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Vondenloh
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eBook253 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

Frank Witzels hinreißend komischer Roman über Leben und Werk der Schriftstellerin Bettine Vondenloh – deren Romane 120 Seiten nie überschreiten und stets Bestseller werden – ist Literaturbetriebskrimi ebenso wie skurrile Dorfgeschichte: Ein gigantischer Wal beginnt darin gehörig zu stinken, die Psychoanalytiker Jacques Lacan und Wilhelm Reich entkommen knapp einem gefährlichen Sturz, eine riesige Wachsstatue Himmlers offenbart ihr Innenleben und der Erzähler kommt in Verdacht, ein Verhältnis mit der in die Jahre gekommenen Schriftstellerin gehabt zu haben. Am Ende wissen wir zwar nicht mehr als zuvor, aber sind um einiges klüger.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Aug. 2018
ISBN9783957577221
Vondenloh
Autor

Frank Witzel

Frank Witzel veröffentlichte seit seinem ersten Lyrikband 1978 mehr als ein DutzendBücher, u. a. die Romane Bluemoon Baby (2001/2017), Vondenloh (2008/2018) und Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, für den er den Deutschen Buchpreis 2015 erhielt. Für das gleichnamige Hörspiel gewann er den Deutschen Hörspielpreis 2017. Für seinen Roman Direkt danach und kurz davor war er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2017 nominiert. Im selben Jahr erhielt er die Poetikdozentur der Universität Heidelberg und 2018 die Poetikdozentur der Universität Tübingen, 2017/2018 war er Inhaber der Friederichs-Stiftungsprofessur an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, wo er heute lebt. Im BR wurden 2017 sein Hörspiel-Film Die apokalyptische Glühbirne und 2018 die Hörspielserie Stahnke, 2019 beim HR das Hörspiel Jule, Julia, Julischka, alle in der Regie von Leonhard Koppelmann, gesendet, für die er mit ihm zusammen 2017 den Deutschen Hörbuchpreis erhielt. Sein 2020 erschienener Roman Inniger Schiffbruch war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.  

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    Buchvorschau

    Vondenloh - Frank Witzel

    AUTOREN

    1

    LYCOPODIUM

    Der Komponist Gottfried Heinzell, dem ich im Frühjahr 1996 ein Libretto über die Kindheit der Schriftstellerin Bettine Vondenloh anbot, schrieb mir in seinem Antwortbrief, er empfinde meine Geschichte in ihrer geradezu symbolischen Überhöhung ergreifend, könne sich aber eine tonale Umsetzung nur schwerlich vorstellen. »Vielleicht«, fügte er hinzu, »haben Sie das Thema literarisch bereits ausgeschöpft, sodass meine Musik nur noch Untermalung wäre, nicht aber, wie ich es mir selbstverständlich für meine Arbeit wünsche, tragendes Element.«

    Ich verstehe Heinzells Einwand heute sehr gut und bin mittlerweile sogar der Meinung, dass eine Oper, gleichgültig in welchem musikalischen Stil gehalten, nicht der geeignete Rahmen ist, meine Kenntnisse vom Leben Bettine Vondenlohs der Öffentlichkeit zugänglich zu machen; selbst wenn ich seinerzeit, einer ersten trotzigen Reaktion folgend, den zurückgesandten Text noch einmal kopierte und gleichzeitig an Dieter Schnebel und Helmut Lachenmann verschickte. Erst als ich mein Libretto von beiden Komponisten unkommentiert zurückerhielt, gebot ich meinem blindwütigen Aktionismus Einhalt und gestand mir ein, dass der Grund, warum ich Bettine Vondenloh im Jahr ihres vierzigsten Geburtstags eine Art Denkmal hatte setzen wollen, allein in meiner eigenen Unfähigkeit lag, die unabweisbaren Folgen der verfließenden Zeit in entsprechender Langmut hinzunehmen und als unabänderlich zu akzeptieren.

