Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Tillmanns Schweigen: Roman
Tillmanns Schweigen: Roman
Tillmanns Schweigen: Roman
eBook264 Seiten3 Stunden

Tillmanns Schweigen: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

ZWISCHEN GENIE UND WAHNSINN - SPEKULATIONEN ÜBER EINEN INTELLIGENTEN, ABER VERSTUMMTEN AUSSENSEITER

Der Mathematikprofessor Tillmann, Einzelgänger und notorischer Denker, versinkt eines Tages ganz ins Schweigen.
Ein Verhalten, das von seiner Umgebung nicht akzeptiert wird: Schließlich findet er sich in einer psychiatrischen Anstalt wieder. Doch keine Behandlung kann sein Schweigen brechen, beharrlich verweigert er sich dem gesellschaftlichen Zwang zur Kommunikation. Somit ist er ruhender Pol inmitten der anderen Figuren dieses satirischen Romans.

Sie, die Redenden, kreisen mit ihren Worten ständig um ihn und versuchen, Tillmanns Geheimnis zu ergründen. Zu den Spekulationen über die Ursachen seines Verstummens, jede eine lesenswerte Geschichte für sich, gesellen sich noch eine Reihe anderer Episoden, von Liebesgeschichten bis zum spektakulären Ausbruch aus der Anstalt.
"Was bewegt einen Menschen wirklich zu solch auffälligem Verhalten und was will er damit erreichen? Ein spannendes Buch das Einblicke gewährt in die Welt eines Mathematikprofessors zwischen Genie und Wahnsinn."
"Ein satirischer Roman über den gewollten oder ungewollten Widerstand gegen die Gesellschaft, über Normalität und Anderssein. Ein gelungenes, tiefgründiges Werk!"
SpracheDeutsch
HerausgeberHaymon Verlag
Erscheinungsdatum25. Nov. 2013
ISBN9783709970867
Tillmanns Schweigen: Roman

Ähnlich wie Tillmanns Schweigen

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Tillmanns Schweigen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Tillmanns Schweigen - Lina Hofstädter

    www.haymonverlag.at.

    Kapitel 1

    Utes Vorwürfe hallten in seinem Kopf nach, sobald er das leere Zimmer betrat. Ein Stapel Romane verstellte den Weg. Einmal hatte T. Lust, die Bücher mit dem Fuß beiseitezustoßen, ein andermal, sie ins Regal einzuräumen. Er unterließ beides. Er wartete ab.

    Auf dem Schreibtisch lahmte ihr Alpenveilchen an weichen Stengeln, und ringsum häuften sich Berge ungelesener Fachliteratur, welche an seinen demnächst zu haltenden Vortrag über »Veränderungen des mathematischen Realitätsbegriffes in der Neuzeit« gemahnten. Auch der Ordner mit der Habilitationsschrift lag unberührt. Er war in letzter Zeit mit nichts weitergekommen. Seit er mit Ute zusammenlebte, genaugenommen. Stets hatte er sich damit vertröstet, daß diese Geschichte ja nicht ewig dauern konnte. Er war nicht der Mann dafür, war ein Denker, die Liebe Nebenfach. Doch Ute hatte sich sich immer tiefer eingenistet in seiner Wohnung und in seinem Leben.

    Natürlich liebte er sie. Wenn sie ihn nicht gerade mit ihren Fällen vom Sozialamt behelligte oder verlangte, daß er ihre Bücher lese. Erzählungen! Romane! Wie, wenn er ihr seine wissenschaftlichen Problemstellungen vorgelegt hätte? T. hielt nicht viel von erfundener Wirklichkeit, und die »allgemeinmenschlichen Probleme«, welche Ute ständig zitierte, erschienen ihm allzu unberechenbar. Einzig in der Mathematik gab es halbwegs klare Lösungen. Das hatte wiederholt Anlaß zu Unstimmigkeiten zwischen ihnen gegeben. »Wären alle wie du, würde sich am heillosen Zustand der Welt nie etwas ändern!« warf sie ihm bei solchen Gelegenheiten regelmäßig vor. T. dagegen fand, daß es um die Welt bedeutend besser stünde, wenn die Menschen weniger handelten und mehr dächten. Sagte er das, wurde Ute jedesmal wütend: »Mit dir kann man nicht reden!« So endeten die meisten Debatten.

