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Anders Leben
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eBook480 Seiten6 Stunden

Anders Leben

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Über dieses E-Book

Anders Müller ist Jungrentner und sucht einen neuen Lebensinhalt. Nachdem er sich seit Jahren von Beruf und seiner fürsorglichen Ehefrau fremdgesteuert gefühlt hat, muss es dieses Mal etwas "Eigenes" sein. Etwas, was nur ihn ganz allein fasziniert. Zufällig stolpert er über das Lachyoga und die Lachyogabewegung und besucht ein entsprechendes Seminar. Die Erfahrungen, die er hier macht, werfen sein bisher beschauliches Leben und seine Weltsicht völlig durcheinander, was auch seine Ehe vor Herausforderungen stellt. Vorhersehbar: Im weiteren Verlauf der Ereignisse trifft er auf eine attraktive Dame, die sein Herz sofort entflammt und ihm die Sinne vernebelt. Dabei handelt es sich um eine Managerin des großen örtlichen Finanzinstituts, die soeben von ihrem Liebhaber, dem Direktor eben jenes Instituts, zugunsten einer jüngeren Kollegin abserviert worden ist und nun auf Rache sinnt. Diese besteht darin, dass sie akribisch erhebliche Finanzmanipulationen ihres Ex-Geliebten dokumentiert hat, um so wenigstens in ihrer Position in der Bank überleben zu können. Die Daten hat sie auf einem USB-Stick gespeichert, der aber leider im Zuge des Flirts mit unserem Protagonisten verloren geht, diesem jedoch unverhofft vor die Füße fällt, nachdem seine neue Angebetete emotional überreizt fluchtartig das Lokal verlassen hat, in dem sie sich soeben kennengelernt haben. Dass die Daten brisant sind, erkennt Anders, als er zu Hause den USB-Stick ausliest. Er ist zunächst ratlos, was er mit dem vermeintlichen Liebespfand anfangen soll, während zur gleichen Zeit die von ihm Angebetete, von der er allerdings weder den vollständigen Namen noch deren Adresse besitzt, aufgrund des Verlusts in Panik gerät.
Zur gleichen Zeit weilt übrigens Anders' Ehefrau Angelika in einem Wellnesshotel, um hier ihre Wirkung auf die Männerwelt zu erproben. Auch sie fragt sich, was das Leben für sie noch bereithält.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Sept. 2018
ISBN9783746944845
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    Buchvorschau

    Anders Leben - Rüdiger Steindl

    DAS LEBEN DER JUNGRENTNER

    Nein, er hätte da wirklich nicht hingehen müssen! Alles hätte so bleiben können wie es war. Ruhig, beschaulich. Überschaubar. Vor allen Dingen überschaubar. Angenehm und wohltemperiert. Vielleicht ein wenig, ja man könnte wohl sagen: langweilig. Langweilig - aber warum nicht? Was war daran schlimm?

    Schließlich hatte auch er - Anders - nun schon seit einiger Zeit die Sechzig überschritten und übte sich im Rentnerdasein - Phase „Jungrentner".

    Eigentlich hatte er sich schnell an die neuen Verhältnisse im Ruhestand gewöhnt und der Ausdruck „Jungrentner, mit welchem ihn die Kumpels tituliert hatten, die schon länger im Ruhestand weilten, hatte ihm gut gefallen. Denn: „Jungrentner - das klang noch so vorläufig, so dehn- und gestaltbar. Jedenfalls nach nichts, was nach Verfall, Siechtum oder gar Tod roch. Es klang nach etwas, das einem noch alle Möglichkeiten und Freiheiten bot und bei dem sich die stets lauernden körperlichen Einschränkungen noch nicht in den Vordergrund des Alltagsbewusstseins gedrängt hatten.

    Aber dieser, sein ureigener Entschluss, an diesem Wochenendseminar der hiesigen Lachyoga-Gesellschaft mit dem eher einfach gestrickten und nicht sehr vielversprechenden Titel „Lachen kennt kein Alter!" teilzunehmen, nein, der hätte wirklich nicht sein müssen.

    Keiner hätte ihm das verübelt, wenn er da nicht hingegangen wäre. Schon gar nicht Angelika, seine Ehefrau.

    Er hatte, als er ihr von der Ankündigung dieser Veranstaltung berichtete - sie war im wöchentlichen Anzeigenblatt inseriert worden - mehr so im Konjunktiv gesprochen:

    Ob es ihm vielleicht denn wohl gut tun würde, wenn er an dieser Veranstaltung teilnähme?

    Insgeheim hoffend, dass Angelika diesen Plan als unsinnig verwerfen würde. Ja, er war sich nicht sicher, ob diese Art der Veranstaltung - mehr noch dieses Thema „Lachyoga" das Richtige für ihn sei. Eigentlich benötigte er Angelikas Rat, hoffte auf ihren aktiven Zuspruch. Wie immer, wenn es um die - bisher zugegebenermaßen seltenen - Entscheidungen von irgendwelchen Vorhaben ging, die ausschließlich ihn betrafen. Und die er womöglich allein meistern oder wenigstens durchstehen musste.

    Und in diesem Falle galt ja sogar für ihn das gewichtige Motto: „Was Eigenes! Mein eigenes Lebensthema!"

    In dem aber implizit bei Anders die Frage mitschwang: „Muss es denn wirklich sein? Muss ich wirklich für mich was tun???"

