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Vorläufiger Spurwechsel
Vorläufiger Spurwechsel
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eBook501 Seiten6 Stunden

Vorläufiger Spurwechsel

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Über dieses E-Book

Vorläufiger Spurwechsel

Bertram Kunold - langjähriger Angestellter des Städtischen Bauamtes - plant die Radwege der Stadt. Und somit ein wesentliches Element der verkündeten Verkehrswende. Dabei ist er kreativ bis zur Schmerzgrenze. Gelegentlich auch mal darüber hinaus, zumal es ihm als Eigenbrötler schwer fällt, sich unterzuordnen, Grenzen zu akzeptieren.
Allerdings: Ein wiederkehrender Albtraum erscheint Bertram als Menetekel für eine grundlegende Bedrohung seiner bisher gesicherten Lebensverhältnisse. Die neuesten Entwicklungen an seinem Arbeitsplatz wie auch die in seiner Ehe bestätigen seine Befürchtungen.
Eine zufällige Begegnung mit einer jungen Frau - Kirsten Kramer - löst für Bertram einen Erdrutsch aus. Denn auch jene Dame befindet sich in einer Lebenskrise, als sich die Wege beider Protagonisten kreuzen. Eine Konstellation, die weite Kreise bis in die Stadtgesellschaft, in Politik und Wirtschaft ziehen wird.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum26. Aug. 2021
ISBN9783347373075
Vorläufiger Spurwechsel

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    Buchvorschau

    Vorläufiger Spurwechsel - Rüdiger Steindl

    Kapitel 1 - Der Traum

    Bertram sah sich im Treppenhaus des Landesgewerbemuseums stehen. Seine Haltung war leicht vornüber gebeugt. Er rastete ein wenig auf dem Podest des zweiten Stockwerks. Nicht freiwillig, der Grund war: Das Treppensteigen fiel ihm seit einiger Zeit schwer. Luftnot infolge einer beginnenden Herzinsuffizienz.

    Sicher hätte er die Empfehlungen seines Arztes ernster nehmen und regelmäßig Sport treiben sollen. Und gesünder essen sicher auch. Er war bemüht, die Kurzatmigkeit vor sich und seiner Umwelt zu kaschieren, indem er scheinbar versunken das weitläufige Treppenhaus dieses architektonischen Juwels der Stadt mit seiner marmornen Treppe und den polierten, steinernen Säulen, die das Treppenhaus begrenzten, betrachtete.

    Die Anlage der Treppenkonstruktion, seine Ausführung -eben das gesamte Treppenhaus - erzeugte bei den meisten Betrachtern eine Atmosphäre der Weite und Großzügigkeit, welche zudem durch die auf den einzelnen Stockwerken installierten gläsernen Vitrinen verstärkt wurde, in denen historische goldene Uhren und ausgefallene Uhrwerke vor sich hin schimmerten und dabei für sonnenfarbene Lichtreflexe sorgten.

    Dieses Treppenhaus mit seiner marmornen Opulenz erhob sich damit über den profanen Alltag seiner Besucher und machte einen jeden, der es betrat, zu einem kleinen Teil dieser neobarocken Kulisse.

    Allerdings galt das jetzt, hier in diesem Traum nicht für jenen Bertram, der sich auf dem Weg zu seinem im dritten Stockwerk gelegenen Arbeitsplatzes befand. Er hatte sich nun an die marmorne Geländerbrüstung gelehnt, um völlig ungläubig zunächst nach oben und dann nach unten zu spähen.

    Ungläubig - aber auch irritiert, denn gleich würde er sich sehr wahrscheinlich - zusammen mit dem Treppenabschnitt, auf dem er gerade stand - im freien Fall befinden. Die Wand zu seiner Rechten war plötzlich mit lautem Getöse und Entwicklung riesiger Staubwolken eingestürzt, das steinerne Geländer zu seiner Linken befand sich in ausladenden Schwingungen und würde ebenfalls demnächst in sich zusammenbrechen. Bertram beobachtete, wie sich hier kleine Risse, die sich rasch verbreiterten, mit einem knirschenden Geräusch durch den Marmor fraßen und dabei kleine weißliche Staubwolken entwickelten.

    Binnen Kurzem sah Bertram, der eigentlich nur im Begriff gewesen war, etwas Luft zu schöpfen und dabei die Großzügigkeit des Ambiente vor seinem Dienstantritt - sozusagen als philosophischen Gegenentwurf zu seinem Leben in seiner kleinen Amtsstube - auf sich wirken zu lassen, dass im Bereich der Treppenstufen über ihm ebenfalls plötzlich eine große Lücke klaffte. Es würde schwer, wenn nicht sogar aussichtslos für ihn werden, den scheinbar noch sicheren Boden des Treppenabsatzes im dritten Stockwerk zu erreichen.

    Bertram richtete seinen Blick weiter nach oben. Hier nun hatten sich die Kolleginnen und Kollegen seines Stockwerkes - winkte ihm da nicht Frau Sauer, die ehemalige Personalrätin, zu? - an der großen umlaufenden Balustrade versammelt und blickten teils besorgt, teils spöttisch, einige wenige - wie es Bertram schien - auch höhnisch auf ihn herab und kommentierten das Geschehen. Dabei ging es in erster Linie um Bertrams Chancen, dieser Situation unbeschadet zu entkommen. Vereinzelt wurden Wetten auf sein Schicksal abgeschlossen.

    Bertram blickte sich um. Er war ohnehin schon spät dran gewesen. Dass er nun -- wenn überhaupt - seinen Arbeitsplatz verspätet einnehmen würde, erzeugte in ihm ein ausgeprägtes Gefühl der Missbilligung, war Pünktlichkeit doch ein Eckpfeiler seines Wertekanons.

