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Revolution und Heimarbeit: Roman
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eBook295 Seiten4 Stunden

Revolution und Heimarbeit: Roman

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Über dieses E-Book

"I got the revolution blues, I see bloody fountains ..." Neil Young

Ein Journalist präsentiert Materialien zu einer Exklusivstory: ein junger Deutsch-Amerikaner will seine kambodschanische Freundin rächen, die ihren Job in einer Kleinkindsendung verloren hat, weil ein Fernsehprediger ihr fremdsprachiges Murmeln öffentlich als Fluchen denunziert hat. Der junge Mann schließt sich einem Gentleman-Gangster an, der im Auftrag spleeniger Sammler arbeitet. Das ist doch nicht zu glauben? Richtig. Bei Witzel ist mal wieder nichts so, wie es scheint, und keinem ist zu trauen - am allerwenigsten dem Erzähler.

In Revolution und Heimarbeit verknüpft Frank Witzel die politischen, gesellschaftlichen und Medien-Diskurse der letzten Jahrzehnte zu einem Netz, das als Rettung vor dem Absturz denkbar ungeeignet ist. Es spricht ein ständig räsonnierender, zunehmend unheimlich werdender Erzähler, dem der gesunde Menschenverstand sicherlich nicht in allen Gedankengängen folgen würde. Was man dann aber doch tut, weil man Stück für Stück hineingesogen wird.

Frank Witzel ist der Gewinner des Deutschen Buchpreises 2015 mit dem Titel "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969".
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Nautilus
Erscheinungsdatum2. Okt. 2015
ISBN9783960541790
Revolution und Heimarbeit: Roman
Autor

Frank Witzel

Frank Witzel veröffentlichte seit seinem ersten Lyrikband 1978 mehr als ein DutzendBücher, u. a. die Romane Bluemoon Baby (2001/2017), Vondenloh (2008/2018) und Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, für den er den Deutschen Buchpreis 2015 erhielt. Für das gleichnamige Hörspiel gewann er den Deutschen Hörspielpreis 2017. Für seinen Roman Direkt danach und kurz davor war er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2017 nominiert. Im selben Jahr erhielt er die Poetikdozentur der Universität Heidelberg und 2018 die Poetikdozentur der Universität Tübingen, 2017/2018 war er Inhaber der Friederichs-Stiftungsprofessur an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, wo er heute lebt. Im BR wurden 2017 sein Hörspiel-Film Die apokalyptische Glühbirne und 2018 die Hörspielserie Stahnke, 2019 beim HR das Hörspiel Jule, Julia, Julischka, alle in der Regie von Leonhard Koppelmann, gesendet, für die er mit ihm zusammen 2017 den Deutschen Hörbuchpreis erhielt. Sein 2020 erschienener Roman Inniger Schiffbruch war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.  

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    Buchvorschau

    Revolution und Heimarbeit - Frank Witzel

    Galdós

    Und natürlich hätte ein anderer aus dem dürftigen Material irgendetwas zusammengeschustert und damit der ganzen jetzt im nachhinein fast unnötig und beinahe peinlich wirkenden Aktion eine Art von Sinn abgerungen. Einen intellektuellen, sinnlichen, unter Umständen sogar sittlichen Mehrwert, den dieser andere mit entsprechender Verve über einen der Sender gejagt hätte, bei denen er als fester Freier oder freier Fester oder was auch immer in Lohn und Brot stünde, falls man im Medienbereich überhaupt von Lohn sprechen könne, denn was sei dort schon wirklich lohnend und verpuffe nicht umgehend, kaum daß es zwischen zwei und drei oder fünf und sechs, entsprechende Wiederholungen im Nachtprogramm nicht miteingerechnet, eingequetscht im ewigen und nicht auszurottenden Singsang des Immergleichen über den Äther taumele.