    Doch Angelika hatte nur die Zeitung, die sie gerade las, kurz sinken lassen, die Nase gerümpft und hinter dem wieder aufgenommenen Lokalteil gemurmelt: „Na, wenn es dich glücklich macht …"

    Und wahrscheinlich war es auch genau diese einfach so dahingesagte, jedoch tendenziell ein leichtes bis mittleres Missfallen ausdrückende Äußerung seiner Frau gewesen, die ihn auf einmal dazu trieb, in eine latente, aber erkennbar trotzige Opposition zu gehen und zu antworten:

    „Na dann. Dann geh ich da mal hin. Also zu diesem Lachyoga."

    Bereits ahnend, dass dies möglicherweise eine irgendwie folgenreiche Entscheidung in seinem Leben werden sollte. Die aber in seinen Augen nicht ganz falsch sein konnte, da er sie diesmal immerhin ganz allein getroffen hatte.

    Und wie war er eigentlich darauf gekommen, Lachyoga betreiben zu wollen, dieser Anders? Warum interessierte er sich so für dieses - eher abseitige - Thema?

    Im Fernsehen hatte er unlängst einen Bericht dazu gesehen. Und dort wurde ausführlich geschildert, wie gesund das Lachen sei. Wie viele und welche Krankheiten sich allein durch das herzhafte Lachen positiv beeinflussen ließen. Sogar Krebs, hieß es. Einmal richtig Lachen war so gesund wie zehn Minuten Joggen! Das hatte unlängst sogar in der Tageszeitung gestanden!

    Das waren gute Nachrichten für Anders, der nichts so sehr hasste wie das Joggen - gefolgt von Nordic Walking. Und man konnte es überall betreiben - das Lachen, also fast überall. Und wenn es so gut für die Gesundheit war …?

    In Indien hatte das Lachyoga übrigens seinen Siegeszug begonnen.

    Man hätte es sich denken können, dachte Anders, als er das las. Hier gehörte es - so wurde berichtet - sozusagen zur Gesundheitskultur dazu, so wie das Zähneputzen. Man traf sich am frühen Morgen im Park - das Gras war noch feucht vom Tau - , erzählte sich gegenseitig Witze und lachte sich scheckig.

    Das wurde in dem Fernsehbericht auch gezeigt. Aber auch der Urheber dieser Angelegenheit wurde vorgestellt: Ein gewisser Mandan Kataria, ein Arzt, der in Mumbai gewirkt hatte.

    Kaum zu glauben: Es gab sogar einen Welt-Lachtag! Immer am ersten Sonntag im Mai! Und zudem inzwischen über 6.000 Lachclubs über die ganze Welt verteilt, obwohl diese ominöse Technik erst in den Neunzigern erfunden worden war!

    Das ist ja eine richtige Erfolgsstory! dachte Anders, der dabei allerdings sogleich auch an die Entwicklung seiner ehemaligen Firma denken musste, die schon seit Jahr und Tag finanztechnisch weil wachstumstechnisch auf dem Zahnfleisch daherkam. Vielleicht sollten die auch mal lachen! Dann würden die Zahlen auch wieder besser …

    Bei Anders hatte sich sofort eine klammheimliche Faszination an diesem Thema eingestellt. Ehrlich gesagt auch ein gewisser Voyeurismus. Obwohl sich hier wildfremde, auch nicht immer nur schöne Menschen bis zur Entfesselung und Aufgabe jeglicher Contenance, ja bis hin zur Hysterie gegenseitig in einem Maße anwinselten, anlachten, anwieherten und angröhlten, dass es für ihn, den Außenstehenden, den Beobachter, eigentlich nur peinlich sein konnte, jenen bei diesem Treiben abseits jeder Ästhetik zuzusehen.

    Nicht jedem dieser Adepten der Lachkultur stand ein weit aufgerissener Mund gut, nicht jeder hatte ein schönes Gebiss. Nein, ganz und gar nicht. Und bei nicht wenigen entwich bei diesem Lachgewitter auch ein unkontrollierter Speichelnebel, so wie Eruptionen aus einem Lachvulkan, die sich in den Raum ergossen.

    Außerdem sah man zuckende Zäpfchen in aufgerissenen Mündern. Und sogar so manche Zahnruine. Die waren eigentlich in keinem Falle ästhetisch.

    Dennoch war dieses wilde, archaische, völlig ungehemmte - übrigens auch völlig anlasslose - Lachen für Anders unerklärlich faszinierend und ähnlich ansteckend wie jener Spot im Internet bei „YouTube mit dem zunächst einmal unverfänglichen Titel „Bündnerfleisch, in dem der damalige Schweizerische Bundestagspräsident im Parlament zu den schweizerischen Zollkontrollnummern eben jenes Produktes referierte und im Folgendem in einer nicht mehr zu beherrschenden Lachsalve, der sich auch die Parlamentskollegen nicht entziehen konnten, diesem wichtigen Thema den entsprechenden Ernst und Respekt zollte.

    Anders war auf dieses Filmchen hier mehr zufällig gestoßen.

    Und auch er - Anders - konnte sich der absurden Komik nicht entziehen und fand sich infolgedessen beim fortgesetzten Anschauen von einem wiehernden, kreischenden Lachen geschüttelt in Embryohaltung mit knallrotem Kopf und heraustretenden Schläfenadern röchelnd, gleichsam erstickend auf dem heimischen Teppichboden wieder. Schon bald bekam er kaum noch Luft. Angelika hatte ihn beruhigen müssen, indem sie ihn von hinten bei den Schultern gepackt, ihr Knie in seinen Rücken gepresste und ihn so langsam aufrichtet hatte, damit er wieder zu Atem kam.

    Sie war einigermaßen erschrocken, denn in dieser Verfassung hatte sie Anders noch nicht erlebt. Und sie wollte ihn auch nie mehr in einer solchen Verfassung sehen! Schon aus ästhetischen Gründen nicht, aber auch weil Angelika jeglichen persönlichen Tumult verabscheute, wie sie sagte. Und dieser hatte sich dort auf dem Teppich soeben über alle für sie hinnehmbare Maßen abgespielt!

