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ausgeSPACKT!: Neustart mit Hindernissen
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eBook574 Seiten6 Stunden

ausgeSPACKT!: Neustart mit Hindernissen

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Über dieses E-Book

Folgenschwer verzockt! Aus heiterem Himmel sitzt Bertram auf der Straße. Kristina hat die peinlichen Aktionen ihres Mannes gegen eine abstumpfende Gesellschaft gründlich satt und setzt ihn vor die Tür. Vorübergehend kommt er bei seinem Freund Paul unter. Missverstanden, jedoch kampfbereit, nimmt er die Herausforderung an. Für Kristina gelobt er, ein besserer Mensch zu werden. Doch wie lange würde dieser Plan aufgehen, der ihm so sehr gegen das eigene Naturell geht? Und ist besser wirklich besser, solange noch offene Rechnungen im Spiel sind? Seine neuen Mitbewohner haben ihre ganz eigenen, skurrilen Absichten mit dem Neuzugang. Mit aller Macht will Bertram dem Reiz widerstehen, in alte Gewohnheiten zurückzufallen, bis es Kristina selbst ist, die ihn ein weiteres Mal aus der Bahn wirft. Bertram, selbst ernannter Entspacker, packt es an und gestaltet sich seine Welt ein Stück weit erträglicher. Das egoistische Verhalten der Menschen in ihrer ganzen Oberflächlichkeit lässt ihm schließlich keine Wahl. Eine erfrischende Geschichte über Freundschaft, Gerechtigkeit, enttäuschte Liebe und Hoffnung, garniert mit einem unterhaltsamen Schlagabtausch zwischen unverbesserlichem Gutmenschentum und debilen Dummschwätzern.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum4. März 2021
ISBN9783347070974
ausgeSPACKT!: Neustart mit Hindernissen
Autor

Thorsten Haker

Thorsten Haker, Jahrgang 1966, gebürtiger Hamburger, ist seiner geliebten Heimat bis heute treu geblieben. Zusammen mit Frau und Katze lebt er im grünen Teil des Hamburger Westens. Weit genug draußen, um die Ruhe zu genießen und nah genug am Zentrum seiner sportlichen Leidenschaft, dem Stadion des HSV. Vor rund 35 Jahren begann er seine Ausbildung zum Speditionskaufmann. Der Beruf, den er in einem global tätigen Logistikkonzern trotz aller neuzeitlichen Widrigkeiten noch immer und überwiegend mit Freude und Begeisterung ausübt. Die Lust am Schreiben, und damit der Wunsch, seine Ideen und Gedanken Gestalt annehmen zu lassen, waren schon in früher Jugend erkennbar. Reelle Absatzchancen für das Werk eines Neunjährigen hingegen waren damals wohl noch geringer als jene eines heutigen Mittfünfzigers. So vergingen weit über 30 Jahre des Lauerns auf den richtigen Moment, der 2013 erreicht schien. Geheim gehalten vor Freunden, Kollegen und Familie veröffentlichte er seinen ersten Roman. Die „Entspackungskur“ (Windsor-Verlag, kurz nach Veröffentlichung unter ominösen Umständen von der Bildfläche verschwunden) ist ein satirischer Ausdruck seiner leidvollen Erfahrungen mit einer sich in intellektueller und sozialer Hinsicht selbst abschaffenden, egoistischen Gesellschaft. Ein zynisches, ein ehrliches Werk zwischen Gut und Böse, stets mit einem ironischen Augenzwinkern, nicht nur zwischen den Zeilen. Seine fiktive, in Teilen aber durchaus autobiografische Hauptfigur, Bertram Geuse, steht auch in seinem 2021er-Nachfolgewerk „AUSGESPACKT! Neustart mit Hindernissen“ im Mittelpunkt des Geschehens. Ohne als direkte Fortsetzung verstanden sein zu wollen, beschreibt der Roman höchst amüsant, bissig und wortgewandt wie immer die weitere Entwicklung seiner Leitfigur Jahre danach, unabhängig vom Geschehen der vorherigen Geschichte. Frei nach dem Motto: „eigentlich wollte ich aufhören, gemein zu sein, aber die anderen müssten erst einmal aufhören, dumm zu sein“.

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    Buchvorschau

    ausgeSPACKT! - Thorsten Haker

    Kapitel 1

    „Nein!"

    Ich kreischte vor blankem Entsetzen.

    „Doch!", erwiderte sie bockig.

    „Nein!"

    „Oh, doch, doch, doch!"

    „Das kannst du doch nicht machen."

    Sie konnte es wirklich nicht machen. Dessen war ich mir sicher, aber ich kannte diesen entschlossenen Blick und er beunruhigte mich.

    „Wieso sollte ich das nicht machen können? Siehst du doch. Es ist meine Wohnung, wie du weißt, und ich habe dich immer und immer wieder gewarnt. Lass es, sagte ich. Ich habe dich angefleht, endlich wieder normal zu werden. Das hat doch alles keinen Sinn. Nimm doch die Welt so, wie sie ist. Du kannst sie nicht verbessern, du kannst die Menschen nicht verändern. Du nicht. Vor allem du nicht."

    „Normal werden. Was soll das denn heißen, bitte? Das ist doch aber lächerlich jetzt, mal ehrlich."

    „Nein, du bist lächerlich. Du machst dich lächerlich und vor allem machst du uns lächerlich. Meine Entscheidung steht. Wenn es unerträglich wird, muss man manchmal eben unbequeme Wege gehen. So geht es jedenfalls nicht weiter. Ich kann und ich will das auch nicht mehr. Zum Monatsende bist du hier bitte raus. Ich kann dich im Moment nicht ertragen."

    „Aber das ist ja schon am Montag, genauer gesagt heute in einer Woche."