    Auch diesmal wieder. T. konnte sich jedoch beim besten Willen nicht an die Ursache der letzten Auseinandersetzung erinnern. Wenn er die Angel nach Erinnerungen auswarf, zog er nur zusammenhanglose Satzfetzen hervor. Dabei hatte das Gespräch harmlos angefangen. Weit weg von ihm. In einem Roman. Ute neigte dazu, Fiktion und Wirklichkeit durcheinanderzubringen. Ließ sich dann kaum richtigstellen. Warf ihm plötzlich, zwischen zwei Bissen Apfelstrudel, mangelnde Anteilnahme vor. Er gleiche aufs Haar irgendeiner Hauptfigur, einem Menschenfeind!

    Hätte sie nicht immer wieder versucht, ihn solcherart in falsche Kategorien hineinzuzerren, würde er sich mit ihrer Leidenschaft für schöne Literatur und schlechte Gesellschaft vielleicht abgefunden haben. Ja, wahrscheinlich hatte er sich vor drei Jahren gerade in ihren Jungmädchen-Enthusiasmus verliebt, wenn nicht in ihre Augen und ihre kleinen Brüste. So aber war er beständig vor ihr auf der Hut.

    Diesmal hatte er sie schweigend gewährenlassen, als sie ihm die neueste Geschichte auftischte. Trank Kaffee und dachte über den Aufbau der kommenden Vorlesung nach. Zu spät bemerkte er, daß sie das Thema gewechselt hatte. Daß sie auf einmal über ihn sprach. Über seine Arbeit. Unverständliches Mathematikergerede! Alles eine Flucht! Egoismus! Er kam gar nicht mehr mit. Nur tote Zahlen in seinem Kopf, auch sie so eine Nummer … T. entsann sich nicht, was er geantwortet hatte. Wahrscheinlich war er ins Schweigen oder in den Zynismus geflüchtet, wie immer, wenn sie ihn in die Enge trieb. Es tat ihm ja leid. Es war ein Mißverständnis. Bei ihr bewirkte jedes Wort und jede Geste stets das Gegenteil dessen, was er beabsichtigte. Es war schon komisch: Da liebte man jemanden und verstand ihn trotzdem nicht. Lebte verständnislos jahrelang mit einem Menschen zusammen, nur weil man irgendetwas an ihm liebte. Mit dem Rest konnte man nicht das geringste anfangen.

    Er ertappte sich dabei, daß er die Wohnungstür vergaß abzusperren. Ging schon kaum mehr aus dem Haus. Wenn sie zurückkäme, würde er vielleicht vorschlagen, das Zusammenleben ein wenig zu lockern. Er hatte sich bereits zurechtgelegt, wie man ihr das beibringen könnte. Und er würde ihr natürlich großzügig bei der Anschaffung einer Garconniere unter die Arme greifen. T. stellte sich vor, wie er manchmal am Abend dann zu ihr gehen würde. Aber sie ließ ihm keine Chance. Sie blieb einfach weg.

    Unschlüssig steht er vor dem Alpenveilchen; er hat Blumen nie gemocht. Sie sind so unselbständig. Wahrscheinlich ist die Pflanze eingegangen. Ein ums andere Mal setzt er sich an den Stapel Examensarbeiten. Dann vor das unfertige Vortragsmanuskript. Sein Kopf hämmert. Er müßte sich endlich konzentrieren. Vernünftig arbeiten. In Ruhe nachdenken über das eine wie über das andere. Aber da ist irgendein fehlender Parameter, eine falsche Ausgangsoder Rahmenbedingung …

    Es schmerzt nun überdeutlich. Die Verlassenheit des Zimmers dehnt sich mit dem Klumpen im Hals. Die übliche Angina, wie immer in Übergangszeiten. Morgen wird er keine Stimme mehr haben und die Vorlesung absagen müssen. Niemand hätte mit einem nochmaligen Wintereinbruch gerechnet, der Hausmeister hat die Heizung längst abgedreht. T. fröstelt. Er versucht sich nicht ablenken zu lassen, genau zu denken. Warum ist sie weggegangen? Hat sie mir das gesagt? Die Erinnerung spielt mit ihm Verstecken. Wahrscheinlich ist sie zu den Eltern gefahren. Sollte man dort anrufen? Es wäre ihm peinlich. Was könnte er schon sagen? Es schien tatsächlich das beste, hierzubleiben und abzuwarten. Sich für die nächsten Tage krankzumelden.