    Vielleicht wäre es da besser, den sofortigen Rückzug anzutreten. Doch auch der -- das musste Bertram nun feststellen, nachdem er sich über das Geländer gebeugt und die Situation unter sich begutachtet hatte - war nun durch den unter ihm eingebrochenen Treppenabsatz verstellt. Zu allem Überfluss geriet auch das bisher scheinbar sichere Podest, auf dem Bertram ausharrte, ins Wanken.

    Sein Schicksal schient besiegelt. Sein Standplatz begann nun ebenfalls rhythmisch zu schwanken, um kurze Zeit später mit infernalischem Getöse und weiteren aufstiebenden Staubwolken wegzubrechen und ihn mit in die Tiefe zu reißen. Bertram verwunderte es im Sturz, dass ein Gefühl von Panik, Angst oder Bedrohung die ganze Zeit über bei ihm ausgeblieben war…

    Bertram schnappte nach Luft und setzte sich ruckartig in seinem Bett auf. Diesen Albtraum hatte er in den letzten Tagen nun bereits mehrere Male durchlitten und war dabei jedes Mal schweißnass aufgewacht. Er spürte eine Enge in der Brust, der Puls dröhnte ihm in den Ohren. Er schwitzte, das Wasser lief ihm in die Augen.

    Seine Frau Ulla hingegen lag wie auch in den vergangenen Malen seines Albs friedlich schlafend an seiner Seite und hatte von dem Tumult, der neben Bertrams innerem Aufruhr auch zu einem zerwühlten Bettlaken, einem verschwitzten Kopfkissen und einer teilweise ihrem Bezug entrissenen Bettdecke geführt hatte, nichts mitbekommen. Sie hatte sich soeben von ihm weggedreht, schnaufte kurz auf und schmatzte dann wohlig vor sich hin. Dieses hingebungsvolle Schmatzen erzeugte bei Bertram ein leises Gefühl der Verbitterung.

    Ulla zu wecken und um Trost - in welcher Form auch immer - zu bitten, das hatte Bertram zwar zunächst erwogen, aber es dann doch gelassen. Schließlich: Was sollte das bringen?

    Er war ja kein kleiner Junge mehr. Auch wenn Ulla von Zeit zu Zeit dies in ihrem Kreis von Freundinnen so kolportierte, wenn ihm - wie jedem anderen Menschen eben auch - kleine bis klitzekleine Fehler unterliefen oder er es mit seinen hin und wieder aufblitzenden Unzulänglichkeiten, zum Beispiel einer scheinbar grundlosen Melancholie, manchmal auch lähmenden Ängstlichkeit - zu tun hatte. Trost bei durchlittenen Albträumen war in seinem Alter nicht mehr vorgesehen. Das meinte er jedenfalls. Hinzu kam: Die Symbolik schien ihm eindeutig. Oder etwa nicht? Das Thema hieß doch: Bertram im freien Fall! Was für ihn nach kurzem Grübeln übertragen bedeutete: Alles als sicher Geglaubte zerfiel! Oder würde zerfallen! So, wie die weltweit abschmelzenden Gletscher. Dem saturierten, in bekannten, gleichförmigen Bahnen verlaufenden - manchmal auch langweiligen - so bequemen Leben würde die Grundlage entzogen werden. Vermutlich bald…

    So einfach!

    Bertram jedenfalls fürchtete im Moment nichts mehr, als diese Thematik mitten in der Nacht mit seiner Ehegattin zu diskutieren. Diskutieren zu müssen, nachdem diese eine glühende Vertreterin einer zu großen Teilen selbst gestrickten Küchenpsychologie war, mit deren Hilfe sie bisher recht erfolgreich - das musste Bertram allerdings zugeben - größere Krisen umsegelt hatte. Dieser Traum wäre ein gefundenes Fressen für sie. Klar und selbsterklärend. Eine Drohung, ein Orakel für eine vor Bertram liegende Krise. Keine Frage!

    Jedoch hätte auch Ulla zu nachtschlafender Zeit keine Freude an derartigen Exegesen gehabt. Hier war sich Bertram sicher. Auch das war ein Argument für ihn, sie mit seinem Albtraum nicht zu behelligen, sondern an der Schimäre allein herum zu kauen.

    Bei Bertram hatte sich nun auch noch Herzrasen eingestellt, das ihn zu einer flachen Atmung zwang. Er lag auf dem Rücken und starrte ins Halbdunkel des Schlafzimmers. Morgen würde er einen Arzt aufsuchen müssen. Er fürchtete sich davor, davon auch Ulla zu berichten. Die würde entweder sofort einen Notarzt alarmieren oder - das war gar nicht mal so unwahrscheinlich - ihn nicht ernst nehmen, ihn der Gleisnerei bezichtigen. Bertram würde sich als inkompetenter Patient oder als Simulant fühlen. Beides wollte er nicht, und so versuchte er durch bewusstes Atmen ein wenig zur Ruhe zu gelangen.

    Einige Zeit später suchte er das Bad auf und trank anschließend in der Küche ein Glas Wasser. Die Küchenuhr zeigte auf halb drei. An ein Aufstehen um diese Uhrzeit ohne investigative Fragen durch seine Frau war nicht zu denken und so taperte er in das gemeinsame Schlafzimmer zurück. Leise ächzend richtete er sich wieder in seinem Bett ein.

    Bertram schnaufte missmutig, nachdem der Schlaf nicht sogleich kommen wollte. Statt dessen waberten weitere Traumfetzen an ihm vorüber, gegen die er sich mit Gedanken an den vor ihm liegenden Arbeitstag zu wehren versuchte. Das Gefühl, dass sich sein Leben ohne sein Zutun in Kürze radikal verändern würde - dieses wohl auch nicht zum Positiven - saß auf einmal tief in seiner Brust und ließ sich nicht verscheuchen. So wälzte er sich weiter unruhig hin und her. Erst kurz vor dem Weckerklingeln fiel er in einen traumlosen Schlaf.