    „Na, immerhin dieser Teil deines Gehirns funktioniert noch. Herzlichen Glückwunsch, dann ist ja noch nicht alles verloren. Ja, ab Montag kannst du so vielen Leuten auf den Senkel gehen, sie verbessern, wie du möchtest. Du kannst sie nach Lust und Laune entspacken, wie du es nennst, wenn es dich nur glücklich macht. Was für ein Schwachsinn. Nur, ich werde dann nichts mehr damit zu tun haben. Ich bin dann raus!"

    „Wie, du bist dann raus? Moment mal. Nur, dass ich das richtig verstehe, versuche ich, die Situation scherzhaft zu entspannen und hakte grienend nach: „Ich denke, ich bin es, der hier ausziehen soll?

    „Bertram! Nicht lustig!"

    An Grisus scharfem Ton und ihrer hochgezogenen Braue über dem linken Auge, in dem weder Glanz noch Freude zu sehen waren, konnte ich erkennen, dass ihr heute nicht der Sinn nach meinem eigenartigen, leicht krankhaften Sinn für Humor stand, wie sie es regelmäßig bezeichnete. Andere Frauen, aber nicht nur die, eher Menschen im Allgemeinen, fänden für diesen Humor sicherlich ähnlich diffamierende Bezeichnungen. Die meisten meiner Mitmenschen konnten sich eher weniger an meinen befreienden Aktionen, an meiner Gesinnung insgesamt, erfreuen. Nicht im Ansatz so sehr, wie sie mich selbst glücklich machten und innerlich befriedigten.

    Was sollte denn falsch daran sein, Dummköpfen auf mehr oder weniger subtile Art aufzuzeigen, dass sie dumm waren? Wenn es doch so war. Warum fehlte ihr denn jegliches Verständnis, wenn ich Leuten, die mir tagtäglich auf die Nerven gingen, mit mindestens gleicher Wucht zumindest vorübergehend Schaden zufügen wollte? Wie du mir, so ich dir. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Einfach fair. Warum durften die mir auf der Nase rumtanzen, und wenn ich es dann war, der zum Tanz bat, ging das Gemecker los, dass ich ihnen allzu ungelenk über die Füße latschte.

    „Das heißt, es hat sich jetzt ausgetanzt, oder wie?"

    „Wenn du es so ausdrücken möchtest, ja. So kann man das sehen. Zumindest gebe ich dir ausreichend Zeit und Gelegenheit, mal in aller Ruhe darüber nachzudenken, was du den Menschen mit deinem blödsinnigen Gehabe antust. Und was du mir antust. Ja, auch und gerade mir, und dann …"

    „Ach komm, Grisu. Dich habe ich nicht entspackt. Noch nie! Zumindest nicht in größerem Rahmen, das schwöre ich."

    „Grisu, Grisu, es hat sich längst ausgrisut. Mein Name ist Kristina. Das war er im Übrigen immer schon, falls du es vergessen hast. Und es wäre ja wohl auch noch schöner, wenn du das auch bei mir gemacht hättest. Du kannst doch nicht allen, die dir in irgendeiner Weise querkommen, deinen Stempel aufdrücken und sie bestrafen. Wofür? Weil sie anders sind? Ich sag’s dir: weil es dir und deinem Dickschädel nicht in den Kram passt, wie sie sich verhalten. Du kannst denen, so verschieden sie alle sind, nicht alles in barer Münze heimzahlen wollen, was sie dir in deiner krankhaften Wahrnehmung Fürchterliches angetan haben. Manchmal geht es dabei ja nicht einmal um dich, noch schlimmer. Du kannst einfach nicht …"

    „Wieso denn nicht? Und ob ich das kann", zischte ich sie lauter an, als ich es wollte, woraufhin sie kurz zusammenzuckte.

    Und doch, sie konnte tatsächlich, weil es wirklich ihre viel zu kleine Wohnung war, in der wir von Anfang an lebten und aus der wir aus Bequemlichkeit niemals herausgekommen waren, auch, wenn wir uns immer wieder vorgenommen hatten, uns nach etwas Größerem und Komfortableren umzusehen. Das Platzproblem hatte sie nun auf ihre ganz eigene Art und Weise für sich gelöst.

    Ich verstand einfach nicht, wie sie so verbohrt sein konnte. Wie konnte sie es wagen, meine Ideologie dermaßen in den Dreck zu ziehen?

    „Natürlich kann ich das, rebellierte ich, „und ich muss das einfach tun. Man darf solche … solche Kreaturen nicht wirken lassen, wie sie es wollen, man muss auch mal …

    „Ach, aber die müssen alle sein, wie du es willst, oder wie? Du bist doch nicht der liebe Gott. Bertram, ich sage dir ganz ehrlich, dass ich langsam ein wenig Angst vor dir habe. Vielleicht bin ich bisher auch nur deshalb von dir verschont geblieben, weitestgehend, weil ich stets unter höchster Vorsicht versucht habe, deinen irrwitzigen Vorstellungen an die Gesellschaft zu genügen. Und das nur, um bloß nicht in dein Raster zu fallen. Das ist sehr, sehr mühsam manchmal, das strengt an. Ich brauche das nicht. Ich möchte so sein können, wie ich bin. Mit all meinen Fehlern und Angewohnheiten, ohne Angst haben zu müssen, dass du dieser überdrüssig wirst und glaubst, mir zeigen zu müssen, wie ich zu ticken habe."

    „Unsinn. Dich doch nicht. Du bist doch echt okay."

    „Ernsthaft jetzt? Ich bin okay? Ich bin, warte, noch mal jetzt. Ich bin wirklich ‚okay‘, sagst du?"

    Ihr irrer Blick sprach Bände. Zugegeben, ich hatte schon bessere Texte.

    „Ja, absolut", bestätigte ich dennoch gönnerisch. Einmal Gesagtes war hinterher schwer zu revidieren.

    „Du bist seit Ewigkeiten mit mir zusammen und du findest mich ‚okay‘?"

    „Total. Niemanden finde ich okayer als dich. Und du weißt, ich finde sehr viele Leute alles andere als okay. Die allermeisten finde ich richtig bescheuert, aber mal so richtig doof."