    Da ich ein knappes halbes Jahr älter bin als Bettine Vondenloh, hatte ich die beschwerliche Hürde schon zuvor, allerdings nicht ganz ohne Blessuren, genommen. Schon einige Wochen vor meinem Geburtstag überfiel mich nämlich täglich um vier Uhr nachmittags eine zuvor nicht gekannte Müdigkeit, die mich zwang, jegliche Tätigkeit ruhen zu lassen, um wie von einer Art Ohnmachtsanfall befallen einzuschlafen. Keine noch so große Willensanstrengung, kein Genuss von starkem Kaffee oder Tee, kein Öffnen des Fensters, Besprengen des Gesichts mit Wasser, keine Leibes- oder Konzentrationsübungen verschafften Erleichterung, weshalb ich mir wohl oder übel und gerade dort, wo ich war, eine Schlafstelle suchen und diese ein bis anderthalb Stunden in Anspruch nehmen musste. Danach erhob ich mich durchaus erfrischt und setzte meine Arbeit fort, als sei nichts geschehen.

    Ich arbeitete damals noch im Verkehrsbüro von Leinheim, das, außer mittwochs, täglich bis achtzehn Uhr geöffnet ist, ein Umstand, der mich meine körperliche Verfassung allein vorübergehend und mithilfe immer mühseliger ersonnenen Ausreden verbergen ließ.

    Ich suchte meinen Arzt auf, schilderte ihm die glücklicherweise zeitlich fest einzugrenzende Symptomatik und betonte ausdrücklich, dass ich mich ansonsten weder überanstrengt noch niedergeschlagen fühlte und im Gegenteil, bis auf eben diese relativ kurzen Unterbrechungen, durchaus zufrieden mit meinem Gesundheitszustand sei. Er stellte noch einige ergänzende Fragen und verschrieb mir dann Lycopodium in der Potenz D12.

    Vielleicht hätte ich es als ein Zeichen des Schicksals deuten sollen, dass man mir in der Apotheke Mehrbrinck aus Versehen erst ein anderes Mittel bestellte, doch vertraute ich ganz den Empfehlungen meines Arztes und ließ das falsche Präparat, ohne mir auch nur den Namen zu merken, zurückgehen. Nachdem ich schließlich mit einem weiteren Tag Verzögerung angefangen hatte, dreimal täglich fünf Globuli einzunehmen, erfuhr ich jedoch keine körperliche Verbesserung, sondern im Gegenteil eine Steigerung meiner Müdigkeit, die sich nun auf den gesamten Nachmittag auszudehnen begann.

    Mit dem Phänomen der Erstverschlechterung vertraut, maß ich diesem Zustand keine allzu große Bedeutung bei und setzte die Einnahme fort. Nach einer Woche war ich nicht mehr fähig, das Haus zu verlassen. Ich war nicht allein müde und erschöpft, alle Dinge und Lebewesen, die mich umgaben, schienen mir in trüb-viskosem Bernstein eingefangen, der, sobald ich mich ihm näherte, von meinem unregelmäßigen Atem beschlug. Die Münder der Menschen öffneten sich, doch verstand ich nicht, was sie sagten. Wollte ich reagieren, versagten meine Gliedmaßen mir den Dienst, während das Treiben der Welt ungerührt, wenn auch in verzögerter Bewegung, an mir vorübertrieb.

    Da mein Arzt ein zweiwöchiges Fortbildungsseminar besuchte und mir die Sprechstundenhilfe der von ihm angegebenen Vertretung mitteilte, dass eine diagnostische Einschätzung meines Zustands ohne ein längeres und natürlich entsprechend kostspieliges Erstgespräch nicht möglich sei, ich darüber hinaus ohnehin frühestens in fünf Wochen einen Termin bekommen könne, musste ich notgedrungen selbst nach einer Alternative suchen. Gerade noch rechtzeitig, denn eine zunehmende Lustlosigkeit erstickte langsam jeglichen Unternehmungsgeist in mir, ließ ich mir von einem Arbeitskollegen aus der Ulmer Universitätsbibliothek ein homöopathisches Kompendium mitbringen, um selbst das mir verschriebene Mittel nachzuschlagen.

    Was ich dort unter dem Stichwort Lycopodium fand, erschien meinem laienhaften Blick zunächst als durchaus zutreffend. »Die Beschwerden verschlimmern sich zu einer festen Zeit, meistens zwischen 16 und 20 Uhr.« Es war richtig, dass es diesen festen Zeitpunkt meiner Müdigkeit gab, nur hätte ich ihn nicht als eine direkte Form der Verschlechterung beschrieben, da ich im Übrigen, wie bereits erwähnt, wohlauf war.