    Ein anderer hätte dieses zusammengeschusterte Zeug mit Sicherheit irgendwo untergebracht, denn schlecht sei dieses Zeug im Prinzip nicht, eben nur unzusammenhängend und ohne roten Faden, was ihm übrigens auch schon zum Zeitpunkt der Aufnahmen aufgefallen sei. Gleich von Anfang an sei ihm das Unzusammenhängende aufgefallen und unangenehm ins Auge gestochen, aber, so habe er sich gesagt, das Leben sei nun einmal von seiner Anlage her unzusammenhängend, das Denken, das dieses Leben überhaupt erst konstruiere, bestenfalls sprunghaft, und außerdem wisse man schließlich nie, wohin sich ein Gespräch entwickele, weshalb er mit einer gewissen Sturheit in dem Flachdachbungalow in Arlington ausgeharrt habe.

    Es sei ihm trotz ständiger Bemühungen nicht gelungen, mit Hilfe der winzigen Kopfhörer, eines dieser den Markt und die Gesellschaft und die Hirne beständig weiter infantilisierenden Produkte, das man ihm beim Kauf des Recorders mitgegeben habe, die Tonqualität der Aufnahme entsprechend einzustellen, was ihn zugegebenermaßen immer wieder vom Inhalt des Gesagten abgelenkt habe, so daß ihm möglicherweise an manchen Stellen das Unzusammenhängende einer Aussage entgangen sei und er dort, wo er vielleicht hätte nachfassen sollen, um das Unzusammenhängende wenigstens als unzusammenhängend deutlich zu machen, nicht nachgefaßt habe. Immer wieder seien ihm die kleinen Stecker aus den Ohrmuscheln herausgefallen, so daß ihm seine Ohrmuscheln mit einem Mal überdimensioniert erschienen seien und er seine Ohrmuscheln selbst dann habe befühlen müssen, wenn sich die Ohrstöpsel nicht in ihnen befunden hätten. Er habe gegen ein beständig anwachsendes Gefühl der Unsicherheit in Bezug auf seine Physiognomie ankämpfen müssen und sich immer wieder dabei ertappt, wie er im Glas eines Bilderrahmens oder dem Lack des Wohnzimmerschranks nach seinem Spiegelbild gesucht habe, um an Hand dieser unscharfen Silhouette die Ausmaße seiner Ohrmuscheln zu überprüfen. Auch habe er sein Gegenüber verdächtigt, heimlich die Größe seiner Ohrmuscheln abzuschätzen, entsprechend abgelenkt zu sein und nur deshalb Unzusammenhängendes hervorzubringen.

    An diesem Beispiel lasse sich übrigens recht plastisch erkennen, wie das, was man gemeinhin als Modeerscheinungen abtue, tatsächlich den Körper in eine immer größere Knechtschaft zwinge. Industrie und Wissenschaft hätten ihren Ehrgeiz daran gesetzt, alles immer noch kleiner zu machen, ohne daß es für diesen beständigen Schrumpfungsprozeß einen anderen Grund gebe, als den Menschen durch eine Art Gehirnwäsche den Bezug zur eigenen Physiognomie zu rauben. Jede Knechtschaft und Unterdrückung fange mit dem Herausstreichen äußerlicher Merkmale an: Farbe der Haut, Form der Nase, Schnitt der Augen, Beschaffenheit der Haare und so weiter. Erst streiche man diese Unterschiede heraus und dann baue man Gaskammern.

    Der Nachteil dieses Systems liege natürlich auf der Hand und habe sich rund um den Globus in sämtlichen Spielarten von Faschismus und Gewaltherrschaft zur Genüge bewiesen. Kapriziere man sich nämlich lediglich auf physiognomische Unterschiede, so gerate man schnell an die Grenzen des Abschlachtens. Die üblicherweise angeführten Gründe, wer doch und weshalb kein Arier sei, obwohl er die entsprechende Physiognomie aufweise, stünden auf wackligen Füßen und könnten eine Diktatur auf Dauer in ziemliche Verlegenheit bringen.