    Grisu bzw. Kristina, wenn sie es denn so lieber hatte, stemmte ihre Hände in die Hüfte und verdrehte die Augen. Wenn Wut sichtbar dampfen könnte und wenn sie ein Pferd wäre, hätte ich dunkle Schwaden durch ihre weiten Nüstern aufsteigen sehen können. Doch seit sie nach langen Jahren erst kürzlich mit dem Rauchen aufgehört hatte, war von der Bedeutung ihres Kosenamens lediglich das Fauchen geblieben. Den niedlichen, feuerspeienden Comic-Drachen, der mich damals neben einem klangverwandten Wortstamm zur Namensgebung inspiriert hatte, gab es nicht mehr. Sie war zu einem giftigen, nicht rauchenden und dauernölenden Kläffer mutiert, der immer mehr den Drang verspürte, sich in mich zu verbeißen.

    Sie wartete ab, ob ich noch etwas zu sagen hätte, doch ich schwieg. Was wollte sie denn jetzt noch von mir hören? Ich war vor den Kopf gestoßen und wütend. Tief durchatmend und resignierend wiederholte sie in leisem Ton den Wochentag, an dem sich unsere Wege trennen sollten.

    „Montag. Ich meine es ernst."

    Dann verließ sie die Wohnung und knallte die Tür hinter sich zu.

    Natürlich hätte ich ihr sagen können, dass sie mir alles bedeutete, wenn nicht mehr. Aus tiefstem Herzen. Weil es so war, weil es immer so sein würde. Natürlich wusste ich, dass es dieses Bekenntnis oder ein ähnliches gewesen wäre, welches mein lapidares „okay" zumindest rhetorisch hätte aufwerten können, das mir irgendwie falsch rausgerutscht war. Nur war ich der Überzeugung, dass ein Zeitpunkt nicht hätte falscher sein können als gerade eben. Das Urteil über mich war bereits gefällt. Ich kannte meine Frau gut genug, um zu wissen, dass ein jämmerlicher Rettungsversuch ihre Entscheidung nicht grundlegend verändert hätte. Offenbar hatte ich den Bogen überspannt, ihr Verständnis überreizt. Hier ging es jetzt für mich erst einmal darum, meine Würde zu behalten. Dass ich eine solche überhaupt besaß, hätte Kristina sicherlich in Abrede gestellt. In ihren Augen war ich ein unzumutbares Scheusal und die wirklich blöde Sache von letzter Woche war dann wohl der eine Tropfen zu viel im Fass. Die Möglichkeit, dass dieser ekelhafte Typ aus der Nachbarschaft sich gleich bei der Hausverwaltung beschweren würde, diese dann bei Kristina, hatte ich unterschätzt. Zu dumm aber auch, dass man mich beobachtet hatte, wie ich eine Ladung Bauschaum in Nachbars Briefkasten versprüht hatte. In meinen Augen eine angemessene Reaktion für sein flegelhaftes und rücksichtloses Falschparken vorm Haus.

    Das letzte bisschen Verständnis, das man für eine von der Kette gelassene Bestie wie mich aufzubringen bereit war, war dann wohl jetzt aufgebraucht. Game over. Bertram Geuse, das unberechenbare Monster. Wer Gefallen daran fand, bitte. Hier konnte es in auswegloser Situation nur noch darum gehen, den letzten Hauch von Ehre zu verteidigen und nicht als Jammerlappen dazustehen. Immerhin stand ich mit allem, was mich ausmachte, hinter jeder meiner Aktionen. Keine Reue, ich war mit mir selbst im Reinen. An diesem Punkt fühlte ich mich unfähig, einzuschätzen, ob ich in der Lage sein würde, ihr zu Liebe meine Gesinnung einzudämmen oder sogar komplett abzulegen. Darum ließ ich es geschehen. Gefährliches Glatteis.

    Wirklich überraschend kam Kristinas Entscheidung tatsächlich nicht. Unsere Streitereien diesbezüglich hatten sich zuletzt gehäuft, davor konnten wir beide die Augen nicht verschließen. Schon seit geraumer Zeit ahnte ich, dass mein Zug in Kürze abgefahren sein könnte, wenn ich nicht in meinem Ansinnen nachließe. Ein Zug ins Nirgendwo. Ihm hechelnd, schwitzend, mit heraushängender Zunge hinterherlaufen zu wollen, wohlwissend, dass ich jämmerlich zusammenbräche, nein, die erniedrigende Schmach wollte ich mir ersparen. So gab ich auf, als ich den Kampf für mich als verloren betrachtet hatte. Jetzt brauchte ich Zeit und womöglich einen langen Atem. Eine vorübergehende räumliche Trennung, und lediglich von einer solchen ging ich einfach mal aus, würde uns beiden sicherlich guttun.

    Kapitel 2

    Der Ursprung meiner sehr eigenen Gesinnung musste bei näherer Betrachtung wohl in meiner frühen Kindheit zu suchen sein. Zu dem Schluss kam ich zumindest, als ich mich unerwartet gezwungen sah, mich mit meiner Person und der neuesten Entwicklung auseinanderzusetzen. Mühsam versuchte ich mich zu erinnern. Schließlich glaubte ich den Schlüssel gefunden zu haben. Einen Jungen namens Daniele hielt ich für einen angemessenen Prügelknaben, und eine leichte Übelkeit überkam mich, als die Erinnerung wiedergekehrt war.

    Daniele war ein kleiner Schwachkopf. An harten Fakten wie diesen gab es einfach nichts zu beschönigen. Vor meinem geistigen Auge sah ich ein rotztriefendes Schmuddelkind. Wenn es auch absurd war, war ich mir sicher, dass er noch immer nahezu unverändert aussähe. Sein dümmlicher Blick von damals hatte sich mir für alle Ewigkeit eingebrannt.

