge und löschte den unnötigen Bericht.

    Es ist ein gewöhnlicher Montagnachmittag. Endlich wieder. Sie atmete ruhig und hatte Mühe, ihre Augen offen zu halten.

    Sie seufzte und musste husten. Der Einsatz von gestern Nacht, mitten in der Kälte, hatte wohl seinen Tribut gefordert. Der Aufwand hatte sich jedoch gelohnt, denn der ID-Fälscher wurde schnell gefasst. Ihre Zufriedenheit kippte, als ein fremdes Bein ihre Knie streifte. Alles in ihr wollte zusammenzucken, aber dank ihrer Ausbildung blieb sie ruhig. Sie warf dem Störenfried einen flüchtigen Blick zu. Seine Vitalwerte waren nicht richtig lesbar. Nur seinen Puls konnte sie auswerten. 89. Leicht erhöht. Er schwitzt ziemlich. Vielleicht einfach ein nervöser Typ. Nicht weiter drüber nachdenken. Einfach ignorieren. Ich bin nicht mehr im Dienst.

    Sie löste ihren Blick von ihm und sah aus dem Fenster. Anschließend schloss sie die Augen und lauschte den unregelmäßigen, gleichzeitig tiefen Atemzügen ihres neuen Gegenübers. Sie öffnete ihre Augen wieder.

    Der etwas mitgenommen aussehende Mann prüfte nervös seine Taschen. Seine Hände tasteten die geräumigen Manteltaschen hektisch ab. Schließlich kamen seine Bewegungen zum Stillstand, und ein erleichtertes Seufzen entglitt ihm. Normalerweise hätte sie diese Person ansprechen müssen. Zumindest hätte sie seine Identität scannen müssen. Schließlich galt es, jedwedes verdächtige Verhalten zu analysieren. Zumindest, wenn sie im Dienst gewesen wäre. Seit 18:39 Uhr war das nicht mehr der Fall. Sie war jetzt im Urlaub. Endlich Zeit zum Abschalten.

    Diese immense Schwere, die sie im Körper und Geist erdrückte – sie hatte keine Kraft, sie wieder zu wuchten. Also starrte sie gedankenverloren aus dem Fenster. Sie beobachtete den Wolkenkratzer mit der bunt blinkenden Holo-Reklame über eine neue, besonders schonende Zahnreinigung. Abgelöst wurde diese von schwebenden Drohnen-Reklamen im hell erleuchteten Abenddämmerungshimmel. Fast an der vorletzten Haltestelle. Die Bahn zog an einem großen Park vorüber, in dem die Leute sich oft mit Familie und Freunden nach der Arbeit verabredeten. Ich war ewig nicht mehr hier. Aber diese Woche könnte ich mal wieder alle zusammentrommeln.

    Die kühle Stadtfassade in ihren neutralen Grautönen nahm immer mehr das satte Rot in sich auf, bis die Sonne schließlich komplett versank.

    Die Lichter im Zug gingen an. Sie spürte einen stechenden Blick und sah ihrem Gegenüber nun ins Gesicht. Warum starrte er sie auf diese Weise an? Wie sah der überhaupt aus? Ein alter Mantel? Ungekämmte Haare? Dafür würde Meneva garantiert Sozial-Punkte abziehen. Bloß nicht den FOKUS aktivieren. Langsam war sie genervt. Sie wandte sich ab, doch sie fühlte weiterhin seinen Blick auf ihr.

    Wenn er mich ansprechen will, soll er es endlich machen. Genervt schaute sie starr aus dem Fenster. Jetzt war sie unterhalb der bunt blinkenden Zahnreinigungsreklame. Gleich würde der Zug anhalten. Sie schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück.

    Der Zug ließ ein hydraulisches Gähnen ertönen. Die Türen schoben sich auseinander. Anschließend ertönte fast zeitgleich das vertraute Tüdeln, welches allein dieser Haltestelle zuzuordnen war. Nachdem es verstummte, schlossen sich die Türen wieder.