    Deshalb habe mittlerweile die Industrie das Ganze in die Hand genommen und kümmere sich hervorragend um das sogenannte Finetuning der faschistischen Grundidee. Die Industrie habe schon immer ein gesteigertes Interesse am Faschismus gehabt und den Faschismus auch mit ganzem Krafteinsatz unterstützt. Aber selbst die Industrie habe den Faschismus nicht vor seinem Ende bewahren können, da der Faschismus letztlich an seinem schwachen ideologischen Gerüst gescheitert sei. Deshalb habe die Industrie sich als erstes von jeglicher anschaulichen Ideologie gelöst. Mit Gaskammern komme man heute nicht weiter. Das sei ein totes Gleis. Eine Sackgasse. Auch mit den genetischen Anlagen sei das so eine Sache. Jetzt, wo das menschliche Genom entschlüsselt sei, könne man natürlich mir nichts, dir nichts neue Unterschiede konstruieren, die sich eben nur wissenschaftlich und dann auch nur an irgendeiner zehntausender Stelle hinter dem Komma nachweisen ließen. Aber lasse sich allein auf so etwas eine Herrschaft aufbauen? Es sei selbstverständlich unerläßlich, so etwas in der Hinterhand zu haben, aber allein mit irgendeiner zehntausender Stelle hinter dem Komma lasse sich kein universelles Arbeitslager konstruieren. Die Menschen müßten selbst Ja schreien und dieses Arbeitslager aus ganzem Herzen wollen. Und genau daran arbeite die Industrie. Denn wenn die Menschen etwas aus ganzem Herzen wollten, dann seien das die Produkte der Industrie. Und genau hier setze man an.

    Anfänglich habe die technologisch allgemein übliche Praxis, die Dinge immer kleiner zu machen, durchaus noch einen Sinn gehabt. Kleiner sei damals noch synonym mit praktischer gewesen, denn mit einer schwer geschulterten Videokamera habe sich weder der Kindergeburtstag noch der Sturz eines Menschen aus einem Hochhausfenster adäquat einfangen lassen. Mittlerweile jedoch säßen die Menschen da und würden an den Ausmaßen ihrer Fingerkuppen verzweifeln, weil sie die Miniaturdisplays ihrer vielen Aufzeichnungs- und Kommunikationsgeräte nicht mehr bedienen könnten. Die Industrie verteile inzwischen dünne Stäbchen, die den Proportionen der Tastatur zwar besser entsprächen, aber gleichzeitig zu einer Herabsetzung der eigenen Mobilität führten, da man nun nicht mehr fünf, geschweige denn zehn Finger besitze, sondern nur noch ein Stäbchen, das man mit seinen Wurstfingern mühsam umklammert halte. Wolle man mit diesem Stäbchen etwas auf dem glatten Miniaturdisplay notieren, so rutsche dieses Stäbchen beständig ab und mache einen kurzerhand zum Analphabeten, der das eigene Gekrakel nicht mehr entziffern könne. Beständig werde man so auf die Grenzen der eigenen Physiognomie gestoßen, und genau darin bestehe das Prinzip der körperlichen Entfremdung, an dem die Industrie arbeite.

    Wenn man auf der anderen Seite Halbwüchsige in Hosen sehe, die fünf Nummern zu groß seien, so handele es sich dabei nicht um einen Gegenentwurf, sondern um die Verstärkung eben dieser Grundidee durch die Modeindustrie, denn es gehe allein darum, dem Körper die Welt unpassend erscheinen zu lassen, gleichgültig ob er nun zu groß oder zu klein für diese Welt sei. Habe sich das Körpergefühl des Nichtpassens erst einmal allgemein verbreitet und dadurch normativen Charakter erlangt, da man täglich viele hunderte Male mit der eigenen Physiognomie an den Produkten der Industrie scheitere, so stehe der absoluten Knechtschaft nichts mehr im Wege.

    In Arlington habe er natürlich noch nicht so weit gedacht. Überhaupt dieses Arlington. Schon das sei so eine Geschichte. Wenn er wenigstens die vierzehn Tage in New York verbracht hätte oder in Los Angeles oder in einer der anderen großen Städte, von denen man irgendeine prägnante Erinnerung mit heim hätte bringen können, obwohl diese Erinnerungen ohnehin nur mit dem verglichen würden, was man zuvor als Bilder von einer solchen Stadt gesehen habe, weshalb es überhaupt ein Wahnsinn sei, immer wieder Reporter und Korrespondenten in die Welt zu schicken, wo sie nichts anderes zu tun hätten, als immer wieder möglichst genau die Bilder einzufangen, die jeder ohnehin schon kenne, aber allem Anschein nach immer wieder sehen wolle.