    Es dauerte damals sehr lange, bis ich endlich komplett realisiert hatte, dass es zu einer Daniela, ein Mädchenname, der mir geläufig war, ein zugelassenes männliches Pendant gab. Einen Namen, der wie Daniela klang, aber zu meinem Entsetzen einem Jungen gegeben wurde. Weil ein Mädchen aus dem Kindergarten Daniela hieß, glaubte ich, mich ausreichend auszukennen, und somit war diese Namensgebung für mich unzulässig und falsch. Dass ein kleiner Junge mit einem Mädchennamen in unserer Nachbarschaft lebte, wollte mir einfach nicht in meinen kindlichen Kopf.

    Schon allein seines Namens wegen mochte ich Daniele nicht. Italiener mochte ich auch nicht besonders, weil die sich diesen Mist ausgedacht hatten. Pizza und Spaghetti aber mochte ich immer schon. Das machte ihren Irrsinn bei der Namensgebung und meine Verachtung aber kaum wett. Meine Sandkiste im „Spieli", wie unser Spielplatz kurz hieß, so wie wohl jeder andere auch, auch die liebte ich. Bis zu diesem einen Tag, als man Daniele zu mir in mein sandiges Territorium setzte, ungefragt natürlich. Seine Familie wohnte damals auf der gleichen Ecke wie meine Eltern und ich, eine Straße weiter, in einem verwahrlosten Altbau. Tatsächlich aber war es nur Daniele mit seiner Mutter. Der Vater wäre abgehauen, hatten mir meine Eltern erzählt. Darauf hatte ich mir schnell meinen eigenen Reim gemacht und es auf seinen schrägen Namen geschoben. Vermutlich wäre ich als Erwachsener auch eher abgehauen, als einen Sohn haben zu müssen, der einen Mädchennamen trug.

    Etwa im Alter von fünf Jahren müsste alles begonnen haben. Das zumindest ergab meine Kalkulation unter Einbildung kindlicher Frühintelligenz, schneller Lernfähigkeit und der Tatsache, dass ich zwar windelfrei, aber noch nicht schulpflichtig war. Fortan teilte ich mein Leben nicht mehr nur mit meinen Eltern und einer Schar weiterer, nerviger und für mich unbedeutender Erwachsener, die uns besuchten. Später dann auch mit meinem Bruder, für den anfangs die gleichen Attribute galten, sondern gezwungenermaßen auch mit Daniele, irgendwie. Sprachlich war ich meiner, vor allem aber Danieles Zeit, frühzeitig weit voraus und ich konnte mich bereits ganz passabel artikulieren, während Danieles klägliche Sprechversuche eher klangen wie fiepender Dauerschluckauf. Und plärren konnte er, laut und schrill. Irgendetwas aber konnte ja jeder, meinte mein Vater in seiner gütigen Art. Verstanden hatte ich den Spott darin damals nicht. Zugegeben, Daniele war wohl circa ein Jahr jünger als ich. Nach Auffassung meiner Eltern machte mich das vertretungsweise zu so etwas wie einem Sandkisten-Erziehungsberechtigten für die Zeit, in der man den kleinen Nervbolzen an meine Seite gesetzt hatte. Dass dieses unfreiwillige Amt ausschließlich Nachteile für mich hätte, ahnte ich da noch nicht. Eigentlich wollte ich nur im Sand spielen. Alleine. Burgen bauen, Tunnel und Straßen. Brücken konnte ich noch nicht, die stürzten immer ein. Insgesamt sah ich mich perspektivisch trotz dieser Misserfolge besser im städtebaulichen als im pädagogischen Bereich aufgehoben. Diese kühnen Pläne wurden an dem Tag jäh durchkreuzt. Sowohl durch die elterlichen Absichten, Daniele und mich zusammenspielen lassen zu wollen, als auch durch Daniele selbst.

    Neben seinen offenkundigen sprachlichen Startschwierigkeiten waren es die motorischen Fähigkeiten, die bei Daniele vollkommen unausgeprägt waren. Er war vom Tunnelbau so weit weg wie ich davon, diese Nervensäge mögen zu können. Ständig verbuddelte er Matchbox-Autos und allerlei Überraschungseier-Gedöns im Sand und fand sie einfach nicht wieder. Wirklich danach gesucht hatte er nicht. Er war ein Aufgeber, kein Kämpfer. Einfach ein kleiner Drecksack, wie gesagt. Nach dem verschütteten Spielzeug zu suchen, war nicht sein Ding. Er bevorzugte einen komplett anderen, einfacheren Lösungsansatz.

    Es war nämlich typisch für ihn, sich kurzerhand im fiependen Kriechgang im ordentlich aufgereihten und stets abfahrbereiten Fuhrpark seines zugeteilten Kastenaufsehers nicht nur umzusehen, sondern sich auch dreist und ungefragt darin zu bedienen. Ein stets kurzer Triumph. Es dauerte nie lange, bis Daniele dann auch mein Eigentum wahlweise in den unergründlichen Tiefen des Sandes versenkte, oder es sich, als ich es zurückhaben wollte, kurz entschlossen in den Mund steckte, bis er daran zu ersticken drohte. Noch wirkungsvoller war seine Idee, sich vor meinen ungläubigen Augen das Spielzeug in die Windel zu schieben und mich rotzfrech anzugrinsen. In eine Windel, die zu allem Überfluss, nomen est omen, meistens voll war. Es stank bestialisch, weil seine Mutter ihre eigenen Aufgaben in meiner mir auferlegten Aufsichtspflichtphase vernachlässigte.

    Die frönte derweil mit den wenigen, vermutlich alleinerziehenden Männern, die sich um den Spielplatz tummelten, bevorzugt einem ausgiebigen, aber aussichtslosem Balzverhalten. Danieles Mutter war nicht nur optisch ausgesprochen unansehnlich, sofern ein etwa Fünfjähriger das überhaupt beurteilen konnte. Vor allem aber, da war ich nicht von abzubringen, würde niemand eine Frau haben wollen, die die Mutter eines Daniele war. Einem Mädchenjungen, der fiepte, heulte, stahl und stank.

