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Die fernen Orte des Versagens
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eBook413 Seiten6 Stunden

Die fernen Orte des Versagens

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Über dieses E-Book

Geschichten, die ineinandergreifen, und Geschichten in Geschichten erzählen: Mit Die fernen Orte des Versagens hat Frank Witzel ein grandioses literarisches Möbiusband geflochten. Ausgehend von Alltagssituationen bohrt sich der Erzähler gemeinsam mit seinen Figuren unerbittlich bis an den Grund der Bedingungen des Menschseins. Atemlos folgt der Leser den labyrinthischen Geschichten, die ihn in einen Irrgarten der Wirklichkeit führen. Ein bunter Strauß an Lebensentwürfen, Stereotypen und Pathologien enthüllen Wirklichkeiten hinter der Wirklichkeit: Ein Pilzsammler findet im Wald eine Leiche und versucht, mögliche Konsequenzen zu umgehen; ein Paar fährt zu einem Fotoshooting auf den Todtnauberg; eine Frau mit einem Pferdewunsch muss sich mit den noch ausgefalleneren Wünschen ihrer Partner auseinandersetzen; ein Anwalt entwickelt an einem freien Nachmittag die Theorie der unlogischen Sekunde; eine Frau gerät durch Zufall in ein abgelegenes Dorf, in dem sie verschiedenen Mechanismen des Begehrens ausgesetzt wird; eine andere Frau versucht sich durch ein Voodoo-Ritual vor einem drohenden Schicksalsschlag zu bewahren.

Durch das Witzel'sche Prisma bricht sich das Licht des Alltags, offenbart eine andere Wirklichkeit und gibt einen Blick auf die unterschiedlichen Beweggründe menschlichen Handelns und die Rückseiten der Kulissen unserer Welt frei. Wie der Maler in jenem berühmten chinesischen Gleichnis, so verschwindet der Erzähler in den Geschichten, die zum Spiegelkabinett der Wirklichkeit werden und vom Geheimnis des Lebens erzählen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum21. Sept. 2023
ISBN9783751809382
Die fernen Orte des Versagens
Autor

Frank Witzel

Frank Witzel veröffentlichte seit seinem ersten Lyrikband 1978 mehr als ein DutzendBücher, u. a. die Romane Bluemoon Baby (2001/2017), Vondenloh (2008/2018) und Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, für den er den Deutschen Buchpreis 2015 erhielt. Für das gleichnamige Hörspiel gewann er den Deutschen Hörspielpreis 2017. Für seinen Roman Direkt danach und kurz davor war er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2017 nominiert. Im selben Jahr erhielt er die Poetikdozentur der Universität Heidelberg und 2018 die Poetikdozentur der Universität Tübingen, 2017/2018 war er Inhaber der Friederichs-Stiftungsprofessur an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, wo er heute lebt. Im BR wurden 2017 sein Hörspiel-Film Die apokalyptische Glühbirne und 2018 die Hörspielserie Stahnke, 2019 beim HR das Hörspiel Jule, Julia, Julischka, alle in der Regie von Leonhard Koppelmann, gesendet, für die er mit ihm zusammen 2017 den Deutschen Hörbuchpreis erhielt. Sein 2020 erschienener Roman Inniger Schiffbruch war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.  

