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Bittersüße Freiheit: Das Tagebuch einer Herbstfrau
Bittersüße Freiheit: Das Tagebuch einer Herbstfrau
Bittersüße Freiheit: Das Tagebuch einer Herbstfrau
eBook274 Seiten4 Stunden

Bittersüße Freiheit: Das Tagebuch einer Herbstfrau

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Über dieses E-Book

"Liebe Anabella, zweifle nicht mehr an dir, denn es ist dir erlaubt, ja, es ist sogar deine Pflicht, so gut wie irgend möglich mit dir selbst umzugeben."

Es mussten allerdings viele Jahre vergehen, bis Anabella von dieser ihrer "Pflicht" überzeugt war. Aber dann wagte sie es.

Spät, doch nicht zu spät fand Anabella nach vielen, zum Teil nicht ungefährlichen Irrwegen den Mut, sich von ihrer bisherigen Heimat zu trennen und sich in Berlin eine winzige Wohnung und einen Job zu suchen. In freundschaftlichen Einvernehmen mit Christian, ihrem Mann, zog sie ganz allein auf Zeit in die große Stadt, um ihr Junggesellinnenleben nachzuholen. Ob sie wohl zurückkehrt?

Begleiten Sie Anabella doch einfach auf ihrer Reise. Durchstreifen Sie mit ihr Berlin und nehmen Sie Anteil an ihrem bewegten Leben, das viel Trauriges, aber auch viele lustige und erotische Momente enthält.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum29. Apr. 2015
ISBN9783738699982
Bittersüße Freiheit: Das Tagebuch einer Herbstfrau
Autor

Anabella Freimann

Regina Sehnert schreibt unter dem Autorennamen Anabella Freimann über das Leben, die Liebe, aber auch über Erotik und &. Sechs Bücher hat sie bisher veröffentlicht. Regina Sehnert ist 70 Jahre alt, verheiratet, hat 3 erwachsene Kinder und 6 Enkel. Sie war über 40 Jahre lang als Grundschullehrerin tätig. Jetzt arbeitet sie bei abacus-Lernhilfe als freie Mitarbeiterin. Sehr spät, etwa mit 50 Jahren, begann sie zu schreiben. Sie sagt: „Schreiben ist für mich wie Seelenmalerei. Vieles habe ich schon aus mir herausgeschrieben, habe damit traurige Erlebnisse und Kindheitserinnerungen aufgearbeitet. Ich schreibe vor allem für die nicht mehr ganz Jungen, für die Menschen, die im Herbst des Lebens stehen. Ich möchte ihnen mit meinen Kurzgeschichten, Gedichten und Romanen Mut machen. Mut zur Veränderung, Mut, sich zu seinen Träumen und Wünschen zu bekennen. Es ist dazu nie zu spät.“

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    Buchvorschau

    Bittersüße Freiheit - Anabella Freimann

    2

    sag endlich Ja!

    „Frage die Wirklichkeit nicht warum, frage deine Träume, warum nicht". (G.B. Shaw)

    Mai 2006

    Hilft mir denn keiner? Nein, ich muss es allein tun. Ich muss die Tür hinter diesem hässlichen Tier selbst schließen, ohne Hilfe. Doch es gelingt mir nicht. Das Monster hält die Klinke mit seiner behaarten Pranke fest, reißt sein Maul schmerzhaft weit auf, brüllt, grinst höhnisch, ja, es grinst, und ich denke, nein, das kann nur ein Traum sein, Tiere können nicht grinsen und mir in die Ohren schreien. Doch dieses Gruselding tut es und geifert: Tu ’s nicht, du schaffst es nie, du wirst nie dein Ziel erreichen, du wirst immer diese Schuldgefühle behalten, dein ganzes Leben lang!

    Ich wache schweißgebadet auf. Oh, was für ein Traum. Aber jeder Traum hat einen Sinn. Also wohl auch dieser. Und ich muss nicht lange überlegen, ich kenne den Sinn genau.