    Ich flehte meine Eltern an, nicht mehr mit Daniele spielen zu müssen und erfand die abenteuerlichsten Geschichten, um meiner eigentlich geliebten Sandkiste fernbleiben zu dürfen. Vergebens. Sie waren wohl zu sehr abenteuerlich und meine Absichten zu durchschaubar, befürchtete ich. In den Ohren meiner Eltern klangen sie wohl zu süß und unbedarft, als dass sie Früchte trügen. Dann nahm ich mir vor, mehr Gelassenheit walten zu lassen, ihn einfach nicht zu beachten. Ich müsste einfach besser auf meine Autos und meine sandigen Infrastruktur-Entwürfe achtgeben. Doch Daniele machte mir auch hier einen Strich durch die Rechnung. In einem unaufmerksamen Moment, vermutlich tüftelte ich gerade sehr konzentriert und erdnah an der Statik für mein neues Brückenprojekt, passierte es. Derart fokussiert konnte ich ihm keine Beachtung schenken und so hatte sich Daniele plötzlich über mir aufgebaut und grinste mich listig an. Zu spät erkannte ich, dass dieses kleine Ferkel sich unbemerkt sein Höschen und die Windel heruntergenestelt hatte und sich fröhlich grienend vor meinen Augen auf seine Füße und in meinen Sandtunnel erleichterte, in dem noch mein linker Arm feststeckte.

    Das war dann wohl meine erste bittere Erfahrung asozialen Verhaltens. Es war einfach ekelhaft und das fand ich nicht nur, aber auch, weil ich selbst, wie erwähnt, seit einigen Wochen trocken war. Alleine dadurch fühlte ich mich Daniele in evolutionärer Hinsicht klar im Vorteil. Seine Mutter näherte sich, angestachelt durch meinen spontanen Hysterie-Ausbruch, in gemächlichem Tempo. Sie warf mir einen verächtlichen Blick zu und zog dem kleinen Idioten seine nassen, sandigen Sachen wieder über. Sie schleifte ihn, mehr dass er lag, als dass er lief, aus der Sandkiste und pöbelte fortwährend, dass sie den Tag bereute, an dem er geboren wurde. Da tat er mir zum ersten und einzigen Mal wirklich leid.

    Je mehr ich mich bemühte, Danieles Infantilität, von der ich mich selbst längst als entrückt betrachtete, ignorieren zu wollen, um mein Ding durchzuziehen, umso mehr fühlte der sich offenbar von mir provoziert. Von da an zeigte er mir die ganze Grausamkeit eines Kindes, das niemand lieben konnte. Dessen war ich mir damals jeden Tag ein kleines Stück sicherer. Heute sah ich die Sache differenzierter. In Nuancen zumindest.

    Daniele merkte sehr schnell, dass es mir Schwierigkeiten bereitete, Ruhe zu bewahren, wenn er mir mein Zeug entwendete, um es gleich darauf aus der Sandkiste zu schleudern. Nicht ohne vorher absichtlich darauf gesabbert zu haben. Ein harmonisches Miteinander war von einem Tag auf den anderen nicht mehr möglich. Kaum hatte ich ein glänzendes Bauvorhaben erfolgreich in die Tat umgesetzt, rollte die halbitalienische Miniwalze darüber hinweg und zerstörte ein ums andere Mal die Ideen zu meiner Stadt der Zukunft. Lautstarke Proteste meinerseits verhallten stets im Nichts. Wenn ich das elterliche Schiedsgericht anrief und eine überfällige Entscheidung getroffen haben wollte, die zweifelsfrei zu meinen Gunsten auszufallen hatte, passierte ebenso nichts. Von der Trulla, die sich Mutter nannte, nämlich der von Daniele, war nichts anderes zu erwarten, das hatte ich gelernt. Oft fragte ich mich, ob sie womöglich einen ähnlich dämlichen Namen trug wie ihr Sohn. Nach ein paar Tagen nannte ich sie in meiner Vorstellung Frauke. Den Namen hatte ich im Fernsehen gehört und fand ihn schrecklich. Manchmal nannte ich auch Daniele Frauke, um ihn zu ärgern. Frauke war noch schlimmer als Daniele.

    Auch von meinen Eltern wurde trotz eindeutiger Beweislast, nämlich einem Trümmerfeld im Sandkasten, stets gegen mich entschieden. So war zumindest mein Empfinden, jedenfalls fiel ein Urteil niemals eindeutig zu meinen Gunsten aus. Später würde man diese erzieherische Unentschlossenheit mit dem Wort Vergleich bezeichnen und alle würden sich freuen, außer dem natürlich, der den Schaden hatte.

    Die Begründungen waren so niederschmetternd wie richtungsweisend für meine Zukunft. Warum ich nicht besser aufgepasst hätte und ich wäre doch wohl alt genug, um wegen solcher Lappalien nicht stets einen solchen Aufstand zu machen. Immerhin wäre ich ja der Vernünftigere und Daniele viel jünger als ich. Inwiefern man als Fünfjähriger sehr viel älter sein konnte als ein Daniele, ab wann man Vernunft von einem kleinen Kind erwarten konnte, erschloss sich mir schon damals nicht. Ich heulte, ich pöbelte, ich schmiss mich auf den Boden. Im Endstadium meiner kindlichen Theatralik stopfte ich mir sogar Sand in den Mund. Das hatte ich mir von Daniele abgeguckt. Was das hätte bewirken sollen, war mir aber nicht klar. Ich wusste nur eines: Ich wollte mir Justitias Wohlwollen unter allen Umständen sichern. Doch vergebens, sie war damals schon erblindet.