    Das gemeinsame Frühstück gegen sieben Uhr war für Bertram, der zerknittert am Tisch saß und dumpf vor sich hin starrte, eine Prüfung. Denn Ulla war bester Dinge und ließ ihn das auch mit ihrem Geplapper ununterbrochen wissen.

    Ob er denn gut geschlafen hätte, was der Tag bei ihm denn so bringen würde. Vor allem: Ob er nicht nach Dienstschluss noch kurz im Supermarkt etwas einkaufen könne? Sie käme einfach nicht dazu! Ach ja: Eine Liste der fehlenden Artikel hätte sie bereits geschrieben. Die läge auf der Kommode im Flur. Genau! Und - das hätte sie fast vergessen: Butter wäre auch zu besorgen. Aber bitte nur die Sauerrahmbutter!

    „Hörst du!?", fügte sie ermahnend hinzu. Bertram nickte stumm und brachte das Frühstück mit scheinbar stoischem Gleichmut hinter sich. In Wirklichkeit brodelte es in ihm. Schon aufgrund des nächtlichen Albs, der ihn völlig verkatert und erschöpft hatte aufwachen lassen.

    Ihm hätte es nichts ausgemacht, wenn grundsätzlich ein generelles Schweigen bis zum Mittag angeordnet worden wäre. Nein, er hätte das begrüßt.

    Auf dem Weg zur Arbeit grübelte Bertram weiter vor sich hin. Die Straßenbahn war leerer als gewöhnlich - es waren noch Schulferien. Bertram hatte sich wieder gefangen, das Herzrasen war verschwunden, das hatte er erleichtert bereits beim Verlassen der Wohnung festgestellt. Beim Gewerbemuseum stieg er aus und strebte zügig dem Gebäude zu.

    Der Fahrstuhl, der ihn in den dritten Stock zu seinem Büro bringen würde, lag direkt an einem Nebeneingang, jedoch außer Sicht der Haupteingangshalle mit ihrem imposanten weitläufigen Treppenhaus. Bertram benutzte diesen Fahrstuhl eigentlich immer. Heute jedoch begab er sich unter dem Vorwand, aus gesundheitlichen Gründen die Treppe anstatt des Fahrstuhls zu benutzen, zum Haupttreppenhaus. Eben jenes Bauwerk, welches in seinem Traum so gelitten hatte, in sich zusammengestürzt war. Jedoch: Diesem Treppenhaus fehlte augenscheinlich nichts und es gab auch keinerlei Anzeichen, dass sich das so schnell ändern könnte. Die Besucher und Kollegen, die ihren Arbeitsplätzen zustrebten, machten ebenfalls nicht den Eindruck, dass zu Sorgen Anlass bestünde.

    Erleichtert durchquerte Bertram die Eingangshalle, um nun doch den zweiten Fahrstuhl auf der dem Innenhof gegenüberliegenden Seite zu benutzen. Das Gefühl umfassender Erleichterung sollte nicht durch eine Luftnot oder durch Schweißausbrüche infolge des Treppensteigens geschmälert werden.

    Für sportliche Aktivitäten wäre ja später, nach Feierabend, noch Zeit genug…

    Kapitel 2 - Verrat

    Kirsten war heute spät dran. Eigentlich war sie immer spät dran. Kirsten führte ein Leben im Laufschritt. Sie konnte nicht anders. Sie konnte sich auch nicht mehr daran erinnern, dass das vielleicht einmal nicht so gewesen war. Dass man Dinge auch entspannt und mit Muße erledigen konnte. Nein, sie war eine Getriebene und reichte das Getriebensein auch freigiebig an ihre Umgebung weiter. Jeder sollte sich ruhig gehetzt fühlen! Entsprechend übersichtlich war daher ihr Freundeskreis.

    Kirsten fand, ihr Leben war eben zu dicht gewebt, voller überbordender, überfordernder Reize, welche auf augenblickliche Antwort oder Umsetzung drängten. Deswegen musste immer alles jetzt und sofort sein, musste alles simultan erledigt werden: der Abwasch, das Telefonieren, Putzen, das Schreiben von Einkaufslisten, Mails. Und das alles möglichst unter einem dichten Klangteppich des Radios oder Fernsehers.

    So, wie auch gestern am späten Abend: Da bügelte sie ihre Blusen, trank dabei in schneller Folge verschiedene Gläser Wein, bekam daraufhin einen nagenden Hunger, den sie zunächst mit einer angetrockneten Butterbrezel zu befriedigen suchte, schob dann noch die beiden prophylaktisch vorbereiteten Käsebrötchen hinterher, telefonierte simultan aufgeregt und lange mit ihrer Freundin Luisa. Das Telefon hatte sie zwischen Ohr und Schulter geklemmt, von wo es sich von Zeit zu Zeit davon stahl und auf den Teppichboden rumpelte. Was Kirsten aber nicht abhielt, die Hetzjagd durch ihr Leben fortzusetzen. Die Blusen wollten schließlich gebügelt werden, Hunger und Durst waren eben da und der Mega-frust, der seit einer Stunde auf ihr lastete - den musste sie sich unbedingt jetzt, ja genau jetzt von der Seele reden!

    Jenen Megafrust, der darin bestand, dass sie ihr Typ, dieser oberdumme Carsten, mit dem sie nun mit Unterbrechungen bereits seit sechs Jahren zusammen gewesen war, betrogen hatte! Sie wegen einer anderen hatte sitzen lassen! Oder zumindest dabei war, das zu tun! Es war auch nicht das erste Mal, dass er sie betrog. Kirsten war wieder per Zufall drauf gekommen, weil der Idiot von Carsten sein Smartphone auf dem Couchtisch so gut sichtbar deponiert hatte.

    Genau in dem Augenblick, in dem sie endlich mal verbindlich klären wollte, wann er - Carsten - denn gedenke, mit ihr - Kirsten - zusammenzuziehen, war die verräterische WhatsApp von der Schlampe eingelaufen. Es hatte ja wieder mal so kommen müssen!