    Heute ist ein besonderer Tag. Mein Geburtstag, und zwar ein runder. Meine drei Kinder werden kommen, meine Mutter, mein Bruder mit Familie, die Enkel, meine Freundin. Alle möchte ich um mich haben. Wer weiß, ob es noch einmal solch ein Zusammentreffen geben wird. Wer weiß, es könnte schließlich in der nächsten Zeit sonst etwas passieren. Und danach will man mich nicht mehr sehen.

    Mit dem „Sonst etwas" meine ich natürlich etwas Bestimmtes. Etwas, das bisher nur ich allein weiß.

    Während ich in meine Hausschuhe schlüpfe, meldet sich ungerufen der geheime Gedanke, der eng mit dem „Sonst etwas" zusammenhängt. Dieser wiederum erinnert mich an den gestrigen Abend, als mir die Erkenntnis kam, dass keine andere als ich selbst die Verwirklichung meines Wunsch- Zieles verhindert.

    Ich habe tausendmal Ich will gedacht. Ich habe tausendmal Ich will gesagt. Aber ich weiß inzwischen: Solange ich selbst nicht felsenfest davon überzeugt bin, wird nichts daraus.

    Seltsam, etwas in mir hat sich über Nacht verändert. Wo sind die Angst- und Schuldgefühle geblieben? Hat sie der Albtraum hinweggewischt? Sollte der Moment da sein? Der Moment, in dem sich das Ich will in ein Ich werde verwandelt hat? Dann muss ich reden. Jetzt? Oder noch warten? Bis morgen. Ja, morgen erst. Denn gerade heute passt das doch schlecht! Schon wieder kommen die Zweifel. Habe ich überhaupt ein Recht dazu?

    Der Strauß, den Christian mir schenkt, verscheucht sie und setzt das I-Tüpfelchen auf meinen Entschluss. Er fragte mich vor einigen Tagen, was ich mir wünschen würde. „Ich möchte einen großen Strauß roter Rosen", war meine Antwort auf seine Frage und ich naives Weib dachte dabei an romantische Liebe. Ich hoffte, dass es bei ihm diesmal Klick gemacht hatte. Über 40 Jahre hatte es das nicht gemacht. Tief ein -und ausatmen, Anabella, bloß nicht aufregen! Nein, nicht aufregen, und bitte halt jetzt deinen Mund! Warte noch mit dem Reden. In mir wüten die Worte, sie wollen raus, sie wollen nicht wie so oft unterdrückt werden. Mussten es ausgerechnet diese Blumen sein, wo es doch so viele Arten gibt. Wir leben ja schließlich nicht mehr in der DDR, sondern in der Überflussgesellschaft! Man benötigt keine Beziehungen zu Blumenverkäuferinnen. Es gibt alles auf dem Ladentisch und nicht mehr darunter. Nicht nur das, man wirft es dem Kunden regelrecht hinterher!

    Dumme Anabella, was hattest du dir eigentlich eingebildet? Etwa, dass dein Ehemann plötzlich zwischen den Zeilen deiner Worte lesen lernen würde? Nur weil du Geburtstag hast? Männer können das nicht, die sind nun mal so, die kannst du nicht ändern.

    Ich bekam Blumen. Na also, da war doch alles in Butter! Nein, das war's eben nicht! Denn: Sollte ich mich über Nelken freuen, die ich noch nie leiden konnte? Die es zum 1. Mai, dem Kampftag der Werktätigen gab, bei Auszeichnungen zum „Aktivist der sozialistischen Arbeit" zum Beispiel? Und dann befanden sie sich auch noch in enger Gemeinschaft mit weißen Lilien, die in meinen Augen Friedhofsblumen sind.

    Erwartungsvoll schaute mich Christian an. Ich schwieg. Ja, was wollte er denn hören? Sicher etwas anderes, als das, was schließlich aus mir heraus brach. Mein Herz klopfte laut, und ich wusste schon, dass sich meine Stimme garantiert überschlagen würde. Wie immer, wenn ich aufgeregt war. Dieses Mal schien sich auch noch ein Krächzen dazu zu gesellen. Krampfhaft bemühte ich mich um Fassung. Als ich mich einigermaßen unter Kontrolle hatte, sagte ich ihm, dass ich mich auf die roten Rosen gefreut hätte und dass ich enttäuscht wäre. Er schaute mich an. Aber wie! Mit diesem harten Blick, den ich nicht ertragen kann. Hastig nahm er die Blumen aus der Vase, versuchte sie wie eine unbrauchbar gewordene Zeitung zusammenzuknüllen und in den viel zu kleinen geflochtenen Papierkorb zu drücken, der bei dieser plötzlichen Aktion langsam umkippte. Stille. Wie neben mir stehend blickte ich auf die bunte Mischung von Blättern, Blüten, zerrissenen Werbeprospekten, Wassertropfen und Walnussschalen, die sich vor meinen Augen auftat. Abstrakte Kunst, dachte ich, das könnte man malen. Das könnte ich malen, aber bitteschön ohne Nelken, grins.