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    Buchvorschau

    Die fernen Orte des Versagens - Frank Witzel

    VON DER ARBEIT DES VERFEHLENS

    Lieber Christian,

    am Mittwoch vor einer Woche, als ich wieder einmal mein Bücherregal nach einer Anregung für mein immer weiter stockendes und sich selbst torpedierendes Projekt abging, machte ich einen Fehler, einen ganz grundsätzlichen Fehler, den man bei jeder Begegnung mit einem Buch um alles in der Welt vermeiden muss. Nachdem ich nämlich, ohne auf den Rücken zu achten, ein Buch herausgezogen hatte, sah ich, anstatt dieses Buch unmittelbar aufzuschlagen, auf die Rückseite dieses Buches, was mir nur passieren konnte, weil ich in Gedanken an meine banal unzulänglichen Erzählungsstümpfe war. Nein, ich sah nicht nur auf die Rückseite des Buches – es handelte sich übrigens um einen Band von Thomas Bernhard –, sondern ich las, was dort stand. Natürlich ist bereits das eine Unverschämtheit: auf ein Buch die Beurteilung dieses Buches von wem auch immer zu drucken, wobei es ja gerade nicht eine Beurteilung von wem auch immer ist, denn das würde ich mir vielleicht noch gefallen lassen, sondern eine Beurteilung aus sogenanntem »berufenen Munde«, in diesem Fall dem Feuilleton des Tagesspiegels, an dieser Stelle nicht weiter namentlich gekennzeichnet, weil es sich wohl um keinen »klingenden Namen« handelte, der diese Beurteilung verfasst hatte, weshalb verschwiegen wurde, wer sich hinter diesem Decknamen Tagesspiegel verbarg und wessen banale und unbegründete Meinungshaftigkeit durch die Nennung des Organs aufgewertet werden sollte, das diese banale und unbegründete Meinung abgedruckt hatte. Der Satz, den ich dort las, lautete: »Ganz einfach, menschlich; es ist vielleicht das schönste, das Bernhard geschrieben hat.« Und es war dieser Satz, der das Schicksal meines Erzählungsbandes besiegelte, auch wenn ich noch einige Wochen dagegen anzukämpfen und mich immer wieder zu ermahnen versuchte, mich doch nicht von einem solch banalen Satz von einer Arbeit abbringen zu lassen, an der ich, um es nicht allzu pathetisch zu machen und von »einem halben Leben« zu sprechen, doch immerhin die letzten zweieinhalb Jahre gearbeitet, vergeblich gearbeitet, unnötig gearbeitet, in die falsche Richtung gearbeitet, aber dennoch gearbeitet hatte. Doch ließ mich dieser Satz in seiner erschreckenden Banalität, in seiner völligen Aufgabe, Literatur, wenn dieser Satz schon nicht in der Lage war, sie zu erfassen, so doch wenigstens zu belassen, nicht mehr zur Ruhe kommen. Dieser Satz besiegelte in seiner vermeintlich gutgemeinten Harmlosigkeit, die tatsächlich eine bösartige Unverschämtheit war, jedoch nicht nur das Schicksal meines Erzählbandes, sondern auch mein Schicksal als Schriftsteller. Ich übertreibe? Ja, ich übertreibe. Aber das heißt nicht, dass diese Übertreibung nicht dennoch wahr wäre, oder gäbe es eine andere adäquate Reaktion auf diesen Satz, als sich nicht länger mit einer Welt gemein zu machen, in der ein solcher Satz existiert? Hätte dort wenigstens gestanden: »Es ist das schönste, das Bernhard geschrieben hat«, aber nein, selbst das wurde nicht gewagt. Stattdessen wurde der gewählte Superlativ im selben Moment, in dem er ausgesprochen wurde, bereits wieder zurückgenommen, weil dieser Rezensent, dessen Namen ich nicht kenne und auch nicht kennen will, dieser Journalist, den ich mir abwechselnd als Mann, dann wieder als Frau vorstellte, ohne ausmachen zu können, welches dieser Aussage zugeordnete Geschlecht diese Aussage verstärken würde, denn eine Entkräftigung gab es für diese Aussage nicht, weil also dieser Rezensent es noch nicht einmal wagte, eine Hyperbel in den Raum zu stellen und als Hyperbel stehen zu lassen, sondern sich absichern wollte, damit nicht ein anderer daherkommt und sagt: »Das ist aber gar nicht das schönste, was Bernhard geschrieben hat, das schönste ist das hier«, was zur Folge gehabt hätte, dass die beiden sich eine Weile im Feuilleton hätten anhampeln müssen und damit für kurze Zeit eine vermeintliche Lebendigkeit des in Wirklichkeit nicht länger nur dahinsiechenden, sondern längst mausetoten Feuilletons simuliert hätten. Kann man von einem Schriftsteller ernsthaft verlangen, in diese Welt, in der solche Sätze in Bezug auf Literatur geschrieben und gedruckt und dann von den Verlagen abgeschrieben und auf die Rückseiten von Büchern platziert werden, noch etwas hineingeben beziehungsweise hineinschreiben zu wollen?

    Ich gebe zu, es ist, selbst wenn alles stimmt, was ich sage, gleichzeitig auch eine Ausrede. Endlich habe ich einen Grund gefunden, um mein bereits zuvor gescheitertes Projekt nun mit gerechtem Zorn zu beenden. Ich mache mir und Dir da nichts vor, dennoch gab es diesen Moment, in dem ich erkennen musste, dass sich eine Auseinandersetzung mit der Welt nicht länger lohnt, wahrscheinlich noch nie gelohnt hat, aber mittlerweile gar nicht mehr lohnt. »Sollen meine Erzählstümpfe doch Erzählstümpfe bleiben«, dachte ich mit einem gewissen Grimm, besser noch Ingrimm, als wäre ich selbst eine Figur aus diesen unvollständigen, unfertigen und vor allem unzulänglichen Erzählstümpfen, die nun ungelesen bleiben würden, damit – so meine Rechtfertigung – nicht irgendein Lohnschreiber die Gelegenheit bekäme, einen Gedanken zu formulieren, den er im selben Moment mit einem ängstlichen »vielleicht« wieder relativiert. Diesem Betrieb wenigstens an einer, wenn auch noch so kleinen und unbedeutenden Stelle das Futter entzogen zu haben, das imaginierte ich mir kurzzeitig als möglichen Trost, den ich, wenn auch nicht in diesem Moment, jedoch vielleicht eines Tages als solchen würde empfinden können. Reicht es denn nicht, Tag für Tag mit den allergrößten Unverschämtheiten und Lügen konfrontiert zu werden, muss denn auch noch die Literatur mit der Ohrfeige eines »vielleicht« bedacht werden? Wobei bereits das Wort »schön« Kennzeichen einer intellektuellen Bankrotterklärung, einer ästhetischen Bankrotterklärung, sprechen wir es aus, einer menschlichen Bankrotterklärung ist. Schön, das ist der Zugang zur Hölle der Beliebigkeit, die erbarmungsloseste aller Höllen, weil in ihr mit ausgestellter Gleichgültigkeit gefoltert wird.