    Es sei alles nur noch zu einem Abgleichen von Bildern verkommen, weshalb er eigentlich froh hätte sein können, in eine Stadt zu geraten, deren Namen er selbst bis wenige Tage vor Antritt seiner Reise noch nicht gehört habe. Gerade weil er noch nie drüben gewesen sei, hätte er die Gelegenheit ergreifen können, einmal dem ewigen Abgleichen der Bilder auszuweichen und selbst und auf eigene Faust etwas zu erleben. Stattdessen habe er sich dem allgemeinen Druck, in den einen das Reisen zwinge, nicht entziehen können. Er habe im Flugzeug gesessen, den Kopf voller Erwartungen und Bilder, und habe so von dem Flug selbst kaum etwas mitbekommen. Auch sein erster Eindruck von Arlington sei mehr als verschwommen gewesen, was natürlich nicht an Arlington selbst gelegen habe, sondern vielmehr an der Tatsache, daß er die Reise nach Arlington, genauer den Flug nach Washington, von seinem letzten Geld bezahlt und folglich keine andere Möglichkeit gehabt habe, als die vollen vierzehn Tage in Arlington und zudem bei einem ihm völlig Fremden, einem flüchtigen Bekannten seines Schwagers, abzusitzen, einem durchaus netten Zeitgenossen und jungen Kerl, Mitte zwanzig maximal, der schon zehn Jahre drüben lebe und damit quasi assimiliert sei.

    Im Grunde sei nichts gegen den Jungen einzuwenden gewesen, und wenn er diesen Jungen irgendwo hier in der Gegend getroffen hätte, auf einem Fest etwa oder bei einer anderen Gelegenheit, dann hätte er sich bestimmt sehr angeregt mit diesem Jungen unterhalten, zweifellos, und vielleicht sei das die wirkliche Bedeutung von Entfernung, daß sie dazu zwinge, überwunden zu werden, und daß sich allein in der Konfrontation mit diesem Zwang, nämlich im Überwinden der Entfernung, wenn auch nicht alles, so zumindest einiges verändere.

    Wenn man sich extra wegen eines Gesprächs, wegen mehrerer Gespräche, einer ganzen Serie von Gesprächen, eigentlich einer sogenannten Exklusivstory, acht Stunden ins Flugzeug setze und sein letztes Geld für einen Recorder und das Flugticket ausgebe, dann könne das im Grunde nur in einem Desaster enden. Alles, was man mit Hoffnungen belege und mit Wünschen überfrachte, müsse zwangsläufig in einem Desaster enden. Alle Beteiligten seien von solchen Aktionen überfordert. Und gerade wenn alle Beteiligten von solchen Aktionen überfordert seien, endeten solche Aktionen zwangsläufig in einem Desaster. Da alle Beteiligten merkten, daß sie nicht an die Vernunft der anderen Beteiligten appellieren könnten, da sie merkten, daß sie noch nicht einmal mit dem Verständnis der anderen Beteiligten rechnen könnten, die gleichermaßen wie sie selbst überfordert seien mit der Situation, entstehe aus dieser Verzweiflung die Tendenz, sich dem Erstbesten hilfesuchend zuzuwenden. Der Erstbeste sei aber in der Regel derjenige, der mit der ganzen Angelegenheit nicht das Geringste zu tun habe, weshalb der Erstbeste auch gern Ratschläge erteile, überhaupt gern das ganze Geschehen an sich reiße und verkünde, wie es nun weitergehe. Dessenungeachtet seien alle Beteiligten dennoch froh über ein klares Wort, so wie man sich über das klare Wort eines Arztes freue, wenn der Arzt endlich einmal das Wort an einen richte und behaupte, daß man sich ganz auf ihn verlassen könne und er den in diesem Fall nötigen Routineeingriff praktisch im Schlaf auszuführen in der Lage sei. Manchmal seien die Leute so erleichtert über ein klares Wort, daß sich hinter diesem klaren Wort alles mögliche verbergen könne, Aufgabe der freien Meinungsfindung zum Beispiel, Opferung des passiven Wahlrechts, Hergabe einer funktionstüchtigen Niere, obwohl es meistens nur um das hastig an der Wohnungstür ausgefüllte Bestellformular einer Fernsehzeitung gehe.