    Laut knallte die Haustür und heulend sprang der Motor von Christians Auto an. Weg war er.

    Vor Monaten noch wäre ich in einer ähnlichen Situation in Tränen ausgebrochen. Ich hätte gejammert und geschluchzt und ich hätte mich in Selbstmitleid gestürzt. Dieses Mal blieb ich ruhig und seltsam gefasst. Was tat der Tinnitus? Oh, er summte zufrieden wie selten in meinen Ohren. Nicht nur das, er schien mir sogar zuzuflüstern: Gut so, Anabella!

    Christian kam nach einiger Zeit zurück. Mit einem neuen Strauß. Mir war die Lust auf Blumen der Liebe vergangen. Er aber drückte mir ohne ein Wort der Entschuldigung Rosen in die Hand. Oder sollte der folgende Satz die Entschuldigung sein? Sein Psychologe hätte einmal gesagt, er würde nichts Langweiligeres kennen als rote Rosen.

    Aha, sein Psychologe. Und ich? War ich nichts? Waren meine Wünsche nichts wert? Es gab nun einen fürchterlichen Streit. Ich wäre empfindlich wie eine Mimose und es wäre doch nicht so wichtig, welche Blumen es seien und überhaupt hätte er es satt.

    Mir fiel Victor Hugo ein: Nichts auf der Welt ist so mächtig, wie eine Idee, deren Verwirklichung gekommen ist. Stimmt, und deshalb muss ich jetzt auch nicht laut werden! Mit fester Stimme, absolut überzeugt, und gar nicht wie das unsichere Mauerblümchen aus vergangenen Zeiten, meinte ich, auch ich hätte es satt. Und ich teilte ihm den lang gehegten Entschluss mit. Das Krächzen verschwand während des Redens wie von allein aus meiner Stimme.

    Wieso ich ihm das gerade heute mitteilen würde, fragte er. Ich erklärte ihm, dass gerade diese Nelken den Ausschlag gegeben hätten. Wenn man seine Frau wirklich liebt, hört man doch auf jeden Hinweis, um ihr eine Freude zu machen. Noch dazu bei diesem runden Geburtstag. Wenn er sich meine Abneigung gegen Nelken nach über vierzig Ehejahren immer noch nicht merken könnte, dann zeugt das in meinen Augen von keiner großen Liebe.

    Es war nicht das erste Mal, dass wir über eine räumliche Trennung redeten. Doch bisher waren wir nie zu einer Lösung gekommen. Unter dem Strich kam bei ihm immer dasselbe heraus: So etwas machen nur Promis. Wo sollen wir das Geld hernehmen? Oder noch eine Spur schärfer: Dann können wir uns gleich scheiden lassen!

    Diesmal allerdings schien er anderer Meinung zu sein. Diesmal schien er meine Entscheidung zu akzeptieren. Er spürte wohl, dass ich nicht mehr die fügsame, alles verstehende Ehefrau war, und vielleicht ahnte er, dass diese räumliche Trennung eine letzte Chance bedeuteten könnte, wieder zusammen zu finden. Vielleicht würde es mit entsprechender Entfernung bei ihm Klick machen?

    Wir sind schon lange verheiratet. Oft dachten wir beide leise oder auch sehr laut: Zu lange. Und jeder stellte sich Fragen wie diese: Schmieden gemeinsame Kinder zusammen? Nicht ein Leben lang. Oder gemeinsam durchgestandene Probleme? Vielleicht eine Weile. Oder gemeinsame schöne Erlebnisse? Nun, davon gab es recht wenige. Ehrlich gesagt, hatte ich irgendwann keine Lust mehr, etwas vorzuschlagen oder zu planen, was Christian doch nur widerwillig mitmachte und dann entsprechend schlechte Laune hatte. Schließlich ließ ich es ganz und gar sein oder ging allein ins Kino oder zu Veranstaltungen. Oder ich vertiefte mich in meine Schreibereien.