    T. war immer überfordert gewesen, wenn er mehrere Dinge gleichzeitig hätte tun oder denken sollen. Auch jetzt konnte er sich vornehmen, was er wollte, alle Gedanken liefen in Utes unergründlichem Verhalten zusammen. Und dahinter blitzte ständig die noch dunklere Frage, ob er ohne Ute oder mit Ute würde weiterleben können. Zuviele Unbekannte!

    Bei schwierigen Aufgaben an den Anfang zurückgehen, erinnert er sich einer Mathematikerregel. Von vorne beginnen, bei der einzig bekannten Größe. Es würde ihm nichts übrigbleiben, als das Buch doch zu lesen. Immer brachte Ute ihn dazu, Dinge zu tun, die er gar nicht wollte!

    T. sucht das Buch aus dem Stapel und legt sich ins Bett. Seine Glieder fühlen sich schwer an, wie die einer Marionette an lahmen Schnüren. Er ist krank. Tanzt nach ihrem Willen. Und wenn sie ihn hängenließ? Er zieht die Decke über sich. Die Schultern schmerzen, man weiß kaum, wie man sich betten soll.

    Jetzt ist alles durcheinandergeraten. Das Fieber. Ute. Das Buch. Er muß geschlafen haben. Das schweißnasse Leintuch klebt am Körper, daß er sich kaum rühren kann. Er hat nicht rechtzeitig angerufen. Sich nicht krankgemeldet. Hat den Zeitpunkt verschlafen, wo er noch jemanden hätte erreichen können. Nun weiß keiner, was los ist.

    Ich muß dieses Buch durchsehen, fällt ihm ein. Ute hatte gesagt, er müsse es unbedingt lesen. Mit kalten Fingern blättert er durch die Seiten. Beginnt einmal von vorn, dann weiter hinten. Nichts läßt sich daraus ableiten. Ohne Zusammenhang. Es scheint in tausend verschiedene Geschichten zu zerfallen, und man weiß nicht, worauf es hinausläuft. Keinerlei Ähnlichkeit mit seinem Leben. Vielleicht ist es das falsche Buch, und das, was ihn angeht, steht auf einem anderen Blatt?

    Er muß es systematisch angehen. Vorne beginnen. Der abgegriffene Umschlag mit einem Bild von Escher hängt zerfleddert herab. Überdies verkehrt umgelegt. Oder liest T. das Buch verkehrt? Irgendetwas hat er übersehen. So viele Sätze, die in Schleifen durch sein fiebriges Gehirn ziehen, von denen keiner weiß, was sie in Wirklichkeit bedeuten. Im Nachdenken rutscht er weiter in die Tiefe. In eine ungesunde Stille. Hält bald nichts, bald alles für wahr. Er hat Worten nie getraut. Zu unbestimmt, zu willkürlich ist das, was sich daraus konstruieren läßt: eine Liebe oder ein Abschied, nach Belieben. Und auf einmal stürzt man aus der sicher vorausberechneten Existenz haltlos ins Leere. Verfällt ins verwirrende Dasein eines Möglichkeitsmenschen. Immer tiefer in sein Krankheitsbild.

    So weit ist es also mit ihm gekommen. Da liegt er auf dem Rücken. Angestrengt unter der hängenden Stirnlocke, die im Dämmerlicht nicht zwischen blond und grau zu unterscheiden ist, ein schmales, blasses Krankengesicht. Und über diesem Gesicht, in den zitternden Händen, fast drohend, das Buch. Es kann jeden Moment, wenn seine Kräfte nachlassen, auf ihn herabstürzen.

    Tillmann ist untergetaucht, und man kann nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob es in diesem oder in einem anderen Roman geschehen ist. Hat sich in seiner Geschichte verkrochen, in einem makellos weiß lackierten Metallbett. Einem leeren Raum. Tillmann hat Ordnung gemacht.

    Die Zurückgezogenheit des Krankenzimmers erlaubt ihm endlich, sich der reinen Wissenschaft zu widmen. Er will nicht länger mit Geschichten behelligt werden, die ihn nichts angehen. Er ist trotzig verstummt und wurde für krank erklärt. Handlungsunfähig. Er hat nicht widersprochen. Zu sehr war er mit seiner Fragestellung beschäftigt. Vor der Einsamkeit hat er sich nie gefürchtet. Mehr vor der Zerstreuung. Wenn es gelänge, das Problem, das einem gestellt ist, zu lösen, ergäbe die Einsamkeit eines Lebens möglicherweise einen Sinn, denkt er. Aber die wenigsten lösen es. Kaum einer macht sich Gedanken. Bestenfalls denkt der eine über die Probleme des anderen nach. Deshalb ist auch überall alles in so heilloser Unordnung.