    Lys’ Gegenüber erhob sich ruckartig, und sie vernahm ein dumpfes Geräusch. Sie beobachtete ihn, wie er hysterisch auf den Öffnen-Knopf drückte und hinauseilte, ehe die Tür komplett geöffnet war. Kurz überkam sie erneut ihr Pflichtbewusstsein, schnell einen ID-Scan durchzuführen, doch da war der Verdächtige schon aus der Tür gestürmt.

    Auch gut, dachte sie sich. Endlich frei. Anderseits stimmte definitiv etwas mit seiner ID-Kennung nicht. Und seine Vitalwerte waren auch abnormal. Immerhin gab es keine Stresssituation im Zug. Auch dass er mich gestreift hat, trotz des vielen Platzes, ist ungewöhnlich gewesen. Und wieso zieht man sich so an? Es gibt nur zwei Regeln: Achte deine Mitmenschen und kümmere dich um deine Gesundheit. Das schließt auch die äußere Erscheinung ein.

    Sie schüttelte missbilligend den Kopf. Lys zog den etwas herabgerutschten Reißverschluss an ihrem rechten Stiefel hoch. Ihr Blick folgte ihrer Handbewegung, und im peripheren Sichtfeld erkannte sie einen in Leder gebundenen Papierstapel auf dem Boden liegen.

    Ein Buch? Da liegt ein Buch. Aus Papier!

    Ohne darüber nachzudenken, verschwand das Buch in ihrer Jackeninnentasche. Die Bahn setzte sich leise murrend in Bewegung. Nicht mal zwei Minuten später stoppte sie, und die Türen schoben sich erneut auseinander. Beim Aussteigen, beim Treppe Hinabgehen, ständig kreisten ihre Gedanken um das Buch in ihrer Jackentasche, welches sie fest gegen ihr hämmerndes Herz drückte.

    Ein Buch aus Papier!, versetzte es ihr immer wieder einen inneren Schrecken. Sie musste sich zusammenreißen, es nicht laut vor sich hinzusagen. Natürlich gab es Bücher, die meisten waren allerdings verboten worden. Und sie war sich sicher, dass dieses dazugehörte.

    Sie zog ihre Jacke enger zusammen und umklammerte sie, als würden eisige Minusgrade herrschen, dabei war es ein lauer Herbstabend. Auf dem Weg nach Hause versuchte sie sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ein illegales Buch versteckte. Sie schlenderte bestimmt, dennoch gemächlich an ihrem liebsten Convenience Store vorbei, kaufte sich am kleinen Essensstand in ihrer Straße ein Abendessen und schloss die schwere Tür zu ihrem Zwölf-Quadratmeter-Apartment auf. Kraftlos schritt sie über die Schwelle und ließ die Tür zufallen. Sie ließ sich an ihr hinabgleiten. Auf dem Fußboden sitzend, zog sie mit zitternd kalten Fingern das Buch aus ihrer Jackentasche.

    Dora Sagawa  – Vom Finden der Wahrheit und die Revolution der Zerstörung, las sie auf der zweiten Seite. Sie ließ das Buch fallen und sprang auf. Nicht das! Nicht so eines!

    In ihr kreisten zahlreiche Gedanken, die immer wieder gegeneinander krachten. Jegliche Art der Unterhaltungs- und Bildungsliteratur war von staatlich abgesegneten Autoren zugelassen. Doch der Ältestenrat und die KI gestatteten keinesfalls Literatur aus der Vergangenheit, die sich in irgendeiner Weise kritisch äußerte. Schon gar nicht für die höchsten Amtsträger der Sicherheit. Nein, für eine Wächterin des ASG – Amt für Sicherheit und Gesundheit – konnte allein der Besitz solch fragwürdiger Lektüre zum Verhängnis werden.

    Sie griff den verbotenen Gegenstand auf und verschanzte ihn hektisch in einer Schublade unter ihrem Schreibtisch. Dieses Buch musste aus ihrem Leben verschwinden – augenblicklich.