    Okay, so war es am Morgen meines Geburtstags gewesen. Aber jetzt will ich Nägel mit Köpfen machen oder so ähnlich. Nein, Nägel nicht, auch keine Reißzwecken, die tun weh. Und wehtun soll es eigentlich keinem. Bella, Bella, sagte da eine leise Stimme in mir, wie willst du das schaffen? Keinem wehe tun? Ich antworte der leisen Stimme: Keine Ahnung…

    Dann müsste ich wohl Kompromisse eingehen. Wollte ich eigentlich nicht mehr. Doch ich muss. Ich rede mir ein, vorerst.

    Auf jeden Fall steht fest, dass ich höchstwahrscheinlich im September auf Zeit wegziehe. Wie lange dies sein wird, weiß ich nicht. Ich mache erst einmal die Probe aufs Exempel.

    Und warum gehe ich? Doch nicht wegen eines Nelkenstraußes allein! Nein, da ist unsere mit den Jahren totgelaufene Ehe. Da ist das Fehlen sexueller Übereinstimmung. Aber ich gebe zu, es ist mehr. Es ist auch die Abenteuerlust, die mich wegtreibt, weg aus der Provinz, wo jeder jeden kennt, wo alles registriert wird, wo sich nichts vorwärts bewegt, wo man regelrecht auf das Älterwerden wartet. Ich mag auch nicht mehr mit den Lügen leben. Ich mag keinen gestohlenen Sex mehr, ich will auf ehrliche Weise das haben, was mein Körper noch braucht. Ich will es auch nicht mehr unterdrücken. Oh, jetzt habe ich schon mehrmals Sätze mit einem überzeugenden „Ich will" aufgeschrieben. Dieses Mal war es nichts mit nur mal so daherreden. Nein, es war der Entschluss einer nicht mehr jungen Frau! Bin ich nun egoistisch, wenn ich an meine Wünsche denke? Aber ich habe ja nur das eine Leben, und davon ist schon ein großes Stück vorbei. Und dieses große Stück war vor allem davon geprägt, dass ich es allen recht machen wollte.

    Genau das will ich jetzt ändern. Ich will ein Stück ehrliches Leben. Ich will endlich einmal für mich allein verantwortlich sein und in einer eigenen Wohnung diesen noch nie dagewesenen Zustand genießen. Das heißt, Freunde oder Freundinnen einladen, wann und wie lange ich es will. Das heißt ebenfalls, ausgehen zu können, ohne zu einer bestimmten Zeit zuhause sein zu müssen. Ich mag keine strafenden Blicke mehr erleben oder tödliches Schweigen, wenn ich die vereinbarte Zeit minimal überschritten habe. Nein, das alles will ich nicht mehr haben.

    Und ich will natürlich auch in der Nähe meines Liebsten sein. Den gibt es natürlich. Sonst würde ich ja gar nicht mehr so genau wissen, ob ich noch begehrenswert bin. Ganz klar, dass dadurch Berlin zu meinen absoluten Favoriten gehört.

    Vielleicht darf er mich sogar ab und zu besuchen? Vielleicht. Aber eines sagte ich ihm: Hey, damit du es weißt, ich bin der Chef, ich bestimme. Er hatte bei meinen Worten in sich hinein gegrinst und ich wusste genau, was dieses Grinsen bedeutete: „Red du nur, ich werde dich schon um den

    Finger wickeln, ich kriege sowieso, was ich will." Wenn er sich da mal nicht täuscht! Er kriegt es nur, wenn ich es auch will.

    Ach, ich bin so aufgeregt! Ich könnte alle Welt umarmen, möchte, dass sich alle mit mir freuen. Am liebsten hätte ich es, wenn Christian dabei wäre. Das aber wäre wohl zu viel verlangt.