    »Die mentale Symptomatik von Lycopodium ist mannigfaltig. Er ist müde. Er hat einen trüben Geisteszustand, leidet unter chronischer Erschöpfung, Vergesslichkeit, hat eine Aversion gegen neue Unternehmungen, Abneigung gegen seine eigene Arbeit.« Auch das war in gewissem Maße richtig. Eine Aversion gegen meine eigene Arbeit hatte ich allerdings nie verspürt, wobei ich unter der eigenen Arbeit natürlich nicht meine Tätigkeit im Leinheimer Verkehrsbüro verstand, sondern das, was mich außer unserer gemeinsam verbrachten Kindheit mit Bettine Vondenloh verband, nämlich das Schreiben.

    »Furcht vor Menschen mit gleichzeitiger Furcht vor Einsamkeit. Möchte sicher sein, dass noch jemand im Haus ist, aber verlangt nicht nach Gesellschaft. Gibt es zwei benachbarte Zimmer in einem Haus, so geht der Lycopodium-Patient in das eine und bleibt dort, ist aber froh, einen anderen nebenan zu wissen.«

    Ich war mir einen Moment unsicher, ob diese Symptomatik nicht doch auf mich zutreffen könnte, befand aber während der weiteren Lektüre und im Zusammenhang mit anderen beschriebenen Symptomen, die ich keineswegs aus eigener Erfahrung kannte, dass mehr Gründe gegen eine fortgesetzte Einnahme des Mittels sprachen als dafür.

    Natürlich bin ich, wie der Lycopodium-Patient, emotional leicht erregbar, aber ich weiß diese Gefühle immer zu kontrollieren. Auch ist meine Einsamkeit keine selbst gewählte, sondern ein Zustand, der sich aus mancherlei von mir nicht immer zu kontrollierenden äußeren Lebensumständen ergeben hat. Kurzum, ich setzte das Mittel ab, worauf es mir schon am nächsten Tag besser ging. Darüber hinaus war ich sogar in der Lage, die mich immer noch in einer leichteren Form überkommenden Schlafanfälle zu überwinden.

    Ich dachte an Lessing, der gegen Ende seines Lebens an Narkolepsie litt, und an Fechner, der mit Sicherheit Lycopodium-Patient war, da man sich mit ihm über Jahre ausschließlich von einem benachbarten Raum und durch ein in die Zwischenwand eingelassenes Rohr hatte unterhalten können, und fing an, einen Aufsatz über diese beiden und weitere Literaten zu verfassen, die ich, einer ersten Schematisierung folgend, unter dem Oberbegriff der »Lycopodien« zusammenfasste. Die Arbeit ging mir gut von der Hand, bis ich mich Beispielen der jüngeren literarischen Vergangenheit zuwandte und dabei natürlich als Erstes an Helga erinnert wurde.

    Helga Dahmel ist der richtige Name von Bettine Vondenloh. Es ist der Name, auf den sie 1956 in der Sankt-Marien-Kirche in Leinheim getauft wurde und unter dem man sie die neunzehn Jahre von ihrer Geburt bis zu ihrem Weggang im Jahre 1975 in unserem Ort kannte.

    Leinheim liegt etwa dreißig Kilometer östlich von Ulm und ist ein kleines, eher unbedeutendes Städtchen. Helgas Vater besaß dort am hinteren Ende der Haunsheimerstraße, dort, wo der Weg eine Biegung zum Hirschberg hinaufmacht, das einzige Weißbinder- und Tapezierergeschäft, sodass die Dahmels im Vergleich zu vielen anderen Familien, darunter auch meiner eigenen, schon frühzeitig zu einem gewissen Wohlstand gekommen waren. Helgas ältere Brüder arbeiteten im väterlichen Geschäft und betrieben zusätzlich einen regen Handel mit Gebrauchtwagen, die sie nach Feierabend in einer angemieteten Scheune, nur wenige Meter vom elterlichen Haus am Hirschberg, zurechtschweißten.