    <02 / Initialisierung>

    Lys versuchte, sich zu beruhigen. Ihr Herz raste, und ihre Fingerkuppen trugen schon kalten Schweiß auf der Oberfläche, der wie morgendlicher Tau glänzte. Sie war benommen. In ihrem Magen braute sich eine seichte Übelkeit zusammen. Ihr Adrenalin stieg an, das Cortisol-Level durchbrach den Normwert, und schon wählte das Smartphone für sie die Nummer ihres E-Docs.

    »Hallo, Lys. Wie ich sehe, hast du im Moment große Angst. Laut deines Dienstplans bist du beurlaubt, weswegen dieses Stresslevel paradox scheint. Ist alles in Ordnung? Befindest du dich in Gefahr?«

    Lys hielt den Atem an. Sie musste einen ruhigen Takt finden und schnellstens ihr Stresslevel senken. Aus der Freisprechanlage ihres Smartphones ertönte erneut die Stimme des E-Docs.

    »Lys? Kannst du mich hören? Ist alles in Ordnung? Bist du in Gefahr?«

    Lys griff ruhig zu ihrem Handy und atmete stumm aus. »Hallo, Dr. Džiaugsmo. Tut mir leid. Ich hatte mich wohl nur erschrocken.«

    »Erschrocken? Wovor denn?«

    »Ich hatte …« Sie stoppte und musste sich eine plausible Erklärung einfallen lassen, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Eine Panikattacke aufgrund ihres Kindheitstraumas würde ihre Reaktion völlig normal erscheinen lassen, also wählte sie diese Notlüge in der Hoffnung, nicht aufzufliegen. »Ich hatte mich an jenen Brand erinnert.«

    »Ah, ich verstehe. Wenn das so ist, sollten wir eine Therapiestunde vereinbaren, Lys. Oder wollen wir deine Dosis erhöhen? Deine Vitalwerte haben sich zum Glück wieder stabilisiert, wie ich gerade sehe. Was ist besser für dich?«

    »Ich werde die Dosis erhöhen. Wie beim letzten Mal.«

    »In Ordnung, Lys. Gute Besserung.«

    Sie seufzte und ließ das Smartphone aus ihren Händen gleiten. Müde strich sie sich über das Gesicht und lächelte sanft. Vor lauter Stress hatte sie völlig die Einnahme ihrer Pillen vergessen. Daher rührte vermutlich dieser emotionale Ausbruch. Sie schlenderte zur Küche, füllte sich ein Glas Wasser ab und nahm ihre drei bunten Pillen ein. Ihr Blick wanderte zum Fenster, hin zu ihrem kleinen Balkon, den sie sich mit ihrer Klimaanlage teilte. Der feuerfarbene Himmel machte sie immer ein wenig wehmütig. Sie ließ ihre Gedanken schweifen. Rot – diese Farbe verband sie immer mit ihrer Familie. Mittlerweile wusste sie kaum noch, wie ihre Eltern und Geschwister ausgesehen hatten oder wie die Klangfarben ihrer Stimmen gewesen waren.

    Nach einer Weile piepste der gestellte Timer. Nun wirkten die Pillen. Jetzt konnte sie ohne Probleme im gefundenen Buch stöbern. Vorsichtig holte sie es aus der Schublade heraus. Ihre rechte Hand strich zaghaft über den ledernen Einband. Ich muss das sofort melden, aber dann würde es nur in den Archiven verschwinden. Ein leises Seufzen entwich ihr. Ich könnte alles verlieren, wenn ich dieses Buch ohne Kenntnisnahme des Ältestenrates und des ASG lese. Andererseits könnte ich durch die Bewilligungsverfahren wichtige Zeit verlieren, die für eine mögliche Ermittlung relevant wäre. Sie atmete tief durch. Entschlossen schlug sie das Buch auf. Die nummerierten Blätter erinnerten viel mehr an eine Collage als an ein Schriftstück. Es befanden sich alte Fotoschnipsel, kombiniert mit herausgerissenen Seiten, darin. Teils waren die Fetzen derart stark vergilbt, dass man die Tinte kaum noch erkennen konnte.

    Wer würde so ein Buch in der Bahn vergessen?