    Immerhin hat er vorhin einen flüchtigen Blick auf die Website mit den Wohnungsangeboten geworfen. Mehr kann ich nicht erwarten.

    Nur nicht übermütig werden, Herbstfrau, du! Wie waren gleich die Worte, mit denen meine Mutter früher die überschäumende Fröhlichkeit der kleinen Bella zu bremsen pflegte? Übermut tut selten gut. Ja, das bekam ich fast täglich zu hören. Und damals ließ ich mich davon einschüchtern. Damals konnte man mich bremsen. Jetzt nicht mehr! Denn übermütig wie ein glückliches und endlich erwachsenes Kind zu sein, das tut gut!

    Ansonsten weiß ich selbst, dass ich unbekanntes Terrain betrete und deshalb nicht nur mit angenehmen Überraschungen rechnen darf. Es wird nicht einfach sein. Irgendwann werde ich die gewohnte Sicherheit vermissen. Ich werde mich finanziell einschränken müssen. Ich werde lernen, für mich selbst zu sorgen.

    Auf jeden Fall beginne ich nun gezielter nach einer Wohnung zu suchen. Bis jetzt war es mehr oder weniger ein Spielen mit den Möglichkeiten. Nun wird es ernst. Ich muss systematisch vorgehen. Ich muss mir einige Suchagenten einrichten. Immonet. de und Immobilien- Scout scheinen die besten Anbieter zu sein. Aber da gibt es noch unzählige andere. Und vielleicht wartet gerade dort, wo ich nicht nachsehe, die Traumwohnung auf mich? Mir schwirrt der Kopf von den vielen Angeboten. Meine große Tochter möchte, dass ich in den östlichen Teil von Berlin ziehe, in ihre Nähe. Es ist gut gemeint, und ich weiß auch, warum sie das will. Sie hat ihrem Vater versprochen, auf mich zu achten. Oh je, schon wieder jemand, der auf mich aufpassen soll. So war es immer. Zuerst die Eltern, dann der Ehemann. Von einer Abhängigkeit war ich in die andere gerutscht. Meine Eltern ließen mich nie allein weg, Christian übernahm sozusagen die Familienorder. Und ich ließ alles mit mir geschehen. Er meinte, es geschähe doch nur, weil er sich Sorgen machen würde. Es könnte ja so viel passieren. Und ich hätte keine Ahnung, wie schlecht die Welt wäre. Und ich wäre ja so was von blauäugig. Tja, oft genug gab ich dann klein bei und sagte den Meditationskurs oder den Wellnesstag ab, blieb zuhause und schimpfte im Stillen mit mir selbst. Meist mischte sich der Tinnitus mit lauten Tönen in meine Schimpftirade ein und gab mir damit zu verstehen, dass ich es wieder einmal allen recht machen will, in diesem Fall Christian, nur mir selbst nicht.

    Doch jetzt? Hallo, Tochter, schau mich an! Ich bin schon groß! Es kribbelt in meinen Beinen. Ich glaube fast, die Herbstfrau hat noch einmal einige Zentimeter zugelegt! Ob ich nachmesse? Könnte ja immerhin sein. Nein, lieber eine andere Neugierde befriedigen. Ich schaue in mein Mailfach, ob schon die ersten Ergebnisse der Suchagenten zu finden sind.

    Hilfe, es wimmelt nur so von Angeboten. Berlin scheint nur aus leeren Wohnungen zu bestehen! Auf den ersten Blick alles super. Doch mein Liebster hat mich schon vorgewarnt. Erst ansehen. Alles sorgfältig prüfen. Auch das Umfeld. Er meint, das könnte er doch für mich tun. Oh nein, das will ich selbst in die Hand nehmen. Jawohl. Wenn ich seine Hilfe benötige, sage ich ihm Bescheid.