    Und sie hätte es wissen können! Das waren die ersten, spontanen Gedanken, die Kirsten durchzuckt hatten.

    „Wann kommst du denn endlich? Ich habe solche Sehnsucht nach dir!!!!", war da zu lesen gewesen - umrahmt mit lauter grässlichen Emoji.

    Sie hatte es ja schon neulich - eben genau vor einer Woche - geahnt, dass da wieder so eine neue, wahrscheinlich blutjunge Schnepfe aufgetaucht sein musste und an ihrem Carsten herum gegraben hatte. Carsten hatte an diesem Abend wegen absoluten Nichtigkeiten einen Streit vom Zaun gebrochen und war dann mit viel Getöse und einer beleidigten Miene - von der Kirsten wusste, dass er die vorher ausdauernd geübt haben musste - aus ihrer Wohnung abgezogen. Man könne ja mit ihr nicht vernünftig reden! Nichts ließ sich mit ihr einvernehmlich klären! Jedenfalls nicht so, wie das andere Paare machten!

    Kirsten hatte geschnieft und sich gedacht: So ein Schmarrn! Der Typ kriegt doch sonst fast nie seinen Mund auf! Was wollte der denn klären?

    Aber der Auftritt von voriger Woche hatte ihr schon zu denken gegeben. Kirsten hatte das Gefühl eines Déjà Vu. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass ihr süßer, kleiner Carsten - denn es war ja bis zu diesem Augenblick ihr Carsten gewesen, oder nicht? - den Versuchungen der vielen Sirenen erlegen und damit genau genommen nur das Opfer war.

    Ihre Freundin Luisa hatte sie allerdings schon seit Jahren vor dieser Liebschaft gewarnt. Sie hätte so ein Gefühl, dass diese Liaison für ihre Freundin nicht gut ausgehen könne! Ihr nicht gut täte! Das wäre von außen ganz klar zu erkennen!

    Sie war nicht müde geworden, dies mehrfach und ungefragt kund zu tun. Meistens schob sie die Bemerkung nach: „Schon allein die Vornamen des Paares, das da über so lange Zeit nicht wirklich zueinander gefunden hat, sprächen dagegen: Carsten und Kirsten - das hörte sich an wie „Pat und Patachon und lag damit assoziationsmäßig direkt neben „Dick und Doof! Das ginge eigentlich gar nicht!"

    Die wenigen Sekunden der Aufdeckung jenes Verrats - wieder einmal! - war ein Dolchstoß mitten in Kirstens Herz gewesen. Das ihr so vertraute Fanal des eigenen Unterganges! Mit der plötzlichen Erkenntnis, schamlos hintergangen, betrogen und belogen worden zu sein!

    Wie lange ging denn das nun schon wieder? Hielt Carsten sie denn für so blöd? Allem Anschein nach schon. Das war die Lage. Leider!

    Kirstens Gesichtszüge waren entgleist. Eine Welle unbändiger Wut war nun über sie geschwappt. Die zweite Gefühlswallung würde die Verletzung sein. Sie hatte die Lippen aufeinander gepresst, ihre Augen glitzerten vor Zorn. Kirsten ähnelte inzwischen einem Dampfkochtopf, der in Folge eines defekten Sicherheitsventils unmittelbar vor der Explosion stand.

    Der Vorfall hatte nur Sekunden gedauert, aber Carsten hatte sofort gewusst, worauf das nun hinauslaufen würde. Er hatte ebenfalls einen hochroten Kopf bekommen, dann aus Versehen hektisch das Gerät des Anstoßes vom Tisch gefegt, um anschließend seine Siebensachen zusammen zu sammeln und zu versuchen, fluchtartig vor der nahenden Explosion Kirstens Wohnung zu verlassen. Was jene aber geistesgegenwärtig dadurch zu unterbinden wusste, indem sie seine Jeans blitzschnell an sich genommen und wutentbrannt durch das geöffnete Fenster in den Garten geworfen hatte. Carstens Beinkleider waren zu diesem Zeitpunkt im Zuge eines von Kirsten taktisch eingefädelten Liebesspiels - so als kleine Motivationshilfe für die weitreichende Entscheidung zugunsten einer dauerhaften gemeinsamen Zukunft - zu einem auf dem Teppich liegenden Knäuel mutiert gewesen.

    Allerdings - das sollte sich dann am nächsten Morgen zeigen - hatte jenes Stoffknäuel bei seinem Flug nicht den Rasen im Hinterhof erreicht, sondern sich auf seinem Sturz aus dem vierten Stockwerk entfaltet und sich in einer Fichte verfangen. Ein launiger Wind fuhr nun durch die Hosenbeine und ließ sie lustig flattern. Carstens Fluchtreflexe wie auch jegliche libidinösen Regungen waren auf der Stelle ausgebremst, in sich zusammengefallen. Er hatte, nachdem die verräterische Nachricht eingelaufen war und Kirsten unmittelbar vor der Explosion stand, nur kurz ungläubig aufgestöhnt und war dann auf dem Sofa in sich zusammengesunken.

    Kirsten schnaufte wütend auf, ein erneuter Blutschwall hatte sich in ihr Gesicht ergossen, das nun die Farbe einer reifen Tomate angenommen hatte.

    „Wie kannst du es wagen?"

    „Wie lange geht das schon?"

    „Was denkst du dir eigentlich, wer du bist, dass du dir so was rausnimmst?"

    Diese Fragen hagelten als ein Stakkato auf Carsten ein, ohne dass sie konkrete Antworten darauf erwartet hätte. Dabei hieb sie mit kleinen, unkoordinierten Schlägen auf den Missetäter ein, der nach wie vor scheinbar unbeteiligt auf dem Sofa kauerte, seinen Oberkörper aus Schutz vor den Schlägen eingerollt hatte und dabei dumpf vor sich hin stierte.