    Helga war schon als junges Mädchen ausgesprochen hübsch. Im Winter trug sie die von ihrer Tante aus Deffingen gestrickten Norwegerpullover und im Sommer abgelegte Oberhemden ihrer Brüder. Die dunklen Haare waren stets zu einem Knoten zusammengesteckt, und bereits damals hatte sie beim Lächeln diesen etwas melancholischen Blick mit der in Falten gelegten Stirn, den ich heute noch in den unterschiedlichsten Verlagsprospekten und Feuilletons des In- und Auslands bewundern kann.

    Nachdem ihr Bruder Georg, genannt Stoffel, beim Versuch, einen Benzintank zu schweißen, schreckliche Verbrennungen davongetragen hatte, begann Helga mit dem Schreiben. Sie war damals gerade vierzehn und besuchte, wie auch ich, das Gymnasium in Ulm. Obwohl ihr der Deutschunterricht lag, nahm sie sich für ihre ersten Schreibversuche keine Autoren der Schullektüre zum Vorbild, sondern einen Schriftsteller, der regelmäßig auf der zweiten Seite der kostenlos erhältlichen Zeitschrift Bäckerblume kurze Geschichten veröffentlichte. Dieser Autor hieß, wenn ich mich recht erinnere, Jo Hanns Rösler. Die Lektüre seiner Geschichten, die auch meine Mutter gerne las, nahm nie mehr Zeit in Anspruch, als man zum Verzehr eines Stück Kuchens und einer Tasse Kaffee am Nachmittag benötigte. Rösler war ein Meister darin, die heile Welt des Kleinbürgertums zu schildern, deren fest gefügte Ordnung der Schicksalsmotor von Zeit zu Zeit in ein fast angenehm zu nennendes Schwingen versetzt, welches der Autor mit geschickter Hand innerhalb weniger Zeilen wieder zu beruhigen verstand, ähnlich dem Betreiber einer Schiffsschaukel, der zum Abbremsen eine Planke gegen den darübergleitenden Kiel presst. Mit der Erinnerung an seinen Namen verbindet sich für mich heute noch der Geruch von frisch gemahlenen Kaffeebohnen und den kandierten Mandeln des Bienenstichbelags.

    Ich las zu dieser Zeit bereits Die Begrüßung des Aufsichtrats von Peter Handke und hatte für jegliche Form der Trivialliteratur nur Verachtung übrig. Ebenso wenig wie Helga war ich Zeuge von Stoffels Unfall gewesen, dennoch entwarfen sich in meinem Inneren sogleich Bilder von expressionistischer Eindringlichkeit: Stoffel! Benzingetränkter Leib! Menschliche Fackel! Stürmt an gegen klein gestutztes Spaliergewächs! Stürzt in die frisch beackert aufgeworfene Scholle, um des infernal funkenden Feuers Herr zu werden! Dornbusch motorisierter Maschinenwelt! Scherenschnitt des Keilriemens Unwägbarkeit! Verglühendes Irrlicht am Leinheimer Horizont!

    Der magische Realismus, der im Jahr 1970 zwar schon existierte, in Süddeutschland jedoch noch gänzlich unbekannt war, hätte ein vergleichbares Bild aufgegriffen und in das dichte Gespinst von Mythologie und Wahn eingewebt, dem kein Leser vor einer atemlosen Beendigung der Lektüre entkommen wäre. Die Historie eines ganzen Volkes ließe sich so entwerfen, denn das tragische Geschick von Helgas Bruder fand mit dem Unfall selbst noch lange kein Ende, sondern erstreckte sich in die Zeit der Rekonvaleszenz, als dem Unglücklichen die frisch über die Wunden wachsende Haut immer wieder abgezogen werden musste, um eine wenigstens einigermaßen narbenlose Verheilung zu unterstützen.

    Diese Sinnbilder der Identitätsfindung verlangten für mich entweder nach der kühlen Gleichgültigkeit der Moderne oder dem barocken Glühen des Phantasmas, und obwohl ich ein Quäntchen mehr an Lebenserfahrung besaß und ahnen hätte können, dass Helga mit Sicherheit noch zu dicht an diesem schrecklichen Ereignis war, um es direkt an- und aussprechen zu können, war es mir damals nicht möglich, ihre literarische Herangehensweise zu akzeptieren, geschweige denn in ihr die ersten, wenn auch schüchternen Äußerungen eines großen Talents zu erkennen.