    Vehement plädierte ich auf Danieles sofortiger Ausweisung, zunächst lediglich aus meiner Spielkiste, weil mir anderweitige Ausweisungen nicht bekannt waren und ich von „Political Correctness" noch nichts gehört hatte. Er sollte einfach nur aufhören, mir mein Leben zu verpfuschen. Wer wusste schon damals, was das Leben aus einem machte, wenn man in seiner zarten Blütezeit von sabbernden, destruktiv veranlagten Hosenpissern geprägt wurde und einem niemand schützend zur Seite stand. Wenn sich niemand für Gerechtigkeit einsetzte. Ich zumindest wusste es nicht. Woher auch?

    Als mein Vater mich aufgrund meiner nicht nachlassenden Starrköpfigkeit am gleichen Abend zum zweiten Mal in jener Woche ohne Abendessen ins Bett schickte, wusste ich, dass ich diese Angelegenheit selbst in die Hand nehmen musste. Operation „Quäle Daniele" war eingeläutet.

    Am nächsten Tag, gerade hatte Daniele voller Lust meine bis dahin wohl gelungenste zweispurige Eimerchen-Überführung stampfend zum Einstürzen gebracht, war es so weit. Dieses Mal aber war ich gut vorbereitet. In den letzten Tagen hatte ich viel Zeit außerhalb des Sandkastens verbracht. Ich spürte, dass sich eine glorreiche Epoche meiner Adoleszenz dem Ende näherte. Langsam begriff ich, dass ich von einem kleinen Jungen zu einem größeren Jungen mutierte. Das machte mich stolz und ein bisschen erwachsen. Manchmal bedurfte es in seinem Dasein wohl eines Danieles, um zu erkennen, dass es ein Leben außerhalb des Sandkastens gab. Ohnehin schien mir der Boden darin irgendwann verseucht und der Sand ekelte mich an. Die Frage, wie viele Generationen vor mir ähnliche Erfahrungen gemacht hatten wie ich, ohne dass jemals eine Reinigung erfolgt war, stellte ich mir erst sehr viel später. Jedenfalls hatte ich seit längerer Zeit eine Gruppe Jugendlicher im Visier. Sie hielten sich in fußläufiger Nähe auf und hatten sich eines Tages einen Spaß daraus gemacht, sich den Schwächsten ihrer Gruppe herauszupicken und ihn einer mir bis dahin unbekannten Art spielerischer Folter zu unterziehen.

    Aus meinem sicheren Versteck heraus, hinter einem stacheligen Busch, der weitläufig an den Spieli grenzte, konnte ich sehen, wie der Größte, offenbar der Anführer der Gruppe, sich unter lautem Gejohle der anderen an einem Busch zu schaffen machte. Er trug dünne Handschuhe und pflückte so viele der roten Früchte ab, bis er eine Hand voll hatte. Dann zerdrückte er sie und zerrieb den Inhalt zwischen seinen Fingern. Während zwei seiner Freunde ihr ängstlich winselndes Versuchskaninchen gewaltsam im Zaum zu halten versuchten, schob der Chef ihm das T-Shirt nach oben. Genussvoll und lautstark von seinen Freunden angeheizt, verrieb er den Inhalt seiner Hände auf dem nackten Rücken des fortan wild zappelnden und noch lauter schreienden Jungen. Kurz war ich versucht, ihm zur Hilfe zu eilen. Ohne aber zu wissen, was genau dort passierte und ob er diese Behandlung nicht sogar verdient hatte, ließ ich es dann bleiben.

    Am gleichen Abend erzählte ich aufgeregt und wissensbegierig meinen Eltern davon und erfuhr von ihnen das Geheimnis der Hagebutte. Der darauf folgende Tag war ein sehr schöner. Gleichzeitig bis heute der letzte Tag, an dem ich Daniele gesehen hatte. Vorgesorgt hatte ich diesmal auch. Eine Tüte Kekse aus der Speisekammer nannte ich an jenem Abend mein Abendessen. Hätte ich nicht irgendwann die elterlichen Sanktionen durchschaut, wäre ich wohl eines Tages verhungert.

    Kapitel 3

    Dinge und Verhaltensweisen, vor allem Menschen, so hinzunehmen, wie sie nun mal waren, fiel mir fortan nicht leicht. Darin lag wohl das Problem. Tatsächlich hatte ich es mir über die Jahre hinweg mit so ziemlich jedem verdorben, der sich nicht so verhielt, wie es in mein enges Raster passte. Mit nahezu jedem aus dem unmittelbaren Dunstkreis legte ich mich an, wenn er mir in einem reizbaren Moment in die Quere kam und wenn er sich in meinen Augen durch idiotisches Verhalten für eine artgerechte Bestrafung qualifiziert hatte.

    Diese Leute gehörten entspackt, ihnen gehörte der Zahn gezogen. Die üble Wurzel gerupft, die Stirn gelüftet oder das Hirn gefaltet. Wer sich mir durch stumpfe Plattitüden und nervenzehrendes Getue in den Weg stellte, musste mit einer entsprechenden Reaktion rechnen. So einfach.

    Wer wollte mir widersprechen, dass es nur richtig wäre, den uneinsichtigen Wiederholungstätern, die zum Beispiel zum Bleistift sagten, einen solchen unaufgefordert ins Auge zu rammen, bis er seine volle Wirkung darin entfaltete? Zwischen einem Idioten und einem Zyklopen lag ja oftmals nur eine dünne Bleistiftspitze.

    Genauso diese stupiden Sack-Reis-in-China-Zitierer, die unverbesserlichen Glühstrumpf-Wünscher, sie starben einfach nicht aus. Die wenigsten wussten überhaupt, was ein solcher darstellte, wo so etwas eingesetzt wurde. Lange Zeit ging es mir ähnlich, dann informierte ich mich. Schließlich faszinierte mich der Gedanke, einen solchen Strumpf unter Strom zu setzen und ihn diesen schwach leuchtenden Funzeln über ihren möglichst schwitzenden Fuß zu stülpen. Kurzum: Es ging um jene Menschen, die sozial verträgliches Verhalten und Regeln, speziell die im Straßenverkehr, eher für Empfehlungen hielten, nicht aber auf sich selbst anwendbar. Das nur zum Bleistift. Der Hauptgrund für Stress lag ganz simpel zusammengefasst im täglichen Umgang mit Idioten.