    Er hatte beschlossen, dieses Donnerwetter ohne irgendeine Gegenwehr über sich ergehen zu lassen. Sozusagen als seine Buße. Als Büßergang auf den Kalvarienberg seiner moralischen Verfehlungen! Hier und jetzt! Eben eine Leidenswanderung für treuloses Verhalten.

    Kirstens Energie erlahmte. Auf Carsten einzuschlagen, war wie auf ein Federkissen zu klopfen. Oder einen zähen Hefeteig zu traktieren. Sie traf nur auf einen diffusen Widerstand, was sie sehr frustrierte. Die einzig für sie wahrnehmbare Reaktionen bei Carsten waren die von ihrer Attacke hervorgerufenen kleinen roten Flecken auf seiner Schulter und sein präventives gelegentliches Zusammenzucken vor den nächsten Schlägen.

    Kirstens in die Leere laufende Wut wandelte sich so schnell in eine abgrundtiefe Niedergeschlagenheit, ein Gefühl der absoluten Niederlage und Sinnlosigkeit, sich gegen ihr Schicksal auflehnen zu wollen. Was hatte sie denn schon so einer jungen Schnepfe entgegenzusetzen? Und um eine solche musste es sich ja zweifelsfrei handeln, wenn ihr Carsten auf diese so einfach hereingefallen war. Sie wusste es ja seit langem: Er war ja auch so leicht zu beeindrucken!

    Bestimmt war er nur auf sie hereingefallen! Anders konnte es ja gar gewesen sein! Sicher tickte bei diesem Weibsbild noch lange nicht die biologische Uhr! Bestimmt hatte die auch nicht die geringsten Runzeln oder gar Orangenhaut zu verbergen! Es war einfach nur … Scheiße! Genau das war es.

    Kirsten wurde nun von einem Weinkrampf geschüttelt, ließ von Carsten ab und schlug die Hände vor ihr Gesicht, was jener augenblicklich dazu nutzte, unvollständig bekleidet das Weite zu suchen. Kirsten hörte nur noch wie durch einen dichten, dunklen Vorhang, wie die Wohnungstür von außen zugezogen wurde. Ein Geräusch, das sie seit ihrer frühen Kindheit mit Verlust in Verbindung brachte und vor dem sie auch noch im Erwachsenenalter Angst hatte.

    Bei diesem Geräusch überfiel sie schlagartig das Gefühl von grenzenloser Einsamkeit, gepaart mit dem einer absoluten Leere. Gleichzeitig befand sie sich in einem nervösen Alarmzustand, der sie kalt schwitzen ließ und ihren Puls in schwindelerregende Höhe trieb. Sie fühlte sich flau, wie als wenn sie lange nichts gegessen hätte und das Licht fing an zu flirren. Irgendjemand schien ständig Lametta durch das Zimmer wehen zu lassen. Es würde nicht lange dauern und schon würden die wohl bekannten Kopfschmerzen an ihrer Seite stehen, um sie die nächsten beiden Tage in Beschlag zu nehmen. Wenn, ja wenn sie nicht sofort etwas dagegen unternehmen würde. Das Motto für die kommenden Stunden hieß also: Aktion, Aktion, Aktion!

    Bügeln war da nicht das Schlechteste und so brachte sie ihr Bügeleisen in Stellung, holte sich diese vertrocknete Butterbrezel aus der Zirbenholzkiste, in welcher sie ihr Brot aufbewahrte, zusätzlich zwei Käsebrötchen. Dann entkorkte sie einen schweren Rotwein und griff zum Telefon.

    Die Welt musste von dieser Schmach erfahren - und wenn die heute auch nur in durch ihre Freundin Luisa repräsentiert wurde und deren Abendprogramm nun für die nächsten beiden Stunden von den neuesten tragischen Entwicklungen in Kirstens Leben bestimmt wurden. Die Butterbrezel wie auch die Käsebrötchen verschwanden in schneller Folge in ihrem Mund. Ebenso versiegte der Inhalt der Rotweinflasche und musste in einer kleinen Gesprächspause - Luisa musste mal zum Klo - durch eine neue ersetzt werden.

    Kirstens Nacht war dann schrecklich geworden. Speisen und Getränke hatten den Weg nach oben genommen, die Kopfschmerzen hatten sich durch die Bügelsession, das ausgedehnte Telefonat, den vielen Rotwein keineswegs austricksen lassen und spielten in ihrem Hirn ausdauerndes Kesselschmieden. Noch fürchterlicher war das Erwachen am nächsten Morgen.

    Kapitel 3 - Im Büro der Stadtplanung

    „Du siehst aber heute verknittert aus!"

    Das waren die Worte von Anja Schramm, die Bertram auf dem Flur in Höhe der Teeküche begegnet war und ihm dieses kleine Kompliment machte. Sie war seit neuestem Projektmanagerin für das Straßenbegleitgrün der Parkbuchten. Und zwar für jenes der Tempo-30-Zonen. Allerdings nur für den Innenstadtbereich. Eine wahrlich staatstragende Aufgabe, deren hauptsächlicher Inhalt die Akquise von sogenannten Baumpaten umfasste. Es waren in der Regel die älteren Leute aus der Nachbarschaft, die sich um das Wohlergehen der Bäume und deren Pflanzscheiben kümmern würden und somit durch ihr Engagement den Stadtsäckel bei den Aufwendungen zur Pflege des Straßengrüns entlasten sollten.

    Anja Schramm, eine dunkelhaarige - auf den ersten Blick eher unscheinbare - junge Frau war erst seit einigen Monaten hier im Amt tätig, wurde aber in der Verwaltung, beziehungsweise von ihren Vorgesetzten von Anfang an als „High Potential" gehandelt. Es schien also ratsam, sich mit ihr gut zu stellen. Etwas, was Bertram allerdings bisher keine Probleme bereitet hatte, nachdem er sie - unausgesprochen aber im gemeinsamen Einvernehmen - als seinen persönlichen Trainee adoptiert hatte. Sie konnte Unterstützung in ihrem ersten Job nach dem Studium zur Landschaftsarchitektin gut gebrauchen und hatte sich sein Mentoring auch gern gefallen lassen, da Bertram hierbei nur ganz dezent zu Werke gegangen war. Sie hatte sich unterstützt, aber nie gegängelt gefühlt.