    Da Du so lange zu mir gehalten und auf mich vertraut hast, kann ich diese Sammlung von Erzählstümpfen nicht einfach irgendwo auf einer imaginären Halde verrotten lassen, sondern muss diese Erzählstümpfe vor dem Verrotten noch einmal einzeln zusammen mit Dir anschauen, quasi als Arbeitsnachweis, damit Du nicht das Gefühl hast, ich hätte Dich lediglich hingehalten und Dir etwas vorgespielt, während ich längst wusste, dass ich nicht mehr in der Lage sein würde, irgendeinen Text, ganz zu schweigen einen Band mit Erzählungen, fertigzustellen. Bevor ich Dir allerdings diese Erzählstümpfe wie in einer makaber pathologischen Nummernrevue vorführe, muss ich noch kurz ein anderes Thema streifen und aus dem Weg räumen. Meine vermeintliche Krankheit, dieser unbedeutende Schwächeanfall, der mich vor einigen Wochen unerwartet heimsuchte, hat nämlich mit meiner Entscheidung, meine Arbeit an dem Band mit Erzählungen auf immer und unwiderruflich einzustellen, nicht das Geringste zu tun. Sollte Dir Kamilla in diesem Zusammenhang geschrieben haben, was ich befürchten muss, da sie unnötigerweise sogar meine Schwester und meine Mutter kontaktiert hat, so muss ich Dir sagen, falls Du es nicht ohnehin ahnst, dass sie leider, was mich angeht, zu einer Überängstlichkeit neigt, eine Eigenschaft, die ich selbst verursacht habe, da ich mich ihr gegenüber schlecht verstellen kann, mehr noch eine unwillkürliche Tendenz verspüre, ihr meinen Zustand aus dem Moment heraus dramatischer zu schildern als wahrscheinlich angemessen. Wie gesagt, ich hatte einen kleinen Schwächeanfall, nichts weiter, und war lediglich ein paar Tage im Krankenhaus zur Beobachtung. Dort hat man nichts Außergewöhnliches festgestellt und mich mit ein paar guten Ratschlägen und dem Rezept für einen Gemütsaufheller wieder entlassen. Die Ratschläge waren gleichermaßen banal wie weltfremd, denn natürlich würde auch ich gern einen Feierabend und ein freies Wochenende haben und mich liebend gern an geregelte Arbeitszeiten halten. Dass ich das nun kann, ist ein eher zufälliger Nebeneffekt, der jedoch nichts mit besagtem Krankenhausaufenthalt und den komplett weltfremden Ratschlägen, die mir während dieses Krankenhausaufenthalts erteilt wurden, zu tun hat. Geschweige denn mit meiner Medikation, da ich diesen Gemütsaufheller rasch abgesetzt habe, denn er hellte nicht mein Gemüt auf, sondern dämpfte lediglich meine Affekte ab, was man nur in ärztlicher Verblendung für dasselbe halten kann. Aber jetzt habe ich schon mehr Worte zu diesem Thema verloren, als mir lieb ist. Kurz gesagt, vergiss alles, was Du in Bezug auf meinen Gesundheitszustand gehört haben magst und lass Deine Haltung mir gegenüber nicht von irgendwelchen falschen Vorstellungen beeinflussen, ich bin, wie es so schön heißt, im vollen Besitz meiner körperlichen und geistigen Kräfte und brauche deshalb keine falsche Rücksichtnahme, sondern nur die übliche Form der Rücksichtnahme, die man jemandem gegenüber beinahe automatisch walten lassen sollte, der von sich behauptet, er sei im vollen Besitz von was auch immer.

    Gerade weil es nichts Besonderes war, weshalb ich ins Krankenhaus kam, konnte sich dieser Aufenthalt mit einer gnadenlosen Schwerkraft in mir entfalten. Gerade weil ich nicht schon hinfällig war und von Schmerzen zu Boden gedrückt, konnte ich diese Flure und Zimmer und Untersuchungsräume in ihrer grundsätzlichen Wesenheit wahrnehmen. Weil im Krankenhausbetrieb alles nach Kriterien der Unübersichtlichkeit, Unzweckmäßigkeit und Unbrauchbarkeit eingerichtet ist, werden diese Flure, Zimmer und Untersuchungsräume seit Jahrzehnten von Erstsemester-Architekten entworfen, da man für den Entwurf eines solchen Betriebs eben Menschen braucht, die komplett überfordert mit einem solchen Entwurf sind, und das sind nun einmal Erstsemesterstudenten, denen man, kaum dass sie einen Stift halten und ein Reißbrett auf ihren Oberschenkeln balancieren können, sagt: »Nun entwerfen Sie mal ein Krankenhaus. Nur zu, keine Hemmungen. Nein, Sie brauchen keine weiteren Informationen, Sie wissen ja, wie es ist, da liegen Menschen in Betten und dann gibt es Räume, da werden diese Menschen untersucht, und dann Räume, da werden sie operiert, und dann Räume, da kommen die Verstorbenen hin, und dann noch eine Küche und eine Waschküche, ach ja, und auch noch eine Caféteria. Machen Sie das einfach mal so, wie Sie sich das vorstellen, und dann reden wir anschließend darüber.« Aber anschließend wird nicht darüber geredet. Im Gegenteil, keine einzige Silbe wird mehr darüber verloren. Stattdessen werden die Entwürfe von einem Gremium der unfähigsten Bürokraten durchgesehen, um daraus den unübersichtlichsten, unzweckmäßigsten und unbrauchbarsten Entwurf auszuwählen, nach dem anschließend das neue Krankenhaus gebaut wird. Das ist seit Jahrzehnten so Usus. Wichtig ist, dass niemand, weder Personal noch Patienten, irgendwo in diesem Krankenhausbetrieb das Gefühl bekommen darf, sich wohl oder gar heimisch zu fühlen. Jede Form der Privatheit muss einem in dieser Umgebung als deplatziert und komplett absurd erscheinen, damit das Gefühl verstärkt wird, auch wirklich krank, am besten todsterbenskrank zu sein, sobald man auch nur einen Fuß in diese dysfunktionale Erstsemester-Architektur setzt, in der natürlich auch die liebliche Farbgestaltung nicht fehlen darf, die das Siechtum aufhellen soll, wobei gerade diese erzwungene und sich mühselig abgerungene Menschlichkeit in einer sonst komplett verbauten Umgebung genau das Gegenteil von Menschlichkeit ausdrückt, weil sie an diesem Ort, an dem Menschlichkeit nicht wirklich, sondern nur ausgestellt existiert, genötigt ist, diesen unwirklichen Umgang mit Menschlichkeit gleichermaßen auszustellen.