    Anfangs empfand ich noch Belustigung darin, die Betroffenen mit meinen limitierten Mitteln zu maßregeln. Später wurde ein Zwang daraus, eine Sucht, schließlich eine Art Wahn. Diese reizbaren Umstände nahmen mit der Zeit überhand. Wurde ich am Anfang noch belächelt und vereinzelt gefeiert, von denen, die bis dahin auf meiner Seite gestanden hatten, hatte über die Jahre ein schleichender Seitenwechsel stattgefunden. Ein Hergang, der mich zusehends isolierte. Offenbar hatte ich es irgendwann übertrieben. Man wurde meiner überdrüssig. Ein kriechender Prozess, den ich nicht bemerken wollte.

    Kristina nahm meine kleinen Schurkereien, die in ihren Augen grenzwertigen, teils fiesen Sticheleien und Nadelspitzen zunächst erstaunlich gelassen hin. Zuerst waren diese tatsächlich noch subtil und unauffällig, später dann durchaus deutlicher und eindrucksvoller. Ich wuchs an meinen Aufgaben und war permanent auf der Suche nach weiteren und größeren Herausforderungen.

    Zwar reagierte sie oft mit einem verständnislosen Kopfschütteln, aber sie ließ mich machen.

    „Wenn es dich denn glücklich macht", predigte sie halbherzig, doch schien sie wenig überzeugt. Sie ließ mich walten, solange sie selbst und unser direktes Umfeld von mir verschont blieben. Das konnte ich weitestgehend einhalten. Wie bei einem Junkie aber, der Gefallen an seiner Einstiegsdroge fand, dann aber nach höheren Dosen lechzte, so erging es mir. Jegliche anfänglich unterschwellige Art, es den Spacken unserer Zeit hinterrücks heimzuzahlen, wich zunehmend einer offenen Konfrontation. Wer gegen den Wind spuckte, brauchte sich nicht zu wundern, wenn er seinen Rotz mit voller Wucht zurückbekam. So definierte ich mich selbst als den wütenden Gegenwind einer vergifteten Gesellschaft. Über die Fehlbarkeiten anderer einfach hinweg zu sehen, gelang mir immer seltener.

    Dann kam, was eines Tages kommen musste, der Anfang vom Ende. Gilbert Sanders großer Moment. Gilbert war mein Kollege in der Maschinenfabrik, in der ich damals beschäftigt war. In seiner Nebenrolle als unersättlicher Lieferant unfassbar dämlichen Verhaltens und ebensolcher Sprechweisen war er mein zuverlässiges Lieblingsopfer. Mit ihm hatte alles irgendwie angefangen. So war er es dann auch, dem ich meine spätere Arbeitslosigkeit zu verdanken hatte. Der Tag meiner fristlosen Kündigung war ziemlich exakt gleichzusetzen mit dem Zeitpunkt, als zu Hause die Sanduhr auf den Kopf gestellt wurde und das sanfte Rieseln des Sandes mein langsames Ende einläutete. Ticktack. Ticktack, du gehst uns langsam auf den Sack. Das schien sie vermitteln zu wollen. Es war die Zeit, als mir erstmals klar wurde, dass ich in meinem Weltverbesserungswahn offenbar mindestens einen Schritt zu weit gegangen sein könnte, weil ich dadurch unsere Existenzgrundlage in Gefahr gebracht hatte. Bremsen konnte ich es dennoch nicht.

    Nach Grisus Entscheidung, mich aus ihrem Leben zu verbannen, vergingen ein paar unruhige Tage und ziemlich schlaflose Nächte, in denen ich intensiv nachdachte. Darüber, wie ich mein weiteres Leben gestalten wollte und mit wem. Ich hatte eine Woche, um mich wachzurütteln, und sie endete im vagen Glauben, dass ich es begriffen haben könnte. Spät, zu spät vielleicht, aber das galt es herauszufinden. Fakt war nun erst einmal, dass hier Endstation für mich war, dass ich etwas verändern musste, wenn ich eine Chance haben wollte, sie wieder zurückzugewinnen. Wenn ich weiterhin mehr als nur einen Freund im Leben zu den meinen zählen wollte. Den einzigen, Paul, der vermutlich auch einfach nur zu bequem war, mich ebenfalls abzuservieren. Zweifellos, ich hatte mich verrannt.

    Grisu hatte ich nach unserem letzten Streit und ihrer unmissverständlichen Abfuhr nicht mehr gesehen. Sie wäre bis zu meinem Auszug bei einer Freundin untergekommen. So war es in ihrer knappen Nachricht zu lesen, die sie mir auf dem Küchentisch hinterlassen hatte, als sie in meiner Abwesenheit die Wohnung betreten hatte, um die nötigsten Sachen herauszuholen. Kurz und knapp formuliert, keinerlei Emotionen, kein Zeichen des Bedauerns. Die Situation, so kitschig und klischeehaft wie tausendmal zuvor im Film gesehen, und auf einmal wurde sie zu meiner eigenen Realität.

    Gilbert Sander. Wenn ich nur an ihn dachte, kribbelte es in meinen Fingern. Eigentlich hatte ich noch eine Rechnung mit ihm offen und sollte ich eines Tages wieder in alte Verhaltensmuster zurückfallen, dann träfe es ihn zu allererst, und das mit voller Kraft. Gilbert. Wie konnte man sein Kind Gilbert nennen? Oder Daniele. Oder Bertram, wie ich in Gedanken zu meiner eigenen Belustigung ergänzte.