    Seit einer Woche war sie außerdem zum Teamlead ernannt worden, eine Aufgabe im Bauamt, die Bertram bis dahin für völlig entbehrlich gehalten hatte. Zumal auch bis heute völlig im Dunkeln lag, wer außer eben Bertram zum Team gehörte und was genau ihre Aufgabe sein sollte. Bis jetzt genoss er ganz einfach die Zusammenarbeit mit einer umgänglichen, für ihn gut aussehenden jungen Dame, die meistens ausgeglichen, gut drauf war und gelegentlich sogar ihre Umgebung mit ihrer guten Laune anstecken konnte. Für ihn war das eine der wesentlichen Schlüsselqualifikationen, die Kolleginnen und auch Kollegen in einer Behörde mitbringen sollten. Fachkenntnis konnte man ja schließlich immer noch erwerben.

    „Kaffee ist gerade durchgelaufen!"

    Anja deutete auf die Kaffeemaschine, ein konventionelles Modell, das perfekt in die verstaubte Amtsstube hineinpasste und asthmatisch vor sich hin röchelte.

    Nachdem sie bemerkt hatte, wie der Kollege heute morgen drauf war, wollte wenigstens sie ihn ein wenig aufmuntern, gute Stimmung verbreiten.

    „Magst einen?", fügte sie an und lächelte spitzbübisch.

    Bertram mochte genau dieses Lächeln an ihr - so wie manches andere - und nickte dankbar. Die Schatten der Nacht hatte er immer noch nicht gänzlich abstreifen können. Anjas Lächeln war nun Trost und Balsam für Bertrams Seele. Auch an den übrigen Tagen strebte er für dieses Lächeln so gern seiner Dienststelle zu. Was er sich und anderen gegenüber allerdings nie eingestanden hätte.

    Ja, das war das Schöne hier im Amt für den Öffentlichen Raum, dem Bauamt, fand Bertram. Man achtete auf einander. Unterstützte sich, ließ auch einmal fünfe gerade sein. Manchmal durchaus auch mehr als fünfe… Konflikte? Stress mit Kollegen und Kolleginnen? So etwas gab es hier nicht, hatte es einfach nicht zu geben. Das war die offizielle Moral der Amtstube. Konflikte gab es nur mit der Außenwelt! Davon allerdings mehr als genügend.

    Bertram reckte sich etwas und lächelte verbindlich.

    Mit beiden Händen nahm er die Kaffeetasse, die ihm Anja entgegengehalten hatte. Dann nickte er ihr dankbar zu und strebte seinem Arbeitsplatz entgegen. Der Kaffee war perfekt - mit etwas Milch. Exakt so, wie ihn Bertram mochte und nur hier im Amt bekam. In seiner persönlichen Oase, wie er diesen Ort manchmal scherzhaft sich selbst gegenüber nannte.

    Bertram bemühte sich im allgemeinen, nach außen hin ein engagierter Mitarbeiter zu sein, der sich strikt an Recht und Gesetz hielt. In seinem Falle waren das - neben den direkten Anweisungen seines Chefs - die einschlägigen kommunalen Vorgaben und Verordnungen.

    In Wirklichkeit war er jedoch ein Freigeist, der oft in Opposition zu seiner Umwelt und deren Anforderungen und Gesetzen stand. Seit seiner Kindheit war er ein Einzelgänger mit Neigungen zu teils heftigen anarchischen Ausbrüchen. Das machte seinen Job so anstrengend, so ermüdend. Schließlich musste er diese Impulse tagtäglich unterdrücken und sich anpassen. Und das nicht nur hier im Amt, sondern auch zu Hause. Ulla hatte so gar kein Verständnis für seine gelegentlich ausbrechenden Allüren, wobei das nächtliche Frühstück mit Kaffee, gekochten Eiern, klappernden Geschirr um halb zwei Uhr morgens eines der harmlosesten war, jedoch seine Gattin regelmäßig aus dem Schlaf riss und für nachhaltige Verstimmung bei seiner Frau sorgte.

    Auf seiner Arbeitsstelle ging es ihm inzwischen jedoch an die Substanz, Darsteller und manchmal auch Hauptdarsteller in einem nicht selten absurden Theaterstück zu sein, das sich „Öffentliche Verwaltung im Spannungsfeld der Kommunalpolitik und Bürger" nannte. Da brauchte es eben manchmal diese kleinen Fluchten, wie die Kaffeegeplänkel zum Beispiel von soeben, die kleinen Avancen, vielleicht auch dezentes Flirten, das allerdings für Außenstehende nicht so aussehen durfte.

    Und seine Rolle in diesem Theaterstück?

    Bertram plante die Radwege der Stadt…

    Nicht, dass ihn irgendetwas hierfür besonders qualifiziert hätte. Bertram war weder Stadtplaner noch Tiefbauingenieur oder fuhr gar gerne Fahrrad. Er war einfach ein Verwaltungsfachmann - mit FH-Abschluss. Er hatte sich auch nicht auf diese Position beworben, als er noch im städtischen Friedhofsamt im Referat ÜGG - überhängendes Großgrün, vulgo Bäume - Dienst tat.

    Diese Aufgabe war irgendwann während einer längeren Fehlzeit des hauptamtlichen Radwegeplaners an ihn herangetragen worden, nachdem jener plötzlich einen Burn-out für sich reklamiert hatte. Man wusste in der Verwaltung, wohin Burn-out in der Regel führte…

    Und seitdem plante er Radwege und Stellflächen für Zweiräder.