    Lys blätterte weiter und fand Notizen zu Ereignissen vor vierundzwanzig Jahren, vor vierzehn Jahren, vor zwölf Jahren und vor einem Jahr. Sie rieb sich angestrengt die Augen.

    Vor vierundzwanzig Jahren wurde ich mit meiner Familie von Europa nach Asien gesundheitsversetzt. Da kann es unmöglich einen Zusammenhang geben, oder doch?

    Vor vierzehn Jahren gab es den tödlichen Anschlag mit Terminus-Naniten auf die U-Bahn in der Metropole und in den Außenbezirken. Sie blickte an die Decke. Was war nur vor zwölf Jahren?

    Das hier war eine Ansammlung von handschriftlichen Notizen an Ahnungen, Vermutungen und tödlichem Wissen. Dieses Buch war kein verbotenes, es war viel gefährlicher. Egal, wem dieses gebundene Papier gehörte, er durfte es nie wieder zurückbekommen. Der Inhalt allein stellte eine Gefährdung des Systems da. Was würde passieren, wenn jemand diese Programmiercodes gegen Meneva einsetzen würde? Das könnte die gesamte gesellschaftliche Ordnung gefährden. Das wäre fast wie damals mit Reverso. Lys seufzte laut und ließ sich auf ihren flauschigen Teppich fallen.

    »Nicht mal an meinem ersten Urlaubstag lässt mich die Arbeit los. Wieso habe ich nur immer so ein Pech?« Sie hoffte auf eine tröstende Antwort, doch sie lebte, wie alle Wächter, allein. Für einen Moment ließ sie ihre Lider ruhen und nahm dabei einen tiefen Atemzug. Dann erhob sie sich und wärmte das gekaufte Essen auf. Sie genoss es mit Aussicht auf die sinkende Sonne. Ein unspektakulärer Sonnenuntergang, genauso unspektakulär wie sie selbst. Würde man ihre Akte stehlen und darin auf dem Flexibildschirm blättern, fände man nichts Bemerkenswertes über sie notiert. Schließlich war sie unauffällig, bis auf ihren Berufsstand als Wächterin. Dieser war verschlüsselt und unter dem Beruf Wärter-β hinterlegt. Nur die oberste Spitze – andere Wächter und der Ältestenrat – kannten die wahre Bedeutung dahinter. Und andere Wächter gab es nicht viele. Für den Raum Asien waren es acht Wächterinnen und Wächter, Lys eingeschlossen. Alle waren speziell von Meneva ausgewählt worden.

    Ihr Beruf war von immenser Bedeutung für die Gesellschaft, aber auch bedroht durch diese, weshalb der Ältestenrat beschlossen hatte, die Identitäten der Wächter geheim zu halten. Darum wählte jede KI – für Asien Meneva – ihre Wächter allein aus. Nur die jeweilige kontinentale KI kannte die konkreten Auswahlkriterien. Schließlich fungierten die Wächter wie eine Art Abwehrzelle, die den Staat und die Gesellschaft vor jeglicher Infektion beschützten. Ihre Aufgabe bestand darin, all jene, die die Gesetze und Gesellschaftsnormen nicht einhielten, aufzufinden und sie von ihrem widerspenstigen Geist zu befreien. Dabei zeichnete eine Fähigkeit alle Wächter gleichermaßen aus: Empathie.

    Immerhin gab es nur noch eine Handvoll Menschen, die sich derart gut in die Psyche anderer hineinversetzen konnten. Hierbei stach Lys besonders hervor, was sie zu einer perfekten Wahl für Meneva machte. Allerdings zweifelte sie manchmal an sich selbst, da diese enorme Empathie Fähigkeit oft eher hinderlich für die Ausübung ihres Berufes war. Dieses Mitgefühl belastete sie. Oft hatten die Täter kein böswilliges Motiv, sondern handelten aus purer Verzweiflung. Menschen sind nicht böse, sie werden durch Umstände zu niederträchtigen Handlungen bewegt. Daran glaubte Lys fest. Gerade deshalb zögerte sie häufig, wenn es darum ging, den Abzug zu drücken, wodurch sie sich und ihre Kollegen häufig in Gefahr brachte. Ebenfalls ein Grund dafür, weshalb sie meistens allein arbeitete.