    Hauptsache endlich ein klares Wort, dächten alle Beteiligten und würden ihre Koffer packen und sich zu dem im klaren Wort genannten Termin an einer Sammelstelle einfinden, mit dem befreienden Gefühl, endlich der Zeit der Ungewißheit entkommen zu sein.

    Der Erstbeste müsse dabei nicht unbedingt ein Adolf sein. Es müsse niemand sein, der sozusagen in betrügerischer Absicht herumlaufe und Situationen aufsuche, bei denen alle Beteiligten gleichermaßen überfordert seien. Es sei vielmehr jemand, der sich durch eine extreme Wurschtigkeit auszeichne. Es sei jemand, der einfach seiner Wege gehe und dabei an nichts anderes und niemanden anderen denke als an sich. Selbst wenn ihm jemand anderer begegne, denke er immer nur weiter an sich, weshalb er sich in keine Situationen hineinziehen lasse und deshalb auch nicht abwägen und verschiedene Seiten anhören müsse. Ziemlich flott fälle er ein ziemlich beliebiges Urteil, über das alle Beteiligten erst einmal dankbar und froh seien, während sich später herausstelle, daß sie für dieses Urteil, das sie scheinbar aus einer unlösbaren Situation befreie, entsprechend bezahlen müssen, nämlich mit Arbeitslager und Lohnraub und Beschneidung der persönlichen Freiheit, sowie Reisebeschränkung, Einbuße der freien Meinungsfindung und was man sich sonst noch so vorstellen könne. Das nenne man dann schnell Diktatur oder Faschismus, aber in Wirklichkeit resultiere dies alles allein aus der Situation, in der alle Beteiligten überfordert gewesen seien, und solche Situationen entstünden nun einmal aus Hoffnungen und Wünschen, weshalb er sich im allgemeinen nichts wünsche und auf nichts hoffe. Denn wenn man sich etwas wünsche und auf etwas hoffe, so könne dies nur in einem Desaster enden, wofür ihm diese Aktion, diese Reise, dieser Versuch, dem eigenen Schicksal eine Wendung zu geben, wieder einmal als Bestätigung diene.

    In diesem einen schwachen Moment allerdings, als sein Schwager ihm von dem jungen Kerl in Arlington erzählt habe, diesem Snake, sei wohl dennoch und ganz gegen seine sonstige Gewohnheit eine Art Hoffnung in ihm aufgekeimt. Ganz im Verborgenen, so daß er es selbst erst gar nicht bemerkt habe. Und genau diese Hoffnung, dieses Aufkeimen der Hoffnung mache er sich jetzt zum Vorwurf, weil ihn diese Hoffnung dazu gebracht habe, sein letztes Geld dafür zu verwenden, sich einen Recorder zu kaufen und einen Flug nach Washington zu buchen. Dabei hätte er von vornherein wissen müssen, daß man nicht über den Atlantik zu einem wildfremden Menschen fliegen könne, einem Menschen gerade einmal halb so alt wie man selbst, um dann quasi zu diesem Menschen zu sagen: Los, rette mein Leben. Das klinge jetzt natürlich pathetisch, rette mein Leben, und so habe er es auch bestimmt nicht gedacht und schon gar nicht gesagt, aber im Endeffekt sei es doch darauf hinausgelaufen. Schließlich sei das sein letzter Versuch gewesen, zumindest habe er es damals für seinen letzten Versuch gehalten, aber die Tatsache, daß er jetzt schon wieder sechs Wochen zu Hause sei und immer noch dasselbe mache wie vor seiner Reise, spreche für sich und zeige nur allzu deutlich, daß man sich das mit dem letzten Versuch, der letzten Chance, der letzten großen Anstrengung ein für alle Mal abschminken solle und müsse, genauso wie man sich das ewige Wünschen und Hoffen abschminken solle, auch wenn es noch so schwerfalle. Mit Wünschen und Hoffnungen beweise man lediglich, daß man immer noch an die Veränderbarkeit der eigenen Persönlichkeit glaube, wobei zu fragen sei, ob diese Veränderbarkeit der eigenen Persönlichkeit in Wirklichkeit nicht ebenfalls nur ein Abgleichen von Bildern sei. Ein Abgleichen von Vorstellungen.