    Ein Mann, der auf dem Teppich liegend nach Luft ringt, nachdem er einen zweifelhaften Internet-Spot konsumiert hatte … völlig stillos, völlig indiskutabel!

    Für Anders hingegen war es - abgesehen von der prekären körperliche Lage, in der er sich kurzzeitig befunden hatte - so, als wenn sich eine Tür geöffnet hätte, die er seit vielen, vielen Jahrzehnten gewissenhaft verschlossen gehalten hatte. Was sich dahinter verbarg, das wollte er vordergründig eigentlich nicht so genau wissen, denn er befürchtete, dass sein über Jahrzehnte gefestigtes Weltbild ins Wackeln geraten und damit auch sein bisheriges, wohl bekanntes, in vorhersehbaren Bahnen verlaufendes Leben aus den Fugen geraten könnte. Möglicherweise bestand seine Sorge sogar wohl zu Recht.

    Aber spannend war es schon …

    Er spürte den Kitzel des Neuen, des Unbekannten. Und den Reiz des Unkalkulierbaren. Das hatte er schon seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt!

    So hatte dieses Erlebnis ganz im krassen Gegensatz zu seinem üblichen Rentnerdasein gestanden, bei welcher die gelegentlich aufkommende Langweile schon ein gesundes Korrektiv für den bei ihm und seiner Angelika potentiell ständig vorhandenen Aktivitätsdrang darstellte. Denn dieser innere Zwang, etwas Sinnvolles tun zu müssen, konnte manchmal so lästig wie tröpfelnder Harndrang werden und auch wie jener einen chronischen Zug annehmen.

    Diese stete und so ermüdende innere Aufforderung, den Tag zu gestalten, ihm einen Sinn geben zu müssen! Nichts schien für viele Zeitgenossen, zu denen sowohl er als auch seine Frau Angelika tendenziell zählten, schlimmer zu sein, als die Leere eines verbummelten Tages. Weniges war schrecklicher als der „Horror vacui", der einen so schnell ereilen konnte, wenn der feste äußere Rahmen, das Korsett eines fremdbestimmten Arbeitstages fehlte.

    Erschwerend kam bei der Tagesgestaltung hinzu: Rentner zu sein, das lernte man ja eigentlich nirgends. Nicht in der Schule, nicht auf der Universität oder im Berufsleben. Auch Anders hatte sich kaum vorher mit dieser neuen Existenzform beschäftigt.

    Ein Rentner, das war früher für ihn jemand gewesen, der aus dem geheiligten Wertschöpfungsprozess, dem Berufsleben exkommuniziert worden war. Was manchmal leider - wie er inzwischen selbst erlebt hatte - auch einer gewissen gesellschaftlichen Ächtung gleich kommen konnte.

    Rentner, das waren Leute, bei denen man in den Firmen in der Regel froh war, dass man sie los war. Und dies meistens zu günstigen Konditionen für das Unternehmen. Keine Streitereien, keine Abfindungen, die ausgehandelt werden mussten! Diese Leute wurden einfach nur alt und gingen dann in den Ruhestand. Und freuten sich auch meistens darüber. In der Regel ging es dann mit einer kleinen Feierlichkeit ab, bei der die gebundene Arbeitszeit der Kolleginnen und Kollegen der größte Kostenfaktor war. So wie bei ihm auch.

    Aber auch als Rentner lebte man, wenn man sich es nur immer wieder bewusst machte. Und das sah Anders als seine größte Chance. Einfach leben! Wenn man wollte: In den Tag hinein leben.

    Auch das Glück, dass er jeden Morgen aufs Neue die Wahl hatte: Aufstehen oder liegen bleiben. Oder erst später aufstehen. Niemanden kratzte das. Außer vielleicht seine Angelika, wenn die für den Tag anderes geplant hatte.

    Und da war er in guter Gesellschaft. Nicht nur ihm ging es so. Nein, auch seine Bekannten und Freunde - sie alle priesen sie die neue Freiheit, nicht mehr beruflich eingespannt zu sein, kaum noch Verpflichtungen zu haben, auch wenn immer wieder augenzwinkernd betont wurde, man käme ja inzwischen zu rein gar nichts mehr …

    Aber alle stürzten sich gleichzeitig in Reisen, Gartenarbeit, ausgefallene, teils teure Hobbys wie Motorradfahren, Golfen, Segeln, Gleitschirmfliegen.

    Letzteres erfreute vielleicht die Rentenversicherung - die Krankenversicherung eher weniger.

    Oder sie kurvten mit einem Wohnmobil durch die Gegend beziehungsweise durch ganz Europa und trieben dabei die anderen- natürlich jüngeren - Verkehrsteilnehmer mit ihrem entschleunigten Weltbild und der entsprechenden Fahrweise in den Wahnsinn - oder zu gewagten, gefährlichen Überholmanövern.

    Klar, schließlich mussten Anders und Angelika ihre verbliebene Restlaufzeit, nein Lebenszeit sinnvoll nutzen und dabei noch möglichst viel sehen und erleben. Außerdem: Man musste ja beim Autofahren auch nicht ständig in den Rückspiegel blicken … oder? Das kam ohnehin immer mehr aus der Mode, das machten inzwischen nur noch Fahranfänger …

    Auch Anders beobachtete inzwischen immer deutlicher an sich, dass er es gemütlicher anging, das Leben. Wesentlich gemütlicher. Das begann schon mit dem Aufstehen und der Tagesplanung, die keineswegs mehr als zwei außengesteuerte Pflichten oder Termine enthalten durfte. Sonst stellte sich ein unmittelbarer Groll ein. Mindestens mittelschwer.