    Nachdem ich diesen Ort verlassen hatte, war mir klar, dass ich diesen Ort niemals wieder betreten würde, zumindest nicht in einem Zustand, in dem ich noch einen Rest meines Verstandes, meines Gefühls oder meiner körperlichen Kräfte zur Verfügung hätte, einem Zustand, in dem ich nicht durch rasende Schmerzen oder eine akut lebensbedrohliche Erkrankung derart zu Boden gezwungen wäre, dass ich die Unzulänglichkeitsarchitektur dieses Krankenhauses nicht länger als solche wahrnehmen würde können, sondern als das annehmen würde müssen, als das sie gemeint war, eine Architektur der Unterwerfung und der Ausweglosigkeit, in der die Kriterien von Ästhetik und Menschlichkeit nicht nur außer Kraft gesetzt sind, sondern dieses Außer-Kraft-gesetzt-Sein offen präsentiert wird, weil nur der hier Einlass findet, der seinen Willen bereits maßgeblich eingebüßt hat und keine Kraft mehr besitzt, sich gegen diese ausgestellte Unverschämtheit von Unzulänglichkeiten zur Wehr zu setzen. Dieser angeblich nach funktionalen Maßstäben eingerichtete Betrieb verleugnet und erniedrigt das Individuum, um das es doch konkret geht oder gehen müsste. Tatsächlich hat das Individuum jedoch seine Individualität bereits durch die Krankheit eingebüßt, denn die Diagnose wird nicht erstellt, um das Individuum entsprechend individuell zu behandeln und seine Individualität zu bewahren oder wiederherzustellen, vielmehr ist die Diagnose der erste Schritt zur Auf lösung des Individuums, das, ganz so wie es die Unfähigkeitsarchitektur der Krankenhäuser diktiert, auch diagnostisch auf einen Erstsemester-Bauplan des Menschen zurechtgeschrumpft wird, mit einem ungefähren Körperumriss, in dem die wesentlichen Organe innerhalb des reduzierten Kreislaufs angeordnet sind, den man glücklicherweise vor einigen Jahrhunderten entdeckt hat. Mehr Wissen braucht man nicht, weil alles andere die Labore machen. Aus dem Kreislauf zapft man mehr oder minder geschickt Blut ab, und das wird anschließend untersucht, damit man eine beeindruckende Zahl von sogenannten Werten erhält, die man entsprechend mit Medikamenten reguliert. Hilft das nichts, wird begonnen, an den Organen herumzuschneiden.

    Hätte ich mich demnach nicht freuen müssen, diesem Unzulänglichkeitsapparat noch einmal entkommen zu sein? Hätte ich nicht mit frischer Kraft meine zurückgelassene Arbeit wieder aufnehmen können, mich nicht länger von falschen Zweifeln aufhalten lassen, sondern mich fortan ausschließlich der Aufzucht und Pflege meiner Erzählstümpfe widmen? Genau das Gegenteil trat ein. Anfänglich schob ich meine Unkonzentriertheit noch auf die gerade erst erlebte Diskrepanz zwischen meiner Arbeit, in der ich versucht hatte, in immer subtilere Regionen der Empfindung vorzudringen, zumindest gemeint hatte, das zu versuchen, und dieser gerade erlebten Reduzierung des Körpers, vom Geist war ja dort nie die Rede, auf entkontextualisierte Organe und einen willenlosen Kreislauf, mit dem ich nicht nur ausgestattet war, sondern aus dem ich bestand, der ich kurz gesagt war. Ich war Kreislauf, ich war Leber, Niere, Herz – ganz so wie das Personal untereinander die Patienten auch benannte (»Die Milz von 207 wird heute Mittag verlegt«) – und wie diese entsprechend austauschbar. Zurückgekehrt empfand ich jedoch beim Lesen meiner Erzählungen diese ebenfalls als austauschbar, als beliebig, als unzulänglich, kurz als Erstsemesterliteratur, von jemandem geschrieben, der irgendwo einmal aufgeschnappt hatte, dass es Erzählungen gibt, und in seiner Unfähigkeit, Literatur zu begreifen, in seiner mangelnden Fähigkeit zu erkennen, was es mit Literatur auf sich hat, nun anfing, nachdem er vielleicht noch ein, zwei Erzählungen anderer Autoren mehr überflogen als tatsächlich gelesen hatte, mit einer Erstsemestervorstellung vom Aufbau einer solchen Erzählung, die Ähnlichkeiten mit dem Erstsemesteraufbau des menschlichen Körpers und dem Erstsemesterentwurf eines Krankenhauses hatte, selbst eine Erzählung zu schreiben. Ich begriff die eigene Unfähigkeit und verstand, dass es auch in der Literatur allein um die Verwaltung dieser Unfähigkeit geht und dass die Verwaltung entsprechend der Unfähigkeit immer weiter zugenommen hatte und zunehmen hatte müssen, weshalb es vor hundert Jahren noch weniger Verwaltung dieser literarischen Unfähigkeit gegeben hatte, was nicht unbedingt daran lag, dass die Autoren fähiger gewesen wären, sondern dass sie noch von der Idee getrieben waren, die Literatur weiterzuentwickeln, weshalb man ihnen keinen Vorwurf machen konnte, so wie man Harvey die reduzierte Vorstellung des Kreislaufs nicht hätte vorwerfen können, sondern ihn im Gegenteil dafür hätte loben müssen, weil er überhaupt darauf gekommen war, dass es einen Kreislauf gab, während man allerdings denen, die diesen Kreislauf nun über Jahrhunderte nicht wesentlich weiterentwickelt, sondern nur die Verwaltung dieses Kreislaufs aufgeblasen hatten, durchaus einen Vorwurf machen konnte, wie man der Verwaltung der Literatur, denn um nichts anderes ging es heute noch, natürlich einen Vorwurf machen und sich fragen muss, ob man an diesem Verwaltungsakt noch länger Anteil haben will. Ich konnte mich nicht länger damit herausreden, dass es nun einmal auf diese Weise um die Literatur bestellt war und dass Literatur heute eben vor allem aus Verwaltungsakten besteht, wie überhaupt alles auf der Welt nur noch aus Verwaltungsakten besteht, und dass es sinnlos und ein Kampf gegen Windmühlen ist, sich gegen diese Verwaltungsakte zur Wehr setzen zu wollen, weil durch dieses Zur-Wehr-Setzen lediglich weitere Verwaltungsakte hervorgerufen werden, wenn die vornehmliche Aufgabe doch darin bestehen sollte, in dieser Welt von Verwaltungsakten den in Verwaltungsakten gefangenen Menschen etwas Ablenkung zu verschaffen, wenn schon keinen Trost, denn in einer Welt von Verwaltungsakten kann es keinen Trost geben, dann wenigstens noch Ablenkung.