    So wie jeder irgendein Bild von New York habe oder Los Angeles, so habe eben jeder auch ein Bild von sich selbst, und die Qual des Lebens bestehe eben darin, diesem Bild nicht zu entsprechen. Für manche bestehe die Qual des Lebens noch zusätzlich darin, die Bilder fremder Städte niemals mit dem Original abgleichen zu können. Obwohl es diese Qual tatsächlich kaum noch für jemanden gebe. Dafür sei die Entfernung, gleichermaßen wie das Reisen, zur Bedeutungslosigkeit verkommen. Ebenso verhalte es sich übrigens generell im gesellschaftlichen Umfeld, denn entweder sei etwas Qual oder bedeutungslos. Wobei es verwunderlich sei, daß man allerorts und wie besessen Zustände anstrebe, wo Zustände doch immer nur Lähmung und Gipsbett seien, während Bewegung sich allein im Verlassen von Zuständen finde, in der Bewegung weg von der Qual hin zur Bedeutungslosigkeit und dann wieder umgekehrt, obwohl das natürlich auch nicht ewig so weitergehe, denn dann wäre diese Bewegung wieder ein Zustand und damit entweder Qual oder bedeutungslos.

    Um diesen sich gegenseitig ablösenden Zuständen der Lähmung zu entkommen, habe der Mensch die Bilder erfunden, und mit dem Abgleichen dieser Bilder halte er sich auf Trab. Dabei übersehe er, daß das Denken in Dichotomien immer weitere Dichotomien erzeuge. Wenn man der Entfernung etwa als tieferen Sinn und Zweck eine Aufwertung zuschreibe, so erfahre sie damit gleichzeitig auch eine Abwertung, denn während er den jungen Mann, hier in der Nähe zufällig bei einer Feier getroffen, durchaus zu schätzen gewußt hätte, so erscheine ihm dieser selbe junge Mann im weitentfernten Arlington überbewertet.

    Befinde sich etwas in Griffnähe, sei es schon durch die Tatsache seiner Verfügbarkeit banalisiert. Der Griffnähe folge die Reichweite, und dieser wiederum schließe sich die Blickdistanz an. Der Alltag bestehe nun darin, diese drei Entfernungen in Bezug zu setzen. Der Mensch bastele sich etwa aus einem Stock in Griffnähe ein Werkzeug, um sich etwas zu angeln, das in Reichweite liege, oder um nach etwas zu werfen, das in Blickdistanz vorbeilaufe. Auf diese Art könne man ewig vor sich hinvegetieren, ohne daß eine großartige Kultur dabei entstehe, denn Werkzeuge seien noch kein Kennzeichen von Kultur, auch wenn dies immer wieder behauptet werde. Kultur entstehe vielmehr erst durch die Entdeckung des Horizonts. Der Horizont sei dabei nicht nur ein banaler Strich, mit dem sich Perspektive konstruieren lasse, sondern Demarkationslinie des metaphysischen Bewußtseins. Der Horizont erst mache ein Bewußtsein über Tod und Vergänglichkeit möglich, so daß sich Religion, Sehnsucht und Begierde alle gleichermaßen dem Horizont verdankten. Der Horizont schiebe sich durch das Gesichtsfeld und trenne in Ich und Du, denn erst durch ihn begreife man, daß Dinge an ihm auftauchten und gleichermaßen wieder hinter ihm verschwänden, ohne daß man sie fassen oder ihr Auftauchen und Verschwinden beeinflussen könne. Mit dieser Erkenntnis entwickele sich eine Art transhorizontales Wertesystem, das die ruhigen Tage der schönen Wilden ein für alle Mal beende. Von da an gehe es nur noch um Wertsteigerung und Monopolbildung. Um der Idee des Horizonts jedoch die für jede Idee nötige Selbsterhöhung und Transzendenz zu verleihen, werde der Horizont als erstes mit Verwaltungsgebäuden zugebaut und verborgen. Müsse man sich zum Beispiel erst in ein Flugzeug setzen, um den eigenen Horizont zu überwinden, so steige durch diese Überwindung der Wert des Angestrebten mit jeder Flugminute, obgleich sich dieser Wert aus der Überwindung der Bodenhaftung und nicht aus der Besonderheit des Entfernten herleite.