    „Vergiss heute bloß nicht den Termin mit dem Bauausschuss im Bürgermeisteramt!"

    Das war wenig später wieder Anja. Sie hatte ebenfalls eine Kaffeetasse in der Hand und stand vor Bertrams Schreibtisch. Bertram hatte sie gar nicht kommen hören, da er gedankenverloren aus dem Fenster gestarrt hatte, während er sich dem Kaffee widmete.

    „Du weißt, dass die zweite Bürgermeisterin, die Frau vom Baulöwen Gleissner, die Präsentation zu den umgesetzten Radwegeprojekten der letzten sechs Monate will!"

    Sie krauste die Stirn - etwas, was Bertram auch immer sehr gut an seiner Kollegin gefiel - und fuhr fort:

    „Es ist ja bald Kommunalwahl und da will sie etwas vorweisen können! Und zwar Erfolge beim Ausbau der Radwege zur Verkehrswende!"

    Nach einer kleinen Pause, in der sie ihren Kollegen kritisch gemustert hatte, fügte sie an: „Ich hab ihr den Bericht versprochen! Für heute!!"

    Bertram war voll und ganz mit der Beobachtung von Anjas Mienenspiels beschäftigt und nahm ihre Mahnung kaum zur Kenntnis. Außerdem: Hatte sie da eigentlich etwas zu mahnen? Diese Frage stellte er sich nun vage, nachdem eine gewisse Schärfe in ihrer Stimme zu ihm durchgedrungen war.

    „Hallo! Hallo!"

    Anja klopfte auf die Tischplatte, nachdem sie Bertram mit offenen Augen im Tiefschlaf wähnte.

    „Die nimmt auch an der Sitzung teil. Also blamier uns nicht!"

    „Ach? Sind schon wieder fünf Jahre rum?"

    Das war seine alleinige Reaktion. Bertram blickte uninteressiert in die inzwischen leere Kaffeetasse.

    Anja rollte ihre Augen zur Decke. Es würde mit diesem Kollegen schwierig werden …

    Sie hatte es während ihrer Einarbeitung schnell bemerkt: Bertram war ein ausgemachter Sturkopf und ließ sich ungern etwas sagen.

    Dabei war sie überzeugt: Man, genauer Bertrams Vorgesetzter, hatte jenen auch zu lange völlig unbeaufsichtigt vor sich hin wursteln lassen. Diesen Umstand zu korrigieren, das sollte neben der Baumpflege ihr eigentlicher Job werden. Karl-Josef Albrecht, ihr gemeinsamer Chef, hatte ihr diese Aufgabe bei der Ernennung zum Teamlead, welche allerdings nur unter vier Augen erfolgt war, mit auf den Weg gegeben.

    Dem Kollegen Bertram Kunold seien disziplinarische, besser: „freundschaftlichkollegiale Grenzen" zu setzen. Seine Extrawürste und sein solipzistisches Herumwursteln wären nicht mehr akzeptabel! Auch wenn er schon lange als Sachbearbeiter in seinem Zuständigkeitsbereich tätig war! So hatte Referatsleiter Albrecht geschwallt und dabei mit dem Kopf gewackelt.

    „Da haben wir in der Vergangenheit versäumt, bei ihm die Zügel anzuziehen. Leider!"

    Albrecht fuhr sich mit der rechten Hand über den kahlen Schädel.

    „Tja, aber diese Alleingänge von ihm, die können wir nicht mehr tolerieren."

    Er blickte Anja auffordernd an.

    „Was sagen Sie, Frau Schramm? Ist Ihnen bei Ihrem Kollegen diese Neigung nicht auch aufgefallen?"

    „Was meinen Sie da genau, Herr Albrecht?"

    Jener zögerte mit einer Antwort, wand sich nun auf seinem komfortablen Vorgesetztensessel und signalisierte körpersprachlich, dass er keine validen Beispiele für seine Aussage hatte.

    Anja hätte durchaus einige gehabt, beschloss aber, dieses Thema nicht weiter mit entsprechenden Begebenheiten - beispielsweise Bertrams eigenwillige Radwegeführungen - zu vertiefen.

    Sie schwieg, was Albrecht veranlasste, jene eigenartige Aussage zu tätigen: Es sei mit dem Kollegen Bertram Kunold wie mit einer inzwischen wuchernden, teilweise knorrigen Buchenhecke!

    Zur Illustration des Problems ruderte Albrecht mit seinen Armen und verbreitete damit die Ausdünstungen seiner Achselhöhlen in Kombination mit seinem Rasierwasser, die Anja eine dezente Übelkeit bescherten.

    Der Albrecht hatte dann während der vertraulichen Besprechung mit Anja weiter wortreich ausgeführt: „So eine Hecke ist ja im Prinzip sehr nützlich. Für brütende Vögel und so weiter, aber wenn sie dann durch ihr Wuchern den Weg verstellt, dann müsse doch eingeschritten werden! Nicht wahr?"

    Dabei hatte Albrecht ein wenig dümmlich vor sich hin gelacht. Aber Anja hatte ihn offenkundig so befremdet angesehen, dass der Vorgesetzte sein Lachen vorzeitig eingestellt, allerdings zum Ausgleich selbstzufrieden vor sich hin gegrinst hatte. Anja hatte sich sofort gefragt, warum dieser Albrecht da nicht früher drauf gekommen war und ob es denn nicht seine Aufgabe gewesen wäre, diese Buchenhecke zu stutzen.

    Aber dieses laut zu äußern, das wagte sie dann doch nicht. Wie gesagt: Es würde schwierig werden. Wahrscheinlich würde der geforderte Heckenschnitt genau die Nagelprobe für Anjas Erfolg in der Behörde werden.