    Übrigens auch bei seiner Angelika, da waren sie sich glücklicherweise einig. Und klaglos akzeptierten sie auch, dass die Dinge fast alle länger dauerten, bis sie dann fertiggestellt waren - seien es Gartenarbeiten, Reparaturen im Haushalt und Ähnliches.

    Bei denen Anders sich ohnehin immer die Frage stellte: Musste es denn wirklich nun heute sei? Oder überhaupt? Würden er oder sie sich denn besser fühlen, wenn er oder sie die selbst gestellte Aufgabe erfüllt hätten? Oder war es eigentlich nur eine fixe Idee?

    Aber nicht immer war es ratsam, diese Frage laut zu äußern … eine Erfahrung, die Anders schnell machte und diese Frage dann nur noch sich selbst stellte.

    Unvorstellbar war es den beiden jedenfalls inzwischen, wie es ihnen gelungen war, all die Jahre einer geregelten Berufstätigkeit beziehungsweise dem fordernden, aufopferungsvollen Job der Hausfrau nachgegangen zu sein und zudem auch noch ein Familienleben und dieses oder jenes Hobby gepflegt zu haben.

    Kinder hatten sie übrigens keine. Hatte sich irgendwie nicht ergeben. Und darüber so richtig traurig war auch keiner von ihnen beiden gewesen. Kinder gab es im Bekannten- und Freundeskreis genug mit den entsprechenden Beispielen der Überforderung und seelischen Zerrüttung der Eltern, wenn es mit dem Nachwuchs oder der Partnerschaft nicht so lief.

    Aber jetzt - im fortgeschrittenen Alter - lernten sie gemeinsam eine neue Sprache, so wie viele andere Rentner, die sich mit Finnisch, Koreanisch oder Neugriechisch plagten - ganz freiwillig. Um die grauen Gehirnzellen auf Trab zu halten. Und auch er, Anders, auch er musste ran. Schon seit zwei Jahren und das eigentlich eher auf Geheiß seiner Angelika, damit er nicht völlig … Angelika senkte dabei die Stimme …

    Wodurch Anders auf- und ihr dazwischen fuhr: „Ja, ich weiß schon: verblöde - ist das Wort!"

    Das war dann auch sein vorschnell gegebenes Einverständnis zum Start eines nicht enden wollenden Sprachkurs-Marathons des Neugriechischen. Einer Sprache, die wirklich überaus dazu geeignet war, die grauen Zellen im Oberstübchen auf Trab zu halten.

    Und es ging immer weiter - mit diesen Volkshochschulkursen. Denn, so das Resümee zu Ende eines jeden Trimesters, es wäre doch schade, jetzt aufzuhören, nicht wahr? Wo wir doch nun schon so weit gekommen sind … Und die Lehrerin sei doch so überaus nett und gäbe sich doch schrecklich viel Mühe! Was zweifellos stimmte.

    Einmal wöchentlich fand der Kurs statt, nur in den Schulferien nicht. Mit Hausaufgaben und Vokabellernen. Wie früher in der Schule und auf diesen kleinen unbequemen Stühlen, bei denen man sich immer fragte, wie halten das die Kinder nur den ganzen Tag aus?

    Auch beliebt als Zeitvertrieb für den geistig beweglichen Rentner: Literatur, Literatur! Eben für den intellektuell ambitionierten Best-Ager. An jeder Ecke, zu jeder Uhrzeit - jedenfalls hier in dieser Stadt - fanden sie statt: die Lesungen, Rezitationen und Buchvorstellungen. Manchmal mit musikalischer Begleitung.

    Ein Meer von weißhaarigen, grau melierten oder kahlen Häuptern wogte vor dem Rednerpult und gab sich ein Stelldichein. Immer wieder aufs Neue. Nun ja - manchmal war es nun nicht gerade ein wogendes Meer von Häuptern, sondern eher ein Meer, in dem gerade Ebbe herrschte - mit vielleicht noch ein wenig Wasser in den Prielen. Aber immer war es überwiegend alt - das Publikum.

    Und meistens bestand es aus Frauen, die da mit gefalteten Händen und mit einem bewegten, andächtigen Gesichtsausdruck saßen. Und manchmal beifällig lächelten, so als wenn sie sagen wollten: Besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können!

    Aber auch einige Männer waren da, die wohl irgendwie zu diesen Frauen dazugehörten. Männer, die einfach mal mitgekommen waren. Allein war es ja zu Hause eben auch eher blöd. Und hier gab es in der Regel auch etwas zu Trinken. Also etwas Alkoholisches. Manchmal sogar eine Kleinigkeit zu essen.

    Und dass es sich um ein überwiegend älteres Publikum handelte, das stellte sich spätestens dann heraus, wenn mal hier, mal dort so ein Smartphone zirpte, schepperte oder röhrte und sich dabei Klingeltöne in ungeahnter Lautstärke Bahn brachen, die mit Sicherheit die lieben Enkel auf dem Smartphone eingerichtet hatten. Beliebt war hier insbesondere: „Highway to Hell" wahrscheinlich mit entsprechenden Hintergedanken der mit dem Erbe Bedachten …

    Wobei dann unmittelbar nach dem Aufflammen dieses Furors eine Diskussion zwischen den Ehepaaren, manchmal auch zwischen den Umsitzenden, entbrannte, warum in drei Teufelsnamen gerade hier und jetzt der Flugmodus bei diesem Gerät zu aktivieren sei, wenn man doch hier in einem geschlossenen Raum saß, der nun gewiss nicht fliegen könne. Mal abgesehen von der Frage, wie denn das zu bewerkstelligen sei. Hier halfen dann regelmäßig die Nachbarn, wobei es schon mal zu Kolloquien kam, die gehörig Zeit beanspruchten, bis es zu einer praktikablen Lösung des Problems kam.