    Ihr Blick wanderte zu der angebrochen Pillenpackung auf dem Küchentresen. Sie strich sich eine hellbraune Strähne hinters Ohr. Ein sanftes Lächeln zierte ihr Gesicht. Gleichzeitig wusste sie, dass sie für Meneva mehr bedeutete, als der Begriff systemrelevant ausdrückte. Sie war unersetzlich. Jedes Mal, wenn Lys mit Meneva sprach, erwähnte sie das. Unersetzlich?

    Einer aus tausenden Generationen verfügte über solche Fähigkeiten, ergänzte Meneva oft, da sie die Zaghaftigkeit in Lys’ Stimme erkannte. Wächterin werden – das hatte sie nie gewollt. Sie träumte davon, Architektin zu werden und bioklimatische Forschungszentren zu kreieren. Sie wollte einen geselligen Beruf, wovon der Beruf als Wächter gänzlich abwich. Unregelmäßige Arbeitszeiten, Geheimhaltung, höchste Verantwortung und vor allem Einsamkeit. Dennoch gefiel ihr der Job. Er war aufregend und trug außerdem zum Erhalt des alltäglichen Lebens bei. Eine ehrenvolle Aufgabe. Gerade deswegen vermisste sie die Unbeschwertheit, die sie bei ihren Freunden beobachten konnte. Die Lebensfreude, die für sie immer mehr abzuebben schien.

    Sie legte den leeren Teller zur Seite und umklammerte ihre Knie. Im Grunde hatte sie ihre Unbeschwertheit nicht erst durch den Job verloren. Ihr Verlust lag in der Vergangenheit, bei diesem ungewöhnlichen Feuer. Durch dieses Kindheitstrauma müsste sie als berufsuntauglich gelten, stattdessen war sie damals trotz ihrer unkontrollierbaren Wut zu Meneva gebracht worden. Ihr Hass auf die grausame Welt, die ihr ihre Familie genommen hatte, war gewaltig gewesen. Dennoch hatte Meneva sie für das Auswahlverfahren gewählt. Eine unfassbar langwierige Prozedur, die sich über Jahrzehnte hinziehen konnte.

    Während des Prozesses versuchten viele Psychiater, ihrem Wutproblem beizukommen, doch selbst die stärksten Psychopharmaka vermochten diese unerwünschte Emotion nicht zu unterdrücken. Dann stellte Meneva sie vor eine Wahl.

    Von dem Tag an war sie von ihrem schmerzhaften Verlust angetrieben und erzielte Bestleistungen. Der Ältestenrat förderte sie mit Geld, Bildung und allem anderen. Sie gehörte nun zur Elite, ohne dass sie davon wusste. Als sie erwachsen wurde, wandelte sich ihre brennende Wut in Gleichgültigkeit und chronische Erschöpfung. Seither strebte sie ein ruhiges Leben an, in dem sie möglichst keine Aufmerksamkeit erregte, was sich für ihren Job als perfekt erwies.

    Das und nicht viel mehr müsste in ihrer Akte vermerkt sein, denn es gab nicht mehr über Lys Deĵoro zu notieren. Jedes Mal, wenn sie darüber nachdachte, fragte sie sich, wer die anderen sechs Wächter waren. Laut Gesetz des ASG durfte ein Wächter nur die Identität eines weiteren Wächters kennen. Was stand wohl in den Akten der anderen? Wovon wurden sie angetrieben? Auch von Verlust?

    Das Wächterleben erschien ihr so kurzlebig wie der tägliche Sonnenuntergang. Am Ende glich jeder dem vorigen. Kaum jemand würde einen Unterschied bemerken.

    Der Horizont erhellte sich allmählich. Ein trübes wärmendes Orange erstreckte sich über die Metropole. Lys’ Lider zuckten. Eine sanfte Melodie untermalte den Sonnenaufgang. Mit jedem kräftigen Sonnenstrahl wurde die Musik aggressiver. Immer schriller und schriller keifte die mittlerweile unerträgliche Melodie nach ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit. Kurz darauf nahm der unhaltbare Lärm von selbst ab, stattdessen ertönte eine aufgeregte Stimme.