    Kapitel 4 - Gedenktag

    Für Jasmin Grebe war es heute wieder ein schwerer Tag. Es war der achte September - und dies inzwischen zum vierten Male, seit ihr Mann auf dem Weg zur Arbeit verunglückt war. Tödlich verunglückt. Wie so oft hatte er an diesem Tag mit seinem Fahrrad den Weg zum Zentralfinanzamt in die Nordstadt über den Altstadtring genommen. Hier gab es eine ausgewiesene Spur für Radfahrer. Dann wurde er aber an der Kreuzung Blumenstraße kurz vor der Wöhrder Wiese von einem in jene Straße abbiegenden Lastwagen wie ein morscher Baum umgemäht. Jan Grebe erlag noch an der Unfallstelle seinen Verletzungen. Es war eine triviale Kleinigkeit gewesen, die zu diesem schrecklichen Ereignis geführt hatte: Eine Regenjacke, die auf der Beifahrerseite des Führerhauses hing und wegen des Bremsvorganges nach vorne gerutscht war, hatte dem Fahrer kurzzeitig die Sicht auf die rechten Außenspiegel verdeckt. So hatte jener den Radfahrer Jan Grebe nicht mehr gesehen, als er - so wie er es eben jeden Tag mehrmals machte -- schwungvoll nach rechts in die Blumenstraße abbog. Jan Grebe - wie gewohnt in morgendliches Grübeln versunken - konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und rutschte mit dem Vorderrad unter den Auflieger des Sattelzuges.

    Damit war sein Schicksal besiegelt.

    Nach der Rekonstruktion des Geschehens durch Gutachter der Polizei und der Versicherungen wurde von einer Teilschuld des Herrn Grebe ausgegangen, denn er sei mit seinem Mountainbike offensichtlich zu schnell unterwegs gewesen. Ganz klar, sonst hätte er ja noch bremsen und zum Stehen kommen können. Außerdem spräche für seine Mitschuld, dass er einen großen, abbremsenden Sattelzug unbedingt hätte bemerken müssen. Den höre man ja! Schon allein wegen der Bremsen! Hinzu kam: Einen Helm hatte er ebenfalls nicht getragen…

    Für Jasmin brach innerhalb weniger Sekunden die Welt zusammen. Sie brauchte fast ein ganzes Jahr, um den Schicksalsschlag wenigstens zu akzeptieren, den Schmerz anzunehmen. Dass sie das Geschehen und den Verlust verarbeitet hatte, davon konnte nicht einmal nach Jahren ansatzweise die Rede sein.

    In der örtlichen Presse hatte dieses Unglück eine große Beachtung gefunden, nachdem jener Sattelzug mit Papierrollen für die Rotationsdruckerei eben dieses Verlages beladen gewesen war. Die Lieferung von Druckrollen, von denen jede mindestens eine Tonne wog, erfolgte mehrmals täglich. Somit war die Wahrscheinlichkeit, dass sich dieser Unfall auch jederzeit wiederholen konnte, nicht eben vernachlässigbar. Vielleicht hatte beim Verlag auch ein wenig schlechtes Gewissen für die intensive Berichterstattung gesorgt, denn man sah sich schon seit Jahren der Kritik ausgesetzt, dass eine Druckerei mit ihrem immensen Logistikaufwand und dem damit verbundenen Verkehr - hier so nahe der Innenstadt - eigentlich völlig fehl am Platze war.

    Natürlich hatten Familie und Freunde alles versucht, um Jasmin zu unterstützen, ihr dabei zu helfen, mit dem Schicksalsschlag fertig zu werden, Trost zu spenden. Aber wenn der Liebste fehlt… Was kann dann schon wirklich trösten?

    „Du musst wieder unter die Leute! Es dir auch mal wieder gut gehen lassen!"

    Und: „Mach doch mal wieder eine Reise, dann wirst du bestimmt jemanden kennenlernen!"

    Diese Aufforderungen ihrer Freundinnen perlten an ihr ab. Jasmin beantwortete sie mit einem Schulterzucken. Sie hatte sich eingeigelt, ihre Umwelt ausgesperrt. Sie konnte gerade noch den Sonnenschein ertragen, aber den auch nur mit einer Sonnenbrille. Schon nach kurzem hatten sich tiefe Falten in ihr Gesicht gegraben. Dazu gesellten sich häufig Augenringe, die von ihrem unruhigen Schlaf stammten. Sie, die früher Lebensfreude verströmt hatte, war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Jasmin hatte überdies genug damit zu tun, den Schulalltag als Lehrerin an einer Grundschule zu überstehen. Den dort immer präsenten Lärm zu ertragen, fiel ihr schwerer und schwerer. Sie erkannte für sich, dass der Anspruch, den Kindern gerecht zu werden, in ihrer Verfassung nicht einmal ansatzweise zu halten war.

    Der Umgang mit den Eltern war ihr zudem unangenehm und lästig, nachdem sich eine ganze Corona von besorgten Helikoptereltern zusammengerottet hatte, um ihr zu diktieren, wie zu unterrichten sei. Schließlich seien sie selbst ja auch lange Jahre zur Schule gegangen und könnten daher beurteilen, was den Kindern gut tue und was nicht! Besonders ihren Sprösslingen!

    Es gab regelmäßig Zoff in den Elternversammlungen, den Elterngesprächen und als Folge ein wenig geliebtes, nicht im Ansatz konstruktives Fachgespräch mit dem Pavian-ähnlichen Schulleiter Hartmannsdorfer. Dessen durchsichtiges Ansinnen es war, möglichst Ruhe - am liebsten eine Friedhofsruhe - in der „Schulfamilie" zu haben - wie er es hochtrabend nannte. Zumindest nach außen hin sollte alles harmonisch wirken.

    Sollte das nun immer so weiter gehen? Das fragte sich Jasmin häufig und wusste keine rechte Antwort darauf. Außer jener, dass ihr Ideen, Alternativen fehlten, vor allen Dingen auch der Antrieb, die Energie, um neue Perspektiven für sich

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