    Die Geschichte, die sie mir eines Morgens, es waren etwa sechs Wochen seit dem Unglück vergangen, im Bus gab, füllte eine ganze aus ihrem Geografieheft herausgerissene DIN-A4-Seite und hieß: »Es klingelt bei Monschauers«. Herr Monschauer war unser Religionslehrer. Ein Junggeselle, der meines Wissens nach keinerlei Familie besaß, weshalb ich mich über den Titel wunderte. Ich ahnte damals noch nicht, dass Helga sich schon in ihrem ersten Text ganz intuitiv jener Form der Verschlüsselung bediente, die sie eine ganze Schriftstellerkarriere lang beibehalten sollte und auf die sich, nicht zuletzt, auch ihr Ruhm gründet.

    »›Heute gehst du aber mit dem Hund raus‹, sagte Frau Monschauer am Samstagmorgen. Ihr Mann schaute ärgerlich über den Rand der Zeitung. Ein Artikel über einen Zauberkünstler hielt ihn gefesselt. Von diesem Mann hieß es, er könne durch Flammen gehen, ohne dabei Schmerz zu empfinden.«

    So lauten die ersten Zeilen der Erzählung, die auch gleichzeitig deren Höhepunkt darstellen, da im Folgenden von nichts weiter als einem tatsächlich stattfindenden kleinen Spaziergang und dessen Banalitäten berichtet wird. Am Ende sitzt Herr Monschauer wieder hinter seiner Zeitung, als sei rein gar nichts geschehen. Und erst im letzten Satz, fast wie nachgeschoben, erfüllt sich der Titel der Geschichte, denn es schellt bei Monschauers, jedoch bricht gleichzeitig mit dieser Erfüllung die Erzählung jäh ab.

    Die mittlerweile vergilbte und an den Falzungen brüchige Seite gehört zu meinen wertvollsten Erinnerungsstücken, und ich muss gestehen, dass es mich heute zutiefst ärgert, damals den dritten Satz rot angestrichen zu haben.

    »Ein Zauberkünstler geht nicht durch Flammen«, teilte ich Helga dazu lapidar am anderen Morgen mit. »Außerdem wirkt der Ausdruck ›gefesselt‹ in diesem Zusammenhang komisch.« Sie erwiderte nichts, sondern schenkte mir nur ihr unvergleichliches Lächeln, in das sich eine Spur des Bedauerns mischte.

    Seltsamerweise ist meine rote Tinte schneller verblasst als die blaue, in der sie ihre Zeilen schrieb. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt eine Kopie ihres Erstlings besitzt. Wahrscheinlich nicht. Kopiergeräte waren damals noch selten, und dass sie sich die Geschichte abgeschrieben hat, kann ich mir nicht vorstellen.

    Schon um ein besseres und genaueres Verständnis ihrer Werke zu ermöglichen, hätte ich mein Wissen über Helga gerne mit anderen geteilt. Doch obwohl der Ruhm Bettine Vondenlohs gerade in den letzten Jahren unvorstellbare Ausmaße erreichte, schien man im Allgemeinen mehr an privaten Einzelheiten interessiert als an ersten Proben ihres Schaffens. So wurde ein mir als fest zugesicherter und in monatlich erscheinenden Programmzeitschriften auch bereits angekündigter Termin bei Beckmann im letzten Moment wieder abgesagt, weil ich angeblich »nicht genug Persönliches einzubringen hätte«. Dies teilte mir knapp zehn Tage vor der Aufzeichnung eine Dame telefonisch mit, wobei ich mich fragte, wie sie überhaupt auf diesen Gedanken kam, und wenn, weshalb erst so spät. 500 Mark Ausfallhonorar, das sei der übliche Satz, und vielleicht würde es ja ein anderes Mal zu einem anderen Thema klappen. Beckmann sei ohnehin eine reine Prominenten-Talkshow. Nun konnte ich mich nicht länger zurückhalten und fragte direkt heraus, warum sie mich dann überhaupt genommen hatten. »Es ist bekannt, dass Frau Vondenloh sehr publikumsscheu ist und so gut wie keine Interviews gibt. Wir hatten gehofft, auf diesem Weg etwas Näheres über sie zu erfahren.«

    »Aber das können Sie doch noch immer«, wandte ich ein.