    Ungefähr an diesem Punkt meiner Überlegungen angelangt, ging ich mein Bücherregal ab und zog besagten Band von Thomas Bernhard heraus, weil ich dachte, womöglich war Bernhard der letzte Schriftsteller, der sich gegen diese verwaltete Literatureindämmung noch hatte zur Wehr setzen und ihr etwas entgegenhalten können, etwas, das die Literatur noch einmal, wenn auch nur kurzzeitig, über den reinen Verwaltungsakt hinausgeführt hatte. Dann aber las ich auf der Rückseite des von mir herausgezogenen Buches diesen Erstsemester-Tagesspiegel-Satz einer vermeintlichen Literaturkritik, diese komplette Bankrotterklärung einer Literaturkritik, diesen Erstsemesterverwaltungsakt, der aber selbst in seiner Verwaltung scheiterte, weil er nicht bereit war, die Verantwortung für diese Verwaltung zu übernehmen, obwohl er doch angetreten war, zu verwalten, und nichts anderes im Sinn hatte, als zu verwalten, aber selbst nicht begriff, dass mit einem »vielleicht« nicht verwaltet werden kann, während ich umgekehrt begriff, dass selbst die Verwaltung auf einer unteren Verfallsstufe angekommen war, auf der die Verwaltung selbst nichts mehr über ihre Tätigkeit des Verwaltens wusste, sondern sich genauso vor dem Verwalten drückte, wie sich die Literatur davor drückte, Literatur zu sein, das heißt die Literatur weiterzuentwickeln. Die Literatur hatte sich der Verwaltung untergeordnet und die Verwaltung weigerte sich zu verwalten, nachdem sie sich jahrzehntelang mit ihren Verwaltungsakten aufgespielt hatte. Es war ein gegenseitiges Zugeschachere von Verantwortungslosigkeiten, konkreter von verantwortungslosen Verwaltungsakten. Die Verwaltungsakte hatten sich verselbstständigt und waren für die Literatur zu dem geworden, was die Laborwerte für die Medizin waren: Zahlen, hinter denen man sich versteckte und die man selbst nicht mehr begriff. Ich hingegen begriff, dass die Literatur am Ende war, dass wir in einer Welt des »vielleicht schönsten« lebten. Alles war ein zurückgenommener Superlativ. Wir lebten nicht länger in der »besten aller möglichen Welten«, sondern in der »möglicherweise besten aller Welten«. Selbst das Meinen, diese niedrigste Stufe des Denkens, war zu einem Meinen über das Meinen verkommen. Phantasie wurde nur noch dafür eingesetzt, das eigene Denken einzuschränken und weitere Möglichkeiten dieser Einschränkung zu ersinnen. Mussten die Schriftsteller früherer Epochen ihre Werke bei der Zensur einreichen, also bereits im Vorfeld in ihrem Schreiben versuchen, diese Zensur zu umgehen, woraus sich eine stilistische Überlegenheit entwickelte, so existierte heute der Verwaltungsakt als die schlimmere Zensur, weil er alles auf ein Mittelmaß zurechtstutzte. Egal, was ich schreiben würde, es würde ohnehin zurechtgestutzt. Und entweder ich würde diesem Zurechtstutzen vorausgreifen und es auf diese Weise noch etwas zu kontrollieren versuchen, oder ich würde mich ihm unterwerfen, so wie selbst Bernhard ihm unterworfen wurde und mit ihm alle anderen, die je etwas geschrieben hatten.