    Anders hatte sich schon lange die Frage gestellt, warum die Alten, also die wirklich Alten, so aufwändige Geräte mit sich herumschleppten. Selten wurden sie angerufen oder telefonierten selbst damit. Nein, sicher war es deswegen - so mutmaßte Anders, um sie orten zu können, wenn sie mal verloren gehen sollten.

    So war es bei diesen Lesungen fast immer und für Anders stellte sich darauf die Frage, wozu man Literatur denn nun wirklich brauche … und ob überhaupt.

    Denn eigentlich war doch alles bereits mehrfach gesagt und geschrieben worden. Ohne dass es die Menschheit - jedenfalls die aktuelle Ausgabe - wesentlich in Sachen zivilisiertem Zusammenleben und geistig-moralischer Entwicklung in den letzten Jahrzehnten irgendwie vorangebracht hatte.

    Er hatte in Sachen „Literaturlesungen" allerdings schon früh die Reißleine gezogen. Nein, Lesungen waren seine Sache nicht. Und nach dem zweiten von Angelika verordneten Besuch einer solchen Veranstaltung im örtlichen Buch-Café, in dem es wie in der Cafeteria eines Altenheims roch, einen starken Widerwillen gegen alle Arten von Literaturdarbietungen artikuliert. Und welcher sich bei Anders - so hatte er herausgefunden - leider in krampfartigen Hustenanfällen Bahn brach.

    „Und das helfe ja nun auch keinem - nicht wahr?" raunte Anders seiner Frau zu, als sie sich an einem frühen, dazu noch nasskalten Mittwochabend zu einer Lesung eben in jenem Buch-Café eingefunden hatten.

    Um das zu belegen, hustete er mehrfach heftig, verdrehte dabei die Augen, schnäuzte sich dann umständlich und löste hiermit ein heftiges Getuschel und Gezische des Publikums aus.

    Vielleicht hatte der aufkeimende Widerstand von Anders gegen die öffentlich dargestellte Welt der Literatur auch daran gelegen, dass in der letzten Veranstaltung, die sie noch gemeinsam besucht hatten, ein Werk eines Literaten vorgestellt worden war, das an Düsternis - so der weißhaarige Rezensent - nicht mehr zu überbieten sei. Schon allein die Dichte von Düsternis gebiete es - so seine mit Nachdruck gegebene Empfehlung, dieses Werk zu lesen - möglichst mehrfach, um all die unterschiedlichen Facetten der Abgründe der menschlichen Existenz zu würdigen - und anschließend diese Werk dann sorgsam in seinem Bücherschrank zu verwahren. Bei dieser Ankündigung ging ein Raunen durch das Publikum, das damit seine Befriedigung über die in Aussicht gestellten Auszüge des vorgestellten Grauens kundtat.

    Und auch die übrigen auf dem Podium versammelten Literaturkritiker nickten beflissen und verwiesen auf ebenfalls düstere Romanerzeugnisse, die sie selbst gelesen hatten und welche allerdings jenem, soeben vorgestellten, wie sie übereinstimmend ausführten, nicht im Mindesten das Wasser reichen konnten.

    Ein wohliger Schauer der Zuhörer und Zuhörerinnen - hauptsächlich waren es wieder einmal Zuhörerinnen - schien dabei durch den Saal zu wehen.

    Die anschließende Leseprobe bestätigte das vorher Ausgeführte und Anders stellte sich die Frage, welchen Erkenntnisgewinn konnte denn einem derartigen Werk entspringen, der in Sachen Depression über den täglichen Konsum der Nachrichten im Fernsehen und von SPIEGEL ONLINE noch hinausführen konnte.

    Ganz abgesehen von der Frage, ob es denn nicht wesentlich sinnvoller und schöner wäre, Erkenntnisgewinn mit lustvollen Erfahrungen zu kombinieren … oder gar durch diese zu erlangen! Jedenfalls in der letzten Lebenszeit, die noch bliebe … Dazu jedenfalls neigte Anders ganz entschieden. Ganz besonders, nachdem er sich die letzten Jahrzehnte, was die „Lust" in ihren verschiedenste Spielarten betraf, sehr unterversorgt gesehen hatte.

    Und hier in diesem Ambiente fühlte er sich plötzlich von den zur Schau gestellten Attitüden eines saturierten Bildungsbürgertums nur noch irritiert, wenn nicht sogar ein wenig abgestoßen und verließ anschließend wortlos den Ort der literarischen Offenbarung, wenngleich auch Angelika in ihn drang und wissen wollte, wie es ihm denn gefallen hätte und ob er nicht auch den scharfsinnigen Herr Soundso bewundere, der diesen fulminanten Düsternis-Almanach - wie sie sagte - vorgestellt hatte.

    Nein, jenen bewundere er nun ganz und gar nicht und dieser ganze Kulturzirkus könne ihm ab sofort ganz gepflegt gestohlen bleiben! Das war Anders’ Kommentar zu diesem Abend und hinterließ bei seiner Frau das Gefühl, dass der Wunsch nach einem gemeinsamen Streben und Erleben nicht immer in Erfüllung ging. Was auch unsagbar schade war ….