    »Lys? Lys! Wach auf, Lys!« Leicht blechern ertönte die hysterische Stimme aus ihrem Smartphone, welches als dünner Plastikchip an ihrem Handgelenk in einer Armbanduhr-ähnlichen Halterung fixiert war. Sie griff verschlafen zu ihrem Handy, zog es aus der Halterung und drückte eine Taste. Es nahm eine handliche Größe an. Sie bevorzugte diesen altmodischen Look.

    »Rose? Ist etwas passiert?« Sie rieb sich die Augen und setzte sich schlapp auf. »Du weißt, dass ich …«

    »Lys, dein Urlaub ist leider beendet. Wir brauchen dich sofort in der Zentrale. Ich erwarte dich in zwanzig Minuten. Ein Fahrer steht in einigen Minuten bereit. Triff ihn am Bahnhof. Es ist das dritte Taxi. Bis dann.« Der Hörer verstummte.

    »Das ist doch nicht dein Ernst! Rose? ROSE!« Ihr Handy flog durch den Raum. Sie atmete tief durch und hob es wieder auf. Widerwillig zog sie sich um. In Windeseile stürmte sie aus dem Haus. Sie rannte in Richtung Bahnhof.

    Was ist bloß vorgefallen?

    Ihre Kleidung war leger, aber dennoch elegant genug fürs Büro. Damit sie offizieller aussah, warf sie sich den lichtfressend schwarzen Blazer beim Rennen um. Während sie zum Bahnhof hastete, beobachtete sie aus ihren Augenwinkeln eine rätselhafte Gestalt. Lys war müde und stand unter massivem Zeitdruck, also verwarf sie die aufkommende Paranoia augenblicklich wieder.

    Im Taxi starrte sie schläfrig aus dem Fenster und seufzte deprimiert. Sie warf sich eine bunte Pille ein. Der Taxifahrer betrachtete sie durch den Rückspiegel.

    »Was ist los? Warum fahren wir nicht? Ist der Autopilot kaputt? Machen Sie schon. Ich hab's eilig!«

    »Nein, es ist nur eine solche Ehre, jemanden, der für unsere Gesundheit und Sicherheit arbeitet, zu befördern. Ich will Ihnen einfach bloß Danke sagen, für die harte Arbeit, die Sie täglich leisten.«

    Lys war überfordert. Was für ein merkwürdiger Kerl. Sie bemühte sich um eine höfliche Antwort: »Danke. Das hört man selten.«

    Ihr Smartphone war als dünner Chip an ihrem Handgelenk befestigt und projizierte ein allein für Lys sichtbares Hologramm. Sie blätterte durch ihren Terminkalender. Oktober 2301. 17.10. bis 31.10. Urlaub. Sie löschte den Eintrag mit einem Wischen auf dem Hologramm und schloss es.

    Das Taxi schunkelte leicht, als es auf die andere Magnetschiene wechselte. Sie stieß sich dabei den Kopf an der Scheibe.

    Deshalb hasse ich Retro-Taxis! Der Stoß beförderte eine Erinnerung an Roses Worte hervor: »Sei nicht so arrogant, Lys. Du weißt doch selbst, dass seit der rasanten Technologisierung der vorangegangenen Jahrhunderte viele Menschen ihr Einkommen verloren haben. Wir brauchen diese Taxis für die genetisch weniger Begünstigten, Lys. Oder hast du deine Geschichtsvorlesungen vergessen? Ich sag nur: genetische Modifikation. Furchtbar naiv, zu denken, dass man Menschen verändern muss. Was für einen Unsinn die Leute im 22. Jahrhundert glaubten. Und dafür haben sie sogar bereitwillig Menschenleben geopfert. Unfassbar!«

    Sie hatte keine Lust gehabt, mit Rose über solche Belanglosigkeiten zu diskutieren, und entgegnete daraufhin mit einem Nicken. Doch ausgerechnet heute, wenn es eilig war, hätte sie sie die Bahn nehmen lassen können! Aber nein, Rose bevorzugte die Retro-Taxis.