    Und hier, genau an dieser Stelle, zeigte sich erneut meine Unfähigkeit dem Leben und der Literatur gegenüber, denn ein anderer hätte sich durch diese feuilletonistische Bankrotterklärung angespornt gefühlt, hätte sich befreit gefühlt gegenüber einem solchen Maß an Beschränktheit und Blödheit, das ihm die Möglichkeit eröffnete, sich in einem Anfall von Trotz über alle literarischen Verwaltungsakte hinwegzusetzen und wenigstens eine Zeile hinzuschreiben, die sich den literarischen Verwaltungsakten vielleicht nicht entzog, sie aber zumindest sichtbar machte. Nicht jedoch ich, denn was tat ich in meiner nicht minder großen Blödheit? Ich zog ein zweites Buch von Bernhard hervor und schaute diesmal nicht unbeabsichtigt und wie nebenbei, sondern ganz bewusst auf die Rückseite, um zu sehen, was dort stand, als hoffte ich in kindlich verstrickter Abhängigkeit dort einen anderen Satz vorzufinden, einen nicht vor Blödheit strotzenden, sondern vor Eingebung schillernden Satz. Hoffnung aber ist alles andere als das Lebenselixier als das sie uns verkauft wird, sondern ebenfalls nur ein Verwaltungsakt, der unsere Wiederholungszwänge und unsere Unfähigkeit, zu lernen, mit entsprechenden Rechtfertigungen ausstattet. So war ich letztlich froh, erneut mit dem Kopf auf diesen Umstand gestoßen zu werden, den man allzu leicht vergisst und einen Satz vorzufinden, der – wie auch anders? – dem ersten um nichts nachstand. Dieser Satz, der diesmal aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stammte, beschwor nicht das Vielleicht-Schönste, sondern sprach von etwas ganz anderem, nämlich von »absoluter Wahrhaftigkeit«, die man von Bernhard »lernen« könne. Diese absolute Wahrhaftigkeit war natürlich um keinen Deut besser als das Vielleicht-Schönste, sondern verriegelte im Gegenteil den letzten Notausgang auf der Flucht vor diesem Vielleicht-Schönsten, so dass ich mich nun vom Vielleicht-Schönsten und Absolut-Wahrhaftigen eingekesselt fand, wie jemand, der ins Fegfeuer geworfen wird und im Fegfeuer erkennen muss, dass Himmel und Hölle sich nicht unterscheiden, weil sie beide gleichermaßen von dem einzigen Ort entfernt sind, an dem eine Abwehr des Vielleicht-Schönsten und Absolut-Wahrhaftigen möglich gewesen wäre. Das ist der vermaledeite Irrtum, dass man sich nach einer Auflösung sehnt, obwohl doch die Erde, da hatte Leibniz, wenn auch auf ganz andere Weise, recht, gerade deshalb die beste aller möglichen ist, weil sie sich in der Schwebe zwischen Himmel und Hölle befindet, weil sie beides sein kann, und deshalb keins von beiden sein muss. Aber genau diese Schwebe konnte ich nicht länger spüren. Das Vielleicht-Schönste hämmerte gegen das Absolut-Wahrhaftige an, und umgekehrt. Ich wollte nicht mehr Teil sein einer Welt, in der solch ein Unsinn verzapft wird, wenn es doch Kennzeichen der Welt ist, dass sie aus sich heraus unsinnig und ungerecht und niemals absolut und niemals wahrhaftig und vielleicht manchmal schön, aber niemals schön im Superlativ ist, sondern eben nur zufällig schön, schön wie schmerzfrei, schön, weil gerade einmal kein Unglück in Reichweite geschieht, das, was die Presse ja genau herunterspielen will, dieses Nebenbei-Schöne, das einfach geschieht und verklingt, weshalb sie, die Presse, einem beständig einhämmert, dass immer ein Unglück in Reichweite geschieht, permanent, von früh bis spät. Und während sie sich mit ausgestellter Empörung an dem Entsetzlichen weidet und versucht, ihr billiges Meinen in klingende Münze zu verwandeln, indem sie so tut, als habe die permanente Bekanntmachung des Unglücks in Reichweite eine tragende Bedeutung für das Leben jedes Einzelnen, laufen wir mit gebeugtem Nacken und der uns von außen aufgedrängten Frage, welchen Sinn unsere jämmerliche Existenz in Bezug auf das Unglück in Reichweite noch haben könnte auf einem uns vorgezeichneten Kreis, anstatt stehen zu bleiben und einen winzigen Schritt zur Seite zu machen, um den uns vorgezeichneten Kreis zu verlassen. Und obwohl es nur ein Schritt war, ein einziger Schritt, wollte mir dieser Schritt nicht mehr gelingen. Weshalb, kann ich Dir nicht sagen. War ich zu müde? Zu alt? Zu resigniert? Ich kann es Dir nicht sagen.