    Seitdem war Geli - also Angelika - auf den weiten Auen der Literaturlesungen allein unterwegs, nicht ohne jedes Mal spitz über die Schulter zu rufen, er werde ja schon sehen, was er davon habe, wenn er nicht mitkäme. Es wäre doch so schön und übrigens auch aus ehehygienischen Gründen wünschenswert, wenn sie gemeinsame Themen kultivieren würden! Oder etwa nicht? Sie verstehe einfach nicht, wie er sich da verschließen könne!

    Dann klappte die Tür und seine Angetraute kam bei diesen Gelegenheiten oft erst sehr spät abends wieder heim. Manchmal war es auch gar erst am frühen Morgen gewesen. Anders wollte hier nichts Genaueres wissen und enthielt sich geflissentlich der Frage, wie es denn gewesen sei.

    Anders gewann gerade bei diesen Gelegenheiten immer stärker das Gefühl, dass das Leben mit zunehmender Geschwindigkeit an ihm vorbeizog und er sich unbedingt um ein neues, für ihn faszinierendes Lebensthema kümmern müsse. Und das sehr dringend, denn schließlich: Wer wusste denn schon, wie viel Zeit einem noch bliebe - ihm noch bliebe? Also auf zum Lachyoga! Oder vielleicht doch nicht?

    Die nächsten Tage verbrachte Anders in einem leicht nervösen Zustand, den er mit Gartenarbeit zu besänftigen suchte. Allerdings war das Wetter schlecht - weiterhin unangenehm nasskalt - und es blieb ihm nur, Blätter im Garten zu rechen, die allerdings in noch größeren Mengen, als er beiseite schaffen konnte, von den Bäumen regneten.

    Seine emsigen Bemühungen, wenigstens einen seiner alten Kumpels, die er allerdings in den letzten Jahren stark vernachlässigt hatte, als moralische Verstärkung und zur eigenen Stabilisierung zu einer Teilnahme bei diesem Lachseminar zu bewegen, schlugen fehl.

    Man bedeutete ihm unisono, lieber in Ruhe eine Flasche Wein zu trinken - oder auch zwei, anstatt sich so einer zweifelhaften Veranstaltung auszusetzen.

    Lachyoga … nur sehr merkwürdige Charaktere würden sich auf so etwas einlassen, das war der allgemeine Tenor.

    Doch Anders konnte nicht anders: Es kribbelte ihm die ganze Zeit in den Fingern und er griff am Tage des Anmeldeschlusses zum Telefon und buchte einen Platz in diesem Lachyoga-Seminar.

    Der Termin sollte am zweiten Advent sein und das Seminar würde sicher stattfinden. Das Interesse sei groß, wurde ihm mitgeteilt. Mehr noch: Er könne sich glücklich schätzen, hiermit einen Platz erhalten zu haben. Die wenig sympathische Stimme am anderen Ende der Leitung - sie erinnerte Anders an das Geräusch, wie es entsteht, wenn man mit einer Stahlbürste Rost von einem Eisenträger entfernt - sprach dabei mit einem Impetus, einem Sendungsbewusstsein für jene beworbene Lachkultur, welcher Anders eigentlich abschreckte. Dennoch beschloss er, diesen Impuls zu ignorieren. Vielleicht ein Fehler?

    Beim Abendessen - heute saßen sie dazu in der Küche - erzählte er Angelika davon, dass er sich nun doch zu dem Wochenendseminar angemeldet habe. Also zu dem Lachyoga, sie wisse schon … worüber er neulich schon mit ihr gesprochen habe.

    Und fügte an: „Du erinnerst dich doch?"

    Was insofern sehr ungeschickt war, da diese Formulierung ja implizit die Möglichkeit des Vergessens enthielt, welches Angelika für sich immer schon als das große, weit offen stehende Scheunentor zur Debilität und Demenz angesehen hatte.

    Sie zog missgelaunt die Stirn in Falten:

    „Ich weiß, das Lachyoga. Dein neues Steckenpferd, nicht war? Bei dem du so gern mal die Kontrolle verlierst und dich auf dem Teppichboden wälzt. Richtig?"

    Sie fand immer den einen wunden Punkt, den sie einem dann genüsslich unter die Nase rieb, dachte Anders und sackte leicht in sich zusammen. Und bevor ihm eine angemessene Replik einfiel, da fuhr sie schon fort:

    „Du weißt schon, dass wir an diesem Wochenende bei Chris und Barbara eingeladen sind?"

    Anders zuckte innerlich zusammen, gleichzeitig jedoch regte sich bei ihm Widerstand.

    „Dann kann ich eben nicht! Ich kann doch auch mal was vorhaben! Zu Chris und Barbara können wir immer gehen, die haben selten was vor. Hast du jedenfalls früher bei ähnlichen Gelegenheiten gesagt."

    Das sprudelte nur so aus ihm heraus, so wie ein mittlerer Wasserrohrbruch. Und zudem hatte er das sehr spontan erwidert, fast schon geschrien, sodass er sich in Folge erst einmal kräftig an seinem Bissen Käsebrot verschluckte. Ein entsprechender Hustenanfall war die Folge. Und es dauerte eine Weile, bis er - mehr röchelnd und mit rotem Kopf - weiter sprechen konnte:

    „Also kann man den Termin auch verschieben. Machst du doch sonst auch gern mal."

    Anders wähnte sich aus dem Schneider und legte nach:

    „Oder du gehst allein, geht doch auch …"

    „Und was soll ich denen erzählen, warum du nicht mitkommst? Soll ich sagen: Mein Mann ist jetzt auf dem Selbstfindungstrip und übt Lachen??? Oder wie?"

    Angelikas Stimme wurde schrill.

    „Wie stehe ich dann da? Sollen alle denken, du hättest das nötig, das mit deiner Selbstfindung? Deine Ehe mit mir, die reicht dir nicht mehr oder was?"