    Deshalb könne er nur empfehlen, sich von allen Hoffnungen, Wünschen und Illusionen freizumachen, gleichzeitig den Wert einer Sache, einer Information oder eines Menschen nicht nach der Entfernung dieser Sache, dieser Information oder dieses Menschen von sich selbst zu bewerten. Dies alles seien Fallgruben und nichts weiter. Habe man nämlich erst einmal eine Entfernung überwunden, müsse man sich fragen, woraus der durch das Überwinden der Entfernung erzielte Mehrwert denn tatsächlich bestehe, und ob es nicht nur ein illusorischer Mehrwert sei, der quasi allein in der Welt der Gedanken existiere und von dort aus die Welt der Realität künstlich und emotional auflade. Stelle man sich diese Frage einmal wirklich, besonders nach der vollzogenen Überwindung einer Entfernung, dann erfasse einen notgedrungen ein Gefühl der Resignation, ein Gefühl der Sinnlosigkeit, das einen ehrlicherweise dazu treiben müsse, dem erreichten Ort den Rücken zu kehren und sich wieder von ihm zu entfernen, wie man sich auch von Menschen immer wieder entfernen müsse, wenn man bemerke, daß die Beziehung zu diesen Menschen allein durch die zwischen einem selbst und diesen Menschen bestehende Entfernung emotional aufgeladen werde.

    Nur, wer schaffe es schon, kaum von Bord einer Maschine gestiegen, sich seinen Irrtum einzugestehen und noch im Flughafengebäude wieder umzukehren? Wem gelinge es, Paßkontrolle und allen Firlefanz zu verweigern, da dieser Firlefanz ohnehin nur existiere, um der Entfernung eine Wirklichkeit zu verleihen, die sie tatsächlich nicht besitze? Wer wage es, noch im Niemandsland des Flughafens einen Rückflug zu buchen und sich, quasi ohne das fremde Land mit einem Schritt betreten zu haben, auf den Heimweg zu machen? Er könne an dieser Stelle bequem auf seinen bereits gebuchten Rückflug verweisen und seine knappen Finanzen, die ihm eine solche Entscheidung einfach unmöglich gemacht hätten, aber er sei ehrlich genug zuzugeben, daß auch er nicht in der Lage gewesen sei, nach den acht Stunden Flug einfach wieder umzukehren, obwohl es im nachhinein betrachtet das Beste gewesen wäre und er lediglich mit dem Gleichen, in das er sich seit ungefähr sechs Wochen wieder eingefügt habe, eben zwei Wochen früher begonnen hätte, was wiederum nichts anderes bedeutet hätte, als daß er zwei Wochen früher allem überdrüssig geworden wäre, denn daß man allem überdrüssig werde, das stehe für ihn unumstößlich fest.