    Die Begeisterung von Rose für diese Straßenbeschlagnahmer teilte sie nicht. Jedes Retro-Taxi fuhr völlig selbstständig - wie alle Individual-Vehikel – auf den Magnetbahnen. Auch das Argument, dass sie Staatsdiener seien, da sie in Wirklichkeit als menschliche Überwachungsdrohnen fungieren, akzeptierte Lys nicht. Die echten Drohnen waren viel besser. Verbunden mit Meneva erkannte man schnell, wo, wann und wer das Gesetz gebrochen hatte. Alles aufgrund des neu verfassten »Überwachungsverbots durch technische Mittel« von vor fünfundvierzig Jahren. Menevas Drohnen hatten zu gut funktioniert, deshalb war beschlossen worden, die Überwachung wieder vermehrt den Menschen zu überlassen. Natürlich auch, weil das ASG – Amt für Sicherheit und Gesundheit - und die Gerichte mit dem Strafbestand heillos überfordert gewesen waren. Außerdem fielen durch die schiere Ansammlung an registrierten Verbrechen schwere Strafbestände leicht unter »einfache Ordnungswidrigkeiten«, wie Über-Rot-Gehen. Deshalb teilte man die Registrierung auf. Fünfzehn Prozent übernahmen Menevas Drohnen und fünfundachtzig Prozent Menschen, die wiederum aufgeteilt waren in ASG-Beamte und Zivilisten. In diesem Fall fiel die Aufgabe den Taxifahrern zu: Bei jedweden Auffälligkeiten sowohl innerhalb als auch außerhalb des Vehikels galt es, sofort die Zentrale - das heißt, das ASG – zu kontaktieren und Bericht zu erstatten.

    Frustriert starrte sie durch die gewölbten Scheiben hinaus auf die fließende Landschaft. Heute kam ihr das Treiben in der Innenstadt besonders lebhaft vor, aber vielleicht auch nur, weil sie genervt war. Die Wohnhäuser nahmen ab und die Business-Blöcke zu. Sie erkannte jene Brücke zur Zentrale schon von Weitem. An den mit Sensoren bestückten Plexiglasscheiben flossen die verzogenen Bilder geschmeidiger Hochhäuser, verworrener Straßengeflechte, grünender Parkanlagen und Drohnen-verdichteter Wolken vorbei. Von einem künstlichen See umarmt, führten vier puristische Brücken zu einer Insel. Die kreisrunde Insel war von Grünanlagen umgeben, welche in einer bizarren Mischung aus Barockgärten und dem üppigen Design des preisgekrönten Landschaftsgärtners des letzten Jahrzehnts, Leonard Rimba, entsprungen waren.

    Das Hauptgebäude war modern und strahlte eine sterile Schönheit aus. Auf einem der Hochhäuser des Komplexes prangte in seriösen Buchstaben Amt für Sicherheit und Gesundheit, projiziert mittels eines brummenden Hologramms, welches heute aus unerklärlichen Gründen ein leichtes Flackern aufwies.

    Die Türen verschmolzen mit der Karosserie und schufen einen Ausgang für Lys. Leicht verärgert stieg sie aus dem Retro-Taxi. Sie zog ihren Blazer zurecht und knöpfte ihre linke Manschette auf und zu. Einige Wärter verließen in ihren kitschigen Uniformen das Gebäude. Außendienstler. Sie grüßten Lys höflich. Man sah ihnen den Respekt vor ihr an, auch dank des lichtfressend schwarzen Farbtons, den ausschließlich die höchsten Beamten tragen durften. Allerdings wussten sie nicht, dass sie eine Wächterin war. Dem gemeinen Volk erzählte man zwar von Wächtern, doch diese ominösen Wesen tätigten in dieser Version ihre ehrwürdige Arbeit von einem geheimen Stützpunkt in den Bergen aus. Manchmal

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1