    Aha, das war es also, dachte sich Anders.

    „Wie stehe ich da?" Die alles bestimmende Frage der letzten Jahrzehnte - ja, eigentlich seitdem er Geli kannte. Die Außenwirkung bei Freunden, Eltern und Kollegen, die so oft bestimmt hatte, wohin sie in Urlaub fuhren, wo sie Tanzkurse belegt hatten, und so weiter, und so weiter. Und nicht zuletzt: Warum er auch Karriere gemacht hatte. Also wenn man denn von einer solchen sprechen konnte.

    Immerhin: Zum Abteilungsleiter, zum Manager „Firmenkommunikation" hatte es bei Anders gereicht, wobei allerdings Protektion im Freundeskreis - und natürlich waren es Freunde von Angelika gewesen - eine wesentliche Rolle gespielt hatte. Und nicht zuletzt half ihm auch seine erfreuliche optische Erscheinung, sein zudem einnehmendes Wesen, sodass man ihn - Anders - immer wieder gern mit mehr repräsentativen Aufgaben im Konzern betraute und sich dabei sicher sein konnte, dass er nicht nur die richtigen Worte, sondern auch die richtigen Lokale für die Kunden finden würde, in denen dann die eigentlichen Deals oder sonstige schwierige Verhandlungen in angenehmer Atmosphäre durch seine Chefs abgewickelt werden konnten. So hatte man schon manche Kuh vom Eis holen können …

    Die Rolle eines Frühstücksdirektors schien ihm auf den Leib geschnitten zu sein! Anders hätte zwar seine Aufgabe nicht gern so bezeichnet, war aber eigentlich sehr mit ihr einverstanden. Er erging sich nicht nur klaglos in ihr, sondern füllte sie begeistert - dabei in erster Linie von sich begeistert - aus.

    Sein Standing, sein Auftreten war dabei allerdings größtenteils Angelikas Werk, die fast jeden Morgen als moderne Kammerzofe gewirkt und peinlich darauf geachtet hatte, dass Anders in Optik und Ausstrahlung als der Prototyp des alerten Businessman schlechthin das Haus verließ, so in seinem Büro auftrat und genauso nach getaner Arbeit wieder zurückkehrte. Schließlich war ja auch immer mit den Blicken der Nachbarn zu rechnen. Was hätte die zu einem - womöglich noch in einem zerknitterten Anzug - daher schlurfenden Manager gesagt?!

    Und darauf war sie sehr stolz gewesen!

    Dass ihr Anders damit solch großartigen Erfolg hatte, dass sein Outfit und sein smartes Erscheinungsbild immer über jede Kritik erhaben waren. Es passte immer alles zusammen: Die Gürtelfarbe folgte den Schuhen! Oder umgekehrt. Die Krawatte dann jeweils entsprechend des Anlasses und nie übertrieben sowie Hemden - meist im klassischen Schnitt - nur mit Manschettenknöpfen. Hemden ohne Manschettenknöpfe? Das war schlechterdings unmöglich!

    Auf ihren Geschmack war Verlass und ein nicht unbeträchtlicher Teil des Einkommens wurde so in Garderobe investiert - natürlich auch in die ihre. Denn schließlich hatte auch sie gelegentliche Repräsentationsaufgaben. Und nach ihrem Geschmack hätten es auch gern mehr sein können. Auch jetzt noch, da die Berufstätigkeit Geschichte war, hätte ihr etwas Repräsentation schon gefallen.

    Auch jetzt noch stand sie morgens in höchster Konzentration vor Anders’ Kleiderschrank, um den Anforderungen des Tages die entsprechende, angemessene Garderobe bereit zu legen. Und selbstverständlich fanden sich in dieser weder ausgeleierte Unterwäsche, Hemden mit fragwürdigen, durchgewetzten Krägen oder gar ausgebeulte Oberbekleidung.

    Und mit Gelis' Wäscheritual war auch immer schon festgelegt, ob es heute in den Garten, in die Stadt oder zum Wandern gehen würde. Denn der Wochenplan war ebenfalls ihr Werk, das hatte sich bewährt im Laufe der Jahrzehnte. Warum sollte man das dann ändern?

    Doch anders als sonst hatte ihr Gatte heute seinen Dickkopf. Nein, heute war er keineswegs zur Unterordnung geneigt. Statt dessen rauschte ein Adrenalinsturzbach durch seine Adern. Für Anders ein ungewohntes Gefühl. Er räusperte sich umständlich, um auch noch die letzten Brotkrümel aus den hintersten Winkeln seiner Kehle zu locken und erwiderte:

    „Sag, ich habe ein Handballturnier. Bei den Alten Herren, also den ganz Alten."

    Dazu grinste er überlegen.

    Anstehende Handballturniere waren schon seit jeher ein Synonym bei ihnen dafür gewesen, schlicht keine Lust zu haben, privaten Einladungen oder sonstigen Verpflichtungen zu folgen. Und diese Vorliebe war bei den beiden eine Zeitlang recht ausgeprägt gewesen.

    Eigentlich am ausgeprägtesten bei ihm - Anders. Angelika wäre da schon hingegangen und hätte sich wahrscheinlich sogar recht gut unterhalten. Sie konnte das: Auch aus den lästigen Pflichten einen persönlichen Gewinn ziehen.

    Im Kreise der Verwandten galt Anders demzufolge eine Zeit lang als regelrechte Sportskanone, als jemand, der es im Handball noch weit bringen würde. Allerdings ließ sich die Handballstory dann doch nicht auf Dauer aufrecht erhalten und es gab als Ergebnis dessen innerhalb der Verwandtschaft schnell aufgebrachtes Blut. Die beiden wurden eine Zeitlang geschnitten und überhaupt nicht mehr zu Familientreffen eingeladen. Was sie dann doch ein wenig traf.