    So sinniert Tillmann, der in den Jahren hier grau und beleibt geworden ist, hinter der dumm-gemütlichen Fassade seines Äußeren, die alle »Onkel Tillmann« nennen. Wie jeder echte Philosoph und Wissenschafter denkt er für sich. Und schweigt. Auch gegenüber dem Pflegepersonal und den Doktoren. Da erst recht. Deren Verständnis fürchtet er mehr als alle Mißverständnisse. Wenn er Gespräche führt, dann ausschließlich mit sich selbst. Und auch das nur, wenn er sicher ist, nicht belauscht zu werden. Denn immer hatten falsch verstandene Aussagen, falsch gestellte Fragen und die notwendig darauf folgenden falschen Antworten die katastrophalsten Auswirkungen auf sein Leben gehabt. Tillmann ist deshalb vorsichtig geworden. Hat gelernt, seinen Wortschatz zu hüten. Man ließ sie besser nicht zu nahe herankommen, diese Menschen, wollte man der Kränkung entgehen. Die schmerzhafte Behandlung vermeiden. Sicher war man nur hinter der Schweigemauer. In einer geschlossenen Anstalt wie dieser. In einem geschlossenen Denkgebäude.

    Aber man kann doch nicht einfach verstummen, so von heute auf morgen, sage ich mir, genauso wie es unmöglich wäre, von einem Tag auf den anderen nicht mehr zu denken. Es erscheint unglaubwürdig, daß ein Mensch ohne Mitmenschen existieren und sich tatsächlich endgültig zurückgezogen haben soll. Deshalb bin ich auf die Vermutung verfallen, daß Tillmann, in den Jahren oder Jahrzehnten hier, unter dem Deckmantel des Schweigens eine eigene Denk- und Sprechschule entwickelt hat. Daß er, hinter meinem Rücken, Grundsätze, Hauptsätze formuliert. Memoranden über Geheimbeziehungen anlegt. Könnte man deren bloß habhaft werden!

    Tatsächlich aber ist nie ein Satz von ihm gehört worden, seit er in die Anstalt kam. In Wahrheit sind auch seine heimlichen Sätze und alle dazuerfundenen Hintergrundgeschichten nur Annäherungswerte. Reine Mutmaßung. Schon als ich jenem Patienten zum ersten Mal begegnete, spielte ich mit dem Gedanken, ihm seine Lebensgeschichte zu entlocken. Wie die Ärzte es jahrelang versuchten. Nach allen Regeln der Kunst haben die sich an ihm vergangen. Haben sich in seine Krankheit verrannt und wurden schließlich selbst zum Spielball. Steht da nicht zu befürchten, daß auch ich nur Bestandteil der Versuchsanordnung bin?

    Es erscheint deshalb ratsam, sich unauffällig über Pichler zu nähern, der etwas zu wissen vorgibt. Oder nein. Besser über Oskar Lampersberger, Tillmanns Trabanten. Ihm müßte manches zu Ohren gekommen sein. Aber nach einer Weile stelle ich fest, daß auch der keine Hilfe ist. Ausschließlich mit der eigenen Geschichtsbewältigung beschäftigt, hat er kein Ohr für andere. Immerzu schreit er sein Leben aus sich heraus, erzählt sich die Seele aus dem schmächtigen Leib, obwohl er schon gelernt haben sollte, daß das nicht guttut. Seit Oskar vor zwei, drei Jahren hier angekommen ist, redet er ununterbrochen. Und immer das Falsche. Verliert, zu allem Überfluß, auch noch ständig den Faden, so daß kein Mensch ihn versteht. Er tut uns leid, deshalb höre ich ihm, scheinbar interessiert, trotz allem zu, so wie sich auch Tillmann seine endlosen Geschichten gefallen läßt.

    Pat und Patachon, sind die beiden vom ersten Tag an miteinander auf- und abgegangen, den ganzen langen Tag den langen Gang entlang auf und ab. Vorne der große Tillmann, mit ruhigen Schritten und aufrechter Haltung. Einen halben Schritt hinter ihm, nervös gestikulierend, der kleine Oskar Lampersberger mit einer seiner unglaubwürdigen Geschichten.