    »Wie gesagt«, überging die Dame meinen Zwischenruf, »es gab da einige Schwierigkeiten. Vielleicht haben Sie ja woanders Glück.«

    An meiner Stelle hatte man an besagtem Montag einen gewissen Götz Alsmann eingeladen. Bei Alsmann, den ich zuvor noch nie gesehen hatte, handelte es sich allem Anschein nach um ein Multitalent mit einem auffälligen, aber durchaus ansprechenden Äußeren. Natürlich war er viel wortgewandter, als ich es je hätte sein können. Er sprudelte über von Anekdoten und berichtete von seinen Erlebnissen als Musiker und Entertainer. Ich erfuhr viele interessante Details aus dem Showgeschäft, so zum Beispiel, dass Alsmann die Angewohnheit hat, in seinem Garderobenraum in das Waschbecken zu urinieren, weil ihm das Glück bringt.

    Ich wandte mich, der Anregung, es einmal woanders zu versuchen, folgend, an Johannes B. Kerner, beging aber den Fehler, in meinem Brief die fehlgeschlagene Einladung bei Beckmann zu erwähnen. Man teilte mir daraufhin mit, dass ich nicht direkt als Gast infrage käme, unter Umständen aber bei einer Sondersendung mitwirken könne, die für die zweihundertste Ausstrahlung vorgesehen sei und sich unter dem Titel »Abgelehnt!« ausschließlich mit Menschen beschäftige, die bei anderen Talkshows nicht angenommen worden waren. Jeder könne dann in einem kurzen Statement von seinem Misserfolg berichten. Obwohl ich glaube, dass ich auch bei dieser Sendung mein Anliegen nicht richtig werde vertreten können, einfach schon aus einem Mangel an Zeit, ließ ich mich vormerken.

    Ich habe mir vorgenommen, bis dahin etwas Ordnung in meine Aufzeichnung über Helga zu bringen. Natürlich ist da an erster Stelle die Kindheit zu erwähnen, durch die unser Leben nachhaltig geprägt wird. Elternhaus, Schule und nicht zuletzt der Wohnort, mit dem ich auch beginnen möchte.

    2

    DER GÜNDELHOF

    Der einstige Gündelhof, das jetzige Heimatmuseum Leinheim, war ein unheimlicher Ort, der die Fantasie von uns Kindern gefangen hielt. Das weitläufige und in ein Hauptgebäude und zwei Seitenflügel aufgeteilte Anwesen befindet sich auf einer kleinen Erhebung gleich rechts am Ortseingang. Ein großes Holztor, in das eine schmale Tür eingelassen ist, verschließt den gepflasterten Hof, in dessen Mitte ein Brunnen und ein alter, in den letzten hundert Jahren bedauerlicherweise schon dreimal vom Blitz getroffener und deshalb toter Eichenstamm steht.

    Während des Krieges wurden die Zimmer und vor allem die Kellerräume als Munitionsdepot benutzt. Kurz vor Einmarsch der Alliierten verminte der Sohn des damaligen Bürgermeisters das Gelände so gründlich, dass selbst die Amerikaner sich unverrichteter Dinge zurückziehen mussten.

    Man erzählt Fremden und Besuchern in Leinheim gern die Geschichte einer zehntägigen Belagerung, wahrscheinlich um in ihr den dörflichen Zusammenhalt zu symbolisieren. Tatsächlich hatten die Besatzer einen einzigen Panzer und einen Jeep nach Leinheim abkommandiert, weil man in der Gegend von Ulm Lager- und Konstruktionsplätze für Geheimwaffen vermutete. Als die beiden Insassen des Jeeps jedoch bei einem ungeschickt ausgeführten Anfahrmanöver zum Gündelhof eine der Minen auslösten und dabei bedauerlicherweise ums Leben kamen, während der ihnen nachfolgende Panzer aus unerfindlichen Gründen ein nur fenstergroßes Loch in das Mauerwerk hatte schießen können, beschloss die Vorhut, wieder abzudrehen und den strategisch unwichtigen Ort sich selbst zu überlassen.

    Währenddessen war der Bürgermeistersohn am Morgen nach seiner nächtlichen Aktion mit einem demolierten Armeemotorrad neben der Bahnstrecke nach Riedhausen einem

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