    Ich speichere einige interessante Wohnungen ab. Zwei Ordner lege ich mir in den Favoriten an. Witzig. Einen Ostordner und einen Westordner. Der Westordner gefällt mir besser, nicht nur, weil mir der Westen unbekannt ist, sondern auch, weil die liebe Familie mich lieber in den Osten Berlins haben will. Die Donnerdistel kommt durch. Das Trotzköpfchen. So nannten mich meine Eltern. Ich muss wohl in der Kindheit einen ganz schönen Dickschädel gehabt haben. Eines Tages ging dieses kindliche Selbstbewusstsein allerdings verloren und dafür machten sich Angst und Minderwertigkeit breit. Wann? Vielleicht, als man mich ertappte, als meine Finger, statt die Klaviertasten zu berühren, meine erogenen Zonen entdeckten? Pfui, du Ferkel, so etwas tut man nicht, da kann man krank davon werden! Gott wird dich strafen!

    Hat Gott mich gestraft? Bis jetzt noch nicht. Im Gegenteil. Er lässt nicht nur die Ausbruchsgedanken zu, sondern erlaubt mir sogar einen Westordner und einen Ostordner anzulegen. Guter Gott.

    Der Westordner beinhaltet Angebote in Wilmersdorf, Charlottenburg, Grunewald, Reineckendorf. Im Ostordner befinden sich Wohnungen in Köpenick, Prenzlauer Berg und Lichtenberg.

    Mein Plan sieht vor, dass ich im August für zwei Tage in die große fremde Stadt fahre, um einige Wohnungsangebote genauer unter die Lupe zu nehmen.

    Wohnungssuche die erste

    Dienstag, 13. Juni 2006

    Vor mir liegt der aufgeklappte Stadtplan von Berlin. Ich stehe vor ihm und staune. Provinzlerin grüßt die Hauptstadt. Ich habe erst einmal keinen Durchblick. Wie soll ich hier eine bestimmte Straße finden? Zum Beispiel die Allee der Kosmonauten? Aber wozu gibt’s Google Maps Berlin! Na bitte. Hier haben wir sie doch, in Lichtenberg. Das ist im Osten. Und die Eisenzahnstraße? Die wiederum befindet sich im Westen. Ein James-Bond-Film fällt mir ein, in dem der Ober-Bösewicht Zähne aus Eisen hatte. Mehr als die härteste Nuss konnte er knacken. Ich frage mich, ob ich die harte Nuss „Anabella-allein in Berlin" auch so leicht knacken werde? Ohne Eisenzähne? Ich bin oft zu dünnhäutig. Hier in Berlin muss ich mir das wohl abgewöhnen. So jedenfalls lautete der Rat einer alten Freundin. Noch einmal schauen, gezielter jetzt, und da habe ich die Eisenzahnstraße. Sie liegt im Stadtteil Charlottenburg/Wilmersdorf. Die Wohnung hat zwei Zimmer, aber keinen Balkon. Die Höhe der Miete gefällt mir auch nicht. Hatte ich nicht maximal 350 in die Suchmaske eingegeben? KM? Ach so, das ist die Kaltmiete. Hilfe, ich komme aus der Provinz, noch dazu aus dem Osten, und ich habe keine Ahnung von alldem. Auch nicht, was WW, WB, EBK und WB heißt. Aha, WM heißt Warmmiete, und genau diese Summe möchte ich wissen. Warm soll es schon in meiner zukünftigen Wohnung sein. Aber nicht mit einer zu hohen Miete.

    Beim Ansehen der Wohnungsangebote bemerke ich, dass der Suchagent heute vor allem Angebote in Grunewald ausspuckt, und die gefallen mir ausnehmend gut. Nur, ich kann und will da nicht hin. Denn dort wohnt mein Liebster, mein Berliner Icke. Könnte ja sein, dass mir zufällig seine Frau über den Weg läuft. Obwohl, ich weiß ja nicht einmal genau, wie sie aussieht. Und ich will es auch gar nicht wissen. Weil ich Angst habe, dass sie eine attraktive Frau ist. Doofes Minderwertigkeitsgefühl, verschwinde! Ich bin doch ebenfalls eine attraktive Frau. Jedenfalls sagt man das von mir. Also brauche ich mich doch nicht zu verstecken! Egal, der Suchagent wird trotzdem geändert. Grunewald streichen. Dafür Wilmersdorf noch einmal aufnehmen mit anderen Vorgaben. Soviel ich weiß, ist der Ku’damm ganz in der Nähe, auf den bin ich mega-gespannt! Und da irgendwo muss auch das KaDeWe zu finden sein! Ich schaue auf die ausgebreitete Karte, suche Straßennamen, Plätze, Sund U- Bahn-Stationen, und bei dieser Tätigkeit wird mir klar, wie groß Berlin in Wirklichkeit ist. Ein wenig dämmerte mir die Erkenntnis schon letzten Sommer, als ich mit meiner Enkeltochter Franzi an die Ostsee fahren wollte. Statt hinaus fuhren wir immer tiefer in das Zentrum hinein. Es schien mir eine Ewigkeit zu dauern, bis wir endlich die Auffahrt zur A 19 erreichten. Unser frenetischer Jubel beim Erspähen des Schildes klingt mir heute noch in den Ohren! Zwei Weibsstücke unter sich. Ein junges knackiges und ein schon etwas älteres, aber recht gut erhaltenes. Jawohl.