    Tillmann hat nichts gegen die unfreiwillige Gesellschaft unternommen. Und die Schwestern waren froh, daß Oskar nicht ihnen ständig in den Ohren lag. Sie hatten zu tun. Besonders die vielbeschäftigte Stationsschwester. Die saß groß und blond in ihrem Glaskasten in der Mitte des Aufenthaltsraumes. Ihr Gesicht glänzte im Deckenlicht hell wie ihr frisch gestärkter Schwesternkittel. Zackig und kompetent blätterte sie durchs weiße Papier der Berichte.

    Am Tag seiner Einlieferung hatte Oskar beständig ans Fenster geklopft und ihr erzählen wollen, warum er hergekommen war. Hatte seine Existenz rechtfertigen wollen. Schon am ersten Tag verriet er so alle seine Geheimnisse ans Personal. Auch das größte Geheimnis, das er nie hatte lösen können: wer wen verlassen hatte, er seine Frau oder sie ihn, er die Welt oder die Welt ihn. Oskar wurde damit, so schien es, ewig nicht fertig. »Mein Leben lang«, schrie er ins Glas, »habe ich es versucht! Mit wechselnden Instrumenten und in allen Lagen! Immer habe ich allen das vorgespielt, was sie haben wollten. Und immer ist alles schiefgelaufen. Und dann behaupteten sie, daß ich es sei, der die Fehler machte! Immer war ich an allem schuld!«

    Oskar hat an jenem ersten Tag mit den Fäusten gegen die Wand getrommelt und dabei Schwester Ruperta seine Geschichte hineingebrüllt, solange, bis diese die Nerven verlor und zurückschrie: Wenn er sich nicht beruhige, wenn er sie nicht bald in Ruhe lasse, werde man ihn …!

    Nicht, daß sie leicht zu ärgern gewesen wäre, im Gegenteil, normalerweise saß sie unberührbar da drinnen, wie eine Marmorstatue unter einem von Fingerflecken übersäten Glassturz. Aber Oskar Lampersberger hatte wieder einmal den falschen Ton getroffen. Schaffte es schon am ersten Tag, in ihre gläserne Ruhe einzubrechen und sie zu einem unverhofften Ausbruch zu bewegen.

    Gespannt hatten die Patienten zugesehen, wie die Nasenspitze der Schwester durchscheinend wurde und ihre Lippen sich bläulich zusammenkniffen. Jetzt ist es soweit, dachten alle, sogar Philipp, der ansonsten wenig dachte, von dem die einen sagten, er sei niedergeschockt worden, andere behaupteten, er sei immer schon stumpfsinnig gewesen. Sogar der schwammige, stierende Philipp richtete seinen Blick langsam aufs Aufsichtszimmer, als Oskar dagegenpolterte.

    Der wußte damals noch nicht, daß das Glas mit feinen Löchern versehen war. Meinte, laut schreien zu müssen, um Verständnis zu erlangen. Schloß wohl, weil die Schwester sich nicht rührte, darauf, daß sie ihn nicht wahrgenommen habe, und schrie, bis seine Stimme sich überschlug. Und alle, die sie sonst Tag für Tag in ihren Ecken saßen und vor sich hinstarrten, erwarteten gespannt, was jetzt geschehen würde. Man konnte sich ausdenken, wozu das führen mußte. Zu welcher Behandlung. Jeder wußte, wie es war, links den Haß und rechts die Strafe an die Schläfe gesetzt zu bekommen, bis man windelweich zu Boden ging.

    Ein bißchen schadenfroh auch, sahen sie, daß Oskar sich wie ein Anfänger benahm, der das leise und hinterlistige »Bitte Schwester, danke Schwester« noch nicht beherrschte, mit dem man sich Gehör verschaffte.

    Selbst hatte man vielleicht auch einmal seine Geschichte so aus sich herausgeschrien, hatte sie, wie jetzt Oskar, jedem Therapeuten, jeder Gruppe und jeder Schwester vorgeworfen. Bis man eines Tages bemerkte, daß die Geschichte in die falsche Richtung zielte. Daß der Vorwurf nur noch einen selber traf. Da war es plötzlich die falsche Geschichte. Führte nicht mehr über den Gitterzaun hinaus, und man erzählte von da an nichts oder nötigenfalls alles, weil alles gleich gültig geworden war. Das Scheitern der Hoffnung verbarg sich am Ende im falschen Tonfall der höflichen Anrede des »Herrn Doktor«. Solche Lügen waren die einzige Wahrheit, die einem blieb, den Herrschenden ein ewiges Geheimnis.