    Schließlich hatte er sie folgerichtig damals von mir bekommen, seine Quittung. Für so viele nervige Dinge, die er getan hatte, für die dummen Worte, die er tagein, tagaus gesprochen hatte. Er hatte seine Quittung sogar satt und reichlich bekommen. Womöglich zu sehr, denn was er zu allem Überfluss darüber hinaus bekommen hatte, das war am Ende mein Job. Nicht mehr tragbar durch mein asoziales Verhalten. So der Tenor meiner Kündigung. Gilbert war es somit, der mir als Erster in den Sinn kam, als mir erschreckend klar wurde, dass es vorbei war, dass ich so nicht weitermachen konnte. Die Schuld bei anderen zu suchen, so sagte man mir nach, war ebenso eine meine Königsdisziplinen.

    Ihn würde ich verschonen müssen, nachdem feststand, dass ich aufhören müsste. Aufhören, Leute zu bestrafen, ihnen nachzustellen, sie zu beleidigen. Aufhören, Dinge mit ihnen anzustellen, damit es mir besser erging. Es war der schmerzhafte Tag 1 meines auferlegten Zwangsentzugs. Es hatte keinen Sinn. Bertram Geuse allein gegen den Rest der bekloppten Welt. Die Rechnung konnte nicht aufgehen. Einer allein gegen alle. Ein Moment der Freude für mich, mal kürzer, mal länger anhaltend, aber insgesamt ohne jeglichen Anspruch auf Nachhaltigkeit und Wirkung.

    „Paul, hörst du?", wiederholte ich die Ansprache an meinen Kumpel, der bewegungslos und stumm in eine Zeitschrift vertieft in seinem Sessel ruhte. Das konnte er wie kein Zweiter.

    „Ja?"

    „Ob das wirklich in Ordnung ist für dich? Ich meine, es ist ja nur für kurz. Mittelfristig bin ich ja wieder hier raus. Vielleicht maximal mittellangfristig, wenn du verstehst?"

    „Nein."

    „Wie nein? Ich denke, das ist okay für dich?"

    „Ist es auch."

    „Wieso sagst du dann Nein?"

    „Ich verstehe es nicht. Dich nicht."

    „Na ja, ich weiß eben noch nicht, wie lange sie braucht, bis sie sich wieder beruhigt hat. Daher eben. Frauen. Kennst du doch."

    „Nein, eher weniger. Ich meine dich."

    „Wäre es möglich, dass du dein halbherziges Schweigegelübde für einen Moment unterbrichst und mir, ganz vielleicht, erklärst, was genau du jetzt nicht verstehst?"

    „Dich!"

    „Okay. Das hatten wir bereits."

    „Berti, ich verstehe dich nicht, begann Paul und legte seine Zeitung endlich beiseite. Es hatte den Anschein, als würde er nun einer Eloquenz verfallen wollen, die man so nicht von ihm kannte und er erklärte seufzend: „Ich begreife nicht, wie du es soweit hast kommen lassen. Du hast mit Grisu das große Los gezogen, den Hauptgewinn. Ihr habt ein tolles Leben. Ihr seid gesund, habt alles, was man sich wünschen kann, und jetzt stehst du hier. Von heute auf morgen, in meiner 2,5-Zimmer-Wohnung und du bittest mich um Asyl. Mich, der dein Leben gerne hätte. Sagen wir so, dein Leben, bis du angefangen hast, durchzudrehen. Versteh mich nicht miss, du kannst dich hier gerne niederlassen. Das eine Zimmer steht eh überwiegend leer, Gäste bleiben selten über Nacht. Eigentlich nie, wenn ich recht überlege. Da kannst du dir deine Matratze reinlegen, von mir aus auch ein ganzes Bett. Fühl dich wie zu Hause. Ich freue mich über Gesellschaft. Das sage ich jetzt! Vielleicht kommst du mir ja auch noch komisch, schloss Paul schelmisch grinsend und erhob demonstrativ seinen Finger, „aber verstehen kann ich nicht, wie du das hinbekommen hast. Das sage ich dir als dein Freund ganz ehrlich."

    „Paul, sie hat mich rausgeschmissen. Sie mich, verstehst du?"

    „Ja", seufzte er erneut und verfiel resignierend zurück in seine übliche Wortarmut. Das mit der Kommunikation könnte auf Dauer problematisch werden.

    Kapitel 4

    Die freundschaftliche Beziehung zu Paul in Worte zu fassen, fiel mir von je her schwer, dafür war sie nach den üblichen Maßstäben zu außergewöhnlich. Paul war Paul. Das beschrieb ihn wohl am treffendsten. Während ich leidenschaftliche Diskussionen liebte, solange sie auf Augenhöhe erfolgten, fand Paul seine Erfüllung zumeist im Schweigen, was nicht hieß, dass ich ihn nicht mit mir auf Augenhöhe sah, keineswegs. Einen Mittelweg zu finden, der uns beiden gerecht wurde, war somit manchmal schwierig, aber es funktionierte. Ohnehin war es keine von diesen Freundschaften, bei denen man das Gefühl hatte, in tiefe Ungnade zu fallen, wenn man sich ein paar Wochen lang nicht meldete. Oder Monate. Paul war für mich da, wenn ich ihn brauchte, und andersrum. So passierte es vor einigen Jahren sogar einmal, dass zwischen den obligatorischen Wünschen am Neujahrsmorgen, schriftlich natürlich, per Handy, und einem guten Rutsch ins neue Jahr dreihundertfünfundsechzig Tage lagen, an denen wir uns weder gesehen noch gesprochen hatten. Mit dem Resultat, dass wir kurzerhand den Jahreswechsel gemeinsam durchzechten und dem neuen Jahr erst am 2. Januar nüchtern gegenübertraten. Wir hegten die stillschweigende Vereinbarung, dass es keines festgelegten Rahmens bedurfte, um unsere Freundschaft zu definieren, die immerhin schon über zwanzig Jahre Bestand hatte. Ich fand, dass jeder mindestens einen Freund wie Paul haben sollte. Einen, der einem nicht unnötig auf den

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