    Jetzt allerdings will ich woanders hin. Jetzt zieht es mich in die Mitte, in das Großstadtleben. Ganz nebenbei lerne ich bestimmte Abkürzungen kennen. Ich suche eine Wohnung mit EBK. Klar, wenn da schon eine Einbauküche drin ist, muss ich mir keine kaufen. Ich muss sowieso mein Geld gut einteilen. Aber einen WBS werde ich nicht beantragen. Den Wohnberechtigungsschein. bekommen nur auf Dauer getrennt lebende Ehepaare. Und das will ich eigentlich nicht. Irgendwann möchte ich eventuell wieder zu meinem Mann zurückkehren Eventuell. Nichts überstürzen! Lieber abwarten, wie das nächste Jahr sich entwickelt.

    Oh, was sehe ich da? Eine DG, was ich unschwer als Dachgeschosswohnung definieren kann. Und die gefällt mir gut! Ich sehe mich im Gedanken darin herumgehen. Dieser Ausblick! Auch die WM ist nicht hoch, nur, ich muss ja die BK noch dazurechnen. Wie sieht es mit einem BLK aus? Hat sie nicht? Und die schrägen Wände lassen kaum Platz für das Stellen von Möbeln. Also out. Und weitersuchen.

    Donnerstag, 15. Juni 2006

    Die Bürgschaft, aber nicht die von Schiller

    Ich liebe mein Herbstleben, aber heute nicht. Scheiß-Bürokratie. Scheiße sagt man nicht, würde Amelie, meine kleine Enkeltochter jetzt sagen. Grins, sie hört es ja nicht. Gleich noch einmal, weil es mir so zumute ist. Scheiße! Dieses vulgäre Wort passt zur Situation.

    Ich hatte mich zähneknirschend damit abgefunden, dass mein Vorruhestandsgeld nur dreistellig ist. Ich sagte mir, andere haben noch weniger. Gut. Aber dass man nun genau aus diesem Grund einen Riegel vor meine Umzugspläne schieben will, erfüllt mich mit Zorn. Es gibt Vorgaben. Mindestgrenzen. Paragrafen. Eine nette Dame von der Wohnungsgesellschaft erklärte mir am Telefon in belehrendem Ton, dass Berlin ein teures Pflaster sei und ich müsste so rechnen, dass ein Drittel meines Einkommens für die Miete übrig bleibt. Also trotz zurückgesteckter Pläne, statt zwei nur ein Zimmer, darf ich ohne die Bürgschaft einer vertrauenswürdigen Person nicht damit rechnen, dass mein Antrag auch nur angesehen geschweige denn akzeptiert wird. In irgendeinem Weblog las ich, dass eine Wahlberlinerin die Behörden an der Nase herumgeführt hatte, indem sie einfach ihre Kontoauszugsdaten mittels Kopierer nach oben aufrundete. Kein Angestellter, schrieb sie, hätte sich jemals die Mühe gemacht, die Angaben zu kontrollieren. Denen würde es nur darum gehen, dass sie etwas abgeheftet haben. Aber so etwas ist nicht mein Ding, darauf möchte ich es denn doch nicht ankommen lassen. Nicht schon wieder eine Lüge.

    Ja. So ist das Leben. Mein Leben. Die Euphorie der letzten Abende ist vorbei. Ich bin zuerst wütend und danach fühle ich mich dumm und arm und unglücklich und ich heule eine

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