    Aber heute: Anders hatte einfach keine Lust mehr, diese Diskussion fortzuführen. Ihn selbst wunderte es, mit welcher Wucht sich plötzlich der Widerwille gegen irgendwelche Kompromisse und implizite Konventionen Bahn brach. Er würde an dem Seminar teilnehmen! Basta! Das war ihm jetzt wichtig. Ganz unglaublich wichtig!

    Chris und Barbara, ihr gemeinsamer Samstagabend waren ihm nun gerade mal wurscht. So einfach!

    Sonst war er ja auch immer konziliant, wenn es um Angelikas Themen ging. Machte eigentlich immer und überall gut gelaunt mit. Also bis auf die Literaturveranstaltungen. Bei denen nicht mehr. Aber im Allgemeinen hielt er sich für äußerst kompromissbereit. War es nicht die ganzen letzten Jahrzehnte so gewesen?

    Anders erhob sich vom Küchentisch, setzte sein Fernsehgesicht „Ich will jetzt nicht gestört werden!" auf, wechselte ins Wohnzimmer und schaltete das Gerät ein. Ein klares Zeichen, dass die Diskussion beendet war. Jedenfalls für ihn.

    Geli hingegen ließ ihn deutlich spüren, dass sie das ganz anders sah. Sie klapperte treppauf und treppab, schlug mit den Türen, ließ sich dort oben im Badezimmer im ersten Stock ein Bad ein, stellte dazu laute Musik an, sang falsch aber intensiv dazu und veranstaltete im ganzen Haus ein lebhaftes Hin und Her, sodass für Anders an einen entspannten Fernsehabend nicht zu denken war.

    Er wusste: Die nächsten Tage und Wochen würden schwierig werden …

    Das Wochenendseminar lag nun in Sichtweite und bedrohlich - wenn auch unausgesprochenermaßen - über dem Familienfrieden, als Geli ihrem Anders beim Frühstück am Montag nach dem ersten Advent und somit vier Tage vor dem Wochenendseminar eröffnete, dass sich für sie am kommenden Wochenende - und damit dem des Lachyoga-Seminars - eine einmalige Occasion für sie aufgetan habe! Die Occasion - sie benutzte diesen Ausdruck zweimal hintereinander - mit einer Freundin - die er übrigens bestimmt nicht kennen würde, nein ganz gewiss nicht - und damit zog sie dramatisch ihre Augenbrauen in die Höhe - in ein Wellness-Hotel im Salzburger Land zu fahren!

    Die letzten Wochen hätten ihr nervlich unsäglich zugesetzt! Das müsse er doch verstehen und das sähe er doch hoffentlich selbst, wie ausgelaugt sie sei. Oder etwa nicht?

    Und vor allen Dingen: Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit sei es dort doch so unglaublich entspannend und zudem noch preiswert …

    Und sie müsse einfach unbedingt Kraft tanken für die nächsten Wochen! Ganz klar, sie fühle sich mehr als erschöpft! Einfach nur grässlich!

    Er habe doch nichts dagegen, dass sie schon zugesagt hätte? Schließlich sei er doch auch verplant, nicht wahr?

    Anders verstand zuerst nicht, worum es da gehen sollte. Und dass seine Geli erschöpft sei? Das war ihm nun wirklich nicht aufgefallen. Hm … wovon denn eigentlich?

    Dann stieß ihm unangenehm auf, dass Angelika das Wort „Occasion so näselnd aussprach. „Occasion, Occasion

    Den Rest der Nachricht, nein, die eigentliche Information, dass seine Frau einmal wieder eigene Wege beschreiten wollte, um ihm eins auszuwischen, die hatte er gar nicht richtig erfasst.

    Aber immerhin hatte er das Kauen seines Honigbrötchens eingestellt.

    Geli lächelte - vielleicht ein wenig herablassend, weil ihr Anders jetzt nur dümmlich schaute, anstatt - wie sie befürchtet hatte, - zu insistieren, wer denn diese Dame, die so plötzlich aufgetauchte Freundin, sei. Denn schließlich hatte er doch eigentlich bisher einen recht guten Überblick darüber gehabt, was die Sozialkontakte seiner Frau anging.

    Aber von ihrem Mann kam weiter nichts …

    Das veranlasste sie, gleich noch nachzusetzen:

    „Und bitte sage doch bei Chris und Barbara gleich heute noch ab! Nicht, dass das schief geht und sie mit uns rechnen."

    Nun drückte ihr Lächeln auch noch etwas Triumphierendes aus. Ehe Anders reagieren konnte, stand sie vom Frühstückstisch auf und rauschte aus dem Zimmer.

    „Schatz - ich muss! Bis heute Abend!"

    Das war mehr über die Schulter gesprochen. Sie winkte kurz mit einem abgewinkelten Arm. So, als wolle sie eine lästige Fliege verscheuchen. Die Haustür klappte.

    „Was muss sie? Und das den ganzen Tag?" das fragte sich Anders, als er den Tisch abräumte. In seine stille Frage schlich sich eine leichte Sorge ein.

    TO LAUGH OR NOT TO LAUGH

    Wenn man Anders gefragt hätte: „Wie war es denn nun, dein Wochenende bei den Lachyogis?" - er hätte keine sinnvolle Antwort geben können.

    Aber es fragte später auch niemand. Angelika nicht, nachdem sie mit verhangenen Augen und nicht in bester Laune von ihrem Wellnesswochenende

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