    Die Frage, was eine Erzählung ist, die scheinbar zwangsläufig zu der Frage führt, was Erzählen überhaupt ist und sein kann, ist eine Frage, die mich vom ersten Tag meines Schreibens an verfolgte und die ich über die Jahre und Jahrzehnte, die dieses Schreiben mittlerweile andauert, immer wieder zu verdrängen versucht habe, ohne sie je ganz abschütteln zu können. Sie erweiterte sich zu Beginn meines Klinikaufenthalts übrigens zu der Frage, was überhaupt das Leben ist, weshalb ich in den ersten Tagen, als man mich medikamentös noch nicht richtig eingestellt hatte, meinte, ich müsste nun, angefangen vom banalsten Zweifel bis hinauf zur existenziellen Krise, sämtliche Fragen klären, die sich mir in meinem bisherigen Leben einmal gestellt hatten und bislang unbeantwortet geblieben waren. Solch ein Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit müsste doch, so könnte man meinen, befreiend wirken. Nun ja, bei mir hatte es zur Folge, dass ich in eine seltsame Denkspirale geriet, die sich zu einem Drehschwindel auswuchs, in Verlauf dessen ich zeitweise glaubte, ohne dass ich mich noch rühren oder aufrecht sitzen konnte, die Lösung für meine Schreibhemmung gefunden zu haben, da ich in meinem Delirium der Auffassung war, ich müsste während des Schreibens lediglich das Blatt beständig drehen, um die einengende Linearität zu durchbrechen, die mich bislang daran gehindert hatte, eine passende Form für mein Erzählen zu finden. Als wäre ich auf eine ganz grundsätzliche Erkenntnis gestoßen, war ich für einige Stunden beglückt, endlich begriffen zu haben, dass sich nicht nur der Stift auf dem Papier, sondern gleichzeitig auch das Papier unter dem Stift bewegen muss, um ein uneingeschränktes Schreiben zu bewirken, ganz so wie sich ja auch die Erde unter uns bewegt, während wir uns auf ihr bewegen. Die groteske Lächerlichkeit dieses Einfalls kam mir ebenso plötzlich zu Bewusstsein, und ich fühlte mich wie jemand, der in der Diele seiner Wohnung steht, auf ein Blatt Papier in seiner Hand starrt und auf diesem Blatt seine Unterschrift erkennt, mit der er gerade den Kauf einer vierundzwanzigbändigen Enzyklopädie abgeschlossen hat, weil der Vertreter an der Tür es verstand, ihm eine Welt auszumalen, in der es nichts Begehrenswerteres gab als den Besitz genau dieser vierundzwanzigbändigen Enzyklopädie, und der nun spürt, kaum dass er die Tür geschlossen hat und die etwas eiligen Schritte des Vertreters im Hausflur verklingen hört, wie sich die vom Vertreter entworfene Welt auflöst und die Aussicht auf die nächsten zwei Jahre freigibt, in denen er Monat für Monat einen Kunstlederband dieser Enzyklopädie zugesandt bekommen wird, so dass er, abgesehen von den horrenden Kosten, erst in zwei Jahren etwas über die Zirbeldrüse in Erfahrung wird bringen können, die dafür sorgt, dass Melatonin zur rechten Zeit ausgeschüttet wird und einen erholsamen Schlaf bereitet, einen Schlaf, in dem es kurzzeitig gelingt, die Scham zu vergessen, die einen im Angesicht der eigenen Gedanken, Worte und Werke überkommt und nicht allein das Vergangene zweifelhaft erscheinen lässt, sondern auch alles zukünftige Handeln, da man sich nun selbst nicht mehr über den Weg trauen kann. Meine Exaltiertheit verwandelte sich umgehend in einen Stupor, der nur sehr zögerlich wieder abklang, ohne je ganz zu verschwinden, weshalb mich die grundsätzliche Skepsis, die mich seinerzeit überfiel, der Verdacht, um es einmal in aller Deutlichkeit zu sagen, nicht lediglich ein Versager, sondern schlicht und einfach ein Vollidiot zu sein, seitdem nicht mehr richtig verlassen hat.

    Du merkst an meinem antiquierten Beispiel mit der Enzyklopädie, dass ich mich gedanklich in einer untergegangenen Welt aufhalte, einer Welt, in der Bücher noch eine Bedeutung hatten und somit auch das Schreiben. Aber wie kann ich schreiben, wenn ich dem Schreiben nicht einen Wert zumesse, mag er auch noch so marginal und im Abgespult-Werden des Zeitenlaufs vernachlässigbar sein? Liegt hier überhaupt die Lösung der von mir zu einem Drama hochstilisierten privaten Farce? Kann ich nur allein deshalb keine vergangenen Zeiten heraufbeschwören, weil ich selbst aus der Zeit gefallen bin und als untauglicher Fremdkörper, noch nicht einmal als schädliches Bakterium, das einem Metabolismus schaden oder ihn gar zum Erliegen bringen könnte, einflusslos durch diese Welt schwebe, die mich wie nebenbei verdaut und unbemerkt wieder ausscheidet? So bleibt eben auch meine Kritik schal, weil sie nirgendwo mehr anzusetzen versteht, sondern sich in Beliebigkeiten verliert, verlieren muss, weil ich aufgehört habe, irgendwelche Interessen zu teilen, aufgehört habe, an irgendetwas teilzunehmen, von irgendetwas noch Teil zu sein. Warum ich mich dann nicht einfach zu einem weltabgewandten Solipsisten mache, der in seiner Klause sitzt und vor sich hin räsoniert? Ganz einfach, weil es mir dazu an Format fehlt. Dieses losgelöste, monadische Andere kann ich weder entwerfen noch selbst sein, weil mich die sentimentale Sehnsucht, »dazuzugehören«, nie ganz verlassen hat. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum ich in meinen Erzählstümpfen in die siebziger Jahre zurückgekehrt bin, als ich von der Welt noch nichts wusste, weshalb sie mir sämtliche Möglichkeiten zu bieten schien. Und weil ich immer noch nicht mehr von dieser Welt weiß, klammere ich mich weiterhin an unzureichende Lebensentwürfe.