    Auch Onkel Tillmann, der sich sonst um nichts zu bekümmern schien, hatte bei Oskars erstem Auftritt seinen täglichen Gang von der Nordwest- zur Südostecke des Aufenthaltsraumes unterbrochen. Das Wetter war schlecht an jenem Tag, schwül und gewittrig, deshalb war auch keiner der Patienten im Park. Und dann brach das Donnerwetter mitten in der Station aus, entlud einen Teil der Schwüle über dem Kopf des kleinen Oskar Lampersberger und zog sich schließlich grollend, doch zunehmend weißwolkig, wieder hinter die Scheiben zurück.

    Verstört blieb Oskar im Raum stehen, die schütteren Haare hängend wie nach einem Regenguß. Sah verlegen zu Boden, während die anderen ihn anstarrten. Bis Onkel Tillmann seinen Gang von neuem aufnahm zwischen Südost und Nordwest. Da hat er sich Tillmann angeschlossen und so etwas wie eine Freundschaft zwischen den beiden begonnen. Da hat Oskar beschlossen, nichts mehr zu tun, als was alle taten. Keinen Zentimeter von der vorgegebenen Bahn abweichen, keinen lauten Ton hören lassen! Sich ausschließlich aufs richtige Mitspielen konzentrieren.

    Deshalb folgte er jetzt auch Tillmanns Kurs. Neuerlich ein grober Fehltritt. Aber diesmal hatte Oskar Lampersberger ausnahmsweise Glück. Wäre Tillmann nicht so vollständig mit sich selbst beschäftigt gewesen, hätte er sich gegen diesen Annäherungsversuch bestimmt verwahrt und Oskar darauf hingewiesen, daß er soeben erneut den Fehler seines Lebens beging. Daß man irgendwann aufhören mußte, nach den immergleichen Erfahrungen die immer gleich vergeblichen Rettungsversuche zu unternehmen. Daß es an der Zeit wäre, sich auf die richtige Lösung einzulassen. Eigene Wege zu gehen.

    Aber weil Tillmann sich für Menschen nicht mehr interessierte, hatte er auch kein Interesse, Ratschläge zu geben, und schwieg. Lehnte sich, sehr zum Erstaunen der Mitpatienten, nicht auf, als Oskar sich an seine Fersen heftete. Es war dies das erste Mal, daß ein Neuer einem Alteingesessenen seinen Platz streitig machte. Und die Linie quer durch den Raum war Tillmanns Aufenthalt. Niemand hatte es bisher gewagt, seine Gedankengänge an diesem geometrischen Ort zu stören, auch nicht die Ärzte. Tillmann wich kein Jota von seiner Geraden ab, wenn einer seinen Weg kreuzte, was ihm auf der Station ein gewisses Ansehen verlieh.

    Gegen alle Tradition teilte er jedoch seinen Weg mit Oskar. Ausgerechnet mit dem kurvenreichen, unruhigen Oskar Lampersberger! Akzeptierte ihn stillschweigend als Nachfolger. Fortan wird man sich sein Leben von diesem Trabanten durchkreuzt denken müssen. Voranschreitend der schweigende Tillmann, die Hände auf dem Rücken ineinandergefaltet. Hinter ihm, ständig von der Geraden abweichend, Oskar, welcher, wie ich, Tag für Tag Tillmanns Spur verfolgt. Aber in seiner Zerstreutheit kann auch er mir nicht weiterhelfen; im Gegenteil. Seine schmächtige Person drängt sich mit vorlautem Gerede ständig in den Mittelpunkt, und Tillmanns Bild verschwimmt hinter seinen Zickzackwanderungen.

    Da hätte man besser daran getan, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, wo sich ein paar Stationsbewohner unter der großen Linde bei Ferdinand Pichler zusammengefunden haben, um ebenfalls Tillmanns Rätsel zu lösen. Da dieser selbst kein Wort verliert, ist es nur natürlich, daß alle anderen ständig über ihn reden. Über seinen Fall. Vereinzelt hat sich das Interesse schon zu Vermutungen verdichtet