    Dem Überdruß sei glücklicherweise nirgendwo zu entkommen. Überdruß mache sich von Geburt an im Menschen breit, werde aber nur von den wenigsten als Geschenk des Himmels anerkannt und angenommen. Allgemein wehre man sich gegen jegliche Form des Überdrusses und lasse bei ersten Anzeichen von Überdruß umgehend die eigene Triebstruktur durchleuchten und sich mit entsprechender Medikation zu weiteren Höchstleistungen hochpeitschen. Anschließend wundere man sich über unvermittelt auftretende Krankheiten. Krebs zum Beispiel entstehe nur aus mangelndem Überdruß. Menschen, die einfach nicht überdrüssig werden wollten, bekämen Krebs, damit sie auf diese, zugegebenermaßen nicht gerade sanfte Art und Weise die hohe Kunst des Überdrusses erlernten. Wer sich jedoch selbst und aus freien Stücken dem Überdruß ausliefere, der habe das Leben durchschaut und erkannt und aus dieser Erkenntnis die nötige Konsequenz gezogen. Wer aber versuche, sich mit allen möglichen Tricks dem Überdruß zu entziehen, der züchte damit entsprechende Krankheiten und werde solange von Krankenhausbesuchen und Operationen gebeutelt, bis auch er endlich des Lebens überdrüssig sei.

    Daß man dies auch viel einfacher hätte haben können, begriffen allerdings die wenigsten. Krankheiten, die durch die Verleugnung des Überdrusses erst erzeugt würden, betrachte man als Betriebsunfall und Schicksalsschlag. Man spreche vom Kampf gegen die Krankheit, den jemand verloren habe und vom Wettlauf gegen die Zeit. Als Trost werde den Hinterbliebenen mitgeteilt, daß der Lebenswille des Betreffenden zu schwach gewesen sei, wo der Tod doch ein einwandfreier Beweis für die Stärke und das Funktionieren des Lebenswillens sei. Der Lebenswille treibe den Menschen doch nur deshalb an, alles in sich hineinzustopfen und keine Minute ruhig auf seinem Hintern sitzenzubleiben, weil er die Aufgabe habe, den Menschen so schnell wie möglich seinem Ende zuzutreiben. Denn der Mensch sei nicht auf der Erde, um Platz wegzunehmen, sondern um Platz zu machen. Verbohrt wie jedoch manche Menschen seien, weigerten sie sich, die Lehren des Lebenswillens anzunehmen. Solange sich noch ein weißer Fleck auf ihrer Weltkarte befinde, werde die nächste Reise gebucht. Solange noch irgendein gleich- oder gegengeschlechtliches Wesen herumhumple, mit dem man noch nicht ins Bett gestiegen sei, gehe der Wahnsinn weiter. Was diesen Menschen fehle, sei das Abstraktionsvermögen, und vor mangelndem Abstraktionsvermögen müsse jeder noch so starke Lebenswille kapitulieren. Wer Feinheiten zwischen Klimazonen und Unterschiede in Hautstrukturen herausarbeiten wolle, dem sei eben nicht zu helfen. Da gebe der Lebenswille die Stafette weiter an die Krankheit, damit die den Betreffenden glattbügle. Dabei solle man sich nicht von der gesellschaftlich allgemein üblichen Fehlinterpretation des Lebenswillens verwirren lassen, die das Besteigen eines Achttausenders mit künstlicher Hüfte und tragbarem Dialysegerät beklatsche, denn auch hier gehe es nicht um Lebenssinn, Selbstverwirklichung oder am Ende sogar Lebensfreude, sondern allein darum, daß es auch diesen Unbelehrbaren endlich zum Hals herauskomme.

    Das Verhalten des Menschen sei nun einmal reflexhaft und könne nichts ertragen, was sich außerhalb dieser vom Lebenswillen konditionierten Reflexe befinde. Zu diesen Reflexen gehöre unter anderem auch das beständige Abgleichen von Bildern. Ohne Bilder, das wäre im übrigen durchaus eine Untersuchung wert, ohne Bilder könne man aber überhaupt erst zum Denken kommen. Aber gerade das wolle man nicht, weil das Denken dann noch mehr Unannehmlichkeiten mit sich bringe als Annehmlichkeiten.

    Ursprünglich habe sich das Denken aus der Angst entwickelt, den Hals nicht voll genug zu kriegen, weshalb sich das Gehirn auch sinnvollerweise gleich in der Nähe der Kauwerkzeuge als eine Art Geschwulst aufgepfropft habe. Dann jedoch sei der Kopf immer schwerer geworden und habe durch eine Verfeinerung der Sinne genau das

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