    Oder ist das, was ich zu einem existenziellen, teilweise individuellen, dann wieder allgemeinen Problem einer untergehenden Generation und ihrer Zeit hochstilisiere, in Wirklichkeit völlig banal, muss jeder, der schreibt, erfahren, dass am Ende immer etwas anderes dasteht als das, was er zu verfassen vorgehabt hatte? Wird das Ziel letztlich immer verfehlt, so gibt es jedoch innerhalb dieses Verfehlens Unterschiede, etwa, indem trotz offensichtlicher Mängel das fertige Produkt als solches belassen und der Öffentlichkeit übergeben werden kann, weil die notwendigen Verbesserungen im nächsten Buch an einem verwandten Stoff vollzogen werden. Eine für den Schreibprozess sehr lohnende Praxis, die ich jedoch nie selbst habe anwenden können, da mich das Gefühl, kläglich versagt zu haben, unmittelbar einem anderen, neuen und möglichst weit entfernten Sujet in die Arme trieb, das ich auf gänzlich andere Art und Weise zu behandeln versuchte, um nur nicht an meine Schmach erinnert zu werden. Das hatte zur Folge – eine Erkenntnis, die mir erst spät, wahrscheinlich zu spät kam –, dass ich nichts dazulernte, mich folglich nicht entwickelte. Ich war wie jemand, der beim Schach scheitert und dann zum Damespiel, von dort zu Mühle und immer so weiter wechselt, bis er zuletzt bei Mensch-ärgere-dich-nicht angelangt ist und erkennen muss, dass er sämtliche Brettspiele hinter sich gebracht hat, ohne dabei grundsätzlich etwas an seiner Spielhaltung geändert beziehungsweise verbessert zu haben. Nun, da er nicht mehr weiter fliehen kann, muss er sich sein Scheitern eingestehen. In etwa so wie dieser armen Kreatur, wobei ich nicht weiß, ob es überhaupt professionelle Mensch-ärgere-dich-nicht-Spieler gibt, geht es mir, und was für diesen das Mensch-ärgere-dich-nicht, das ist für mich, nach Romanen, Theaterstücken, Essaybänden, ja, selbst einem Gedichtband und zwei Kinderbüchern, dieser Band mit Erzählungen.

    Du kannst und musst mir glauben – und bitte glaube mir, auch wenn ich mich wiederhole –, dass ich über die vergangenen Monate mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln versucht habe, wenn schon nicht ein Verhältnis mit, so doch zumindest eine Haltung zu meinem Stoff und seiner Form zu erlangen. Nach vielen Kämpfen war ich, erschöpft und von meinem eigenen Anspruch gedemütigt, schließlich zu jedem Kompromiss bereit, doch selbst für den faulsten aller Kompromisse fehlte mir eine Grundlage, eben jene Fähigkeit, die ich versäumt hatte, mir im Laufe meiner Arbeitsjahre anzueignen. Ich musste feststellen, dass ich einen Kompromiss, wie ich ihn beinahe täglich im Umgang mit anderen Menschen eingehe, meiner eigenen Arbeit gegenüber nicht eingehen konnte. Ja, das mag in Deinen Ohren wieder nach dieser von Dir zu Recht gescholtenen Haltung klingen, die Du das eine Mal als »überzogenen Anspruch«, dann wieder als »aufgesetzte Radikalität« bezeichnet hast, ohne dabei, und bitte verstehe das nicht als Vorwurf, die Not zu erkennen, die mich dazu trieb und immer weiter dazu treibt, entsprechende Phrasen zu benutzen. Was ich damit sagen will, die von Dir zu Recht kritisierten Äußerungen waren keineswegs Darlegungen genau durchdachter Analysen und daraus abgeleiteter Schlussfolgerungen, sondern im Gegenteil Ausdruck meiner Unfähigkeit, das Problem selbst in Worte fassen zu können. Oder, um es doch noch einmal zu versuchen: Ich bin, so glaube ich zumindest, auf das dunkle Geheimnis der Literatur gestoßen, den Grund für das Scheitern so vieler Existenzen, dass nämlich die Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte, weitverzweigte Lebensgeschichten und komplexe Theorien zu formulieren, bedauerlicherweise nicht die Fähigkeit miteinschließt, wahlweise die eigene Bedürftigkeit oder eigene Unfähigkeit, die sich auf gewisse Weise beide bedingen, artikulieren zu können. Es ist erschreckend simpel: Ein Romancier kann ein Familienleben schildern, ohne eine Familie gründen zu können, ein Philosoph kann über Charakterwandel nachdenken, ohne zu einer Selbsttherapie fähig zu sein, ein Soziologe die Liebe analysieren, ohne je geliebt zu haben, und so weiter. Und dieses Geheimnis ist keineswegs deshalb dunkel, weil es so geheim wäre, sondern es ist so dunkel, weil es nahezu offensichtlich ist, dennoch immer wieder aufs Neue von allen Beteiligten verschwiegen werden muss, weil sonst das letzte simulierte Fädchen des bereits fadenscheinigen Konstrukts unserer Weltenordnung reißen und uns damit die letzte, wenn natürlich auch lediglich imaginierte Möglichkeit zur Orientierung rauben würde. Der Literat erscheint wie eine der symbolischen Gestalten aus der antiken Mythologie, die für die Fähigkeit, über alles schreiben zu können, etwas hatte opfern müssen, was sich am Ende als noch wertvoller als das dafür Erhaltene herausstellen würde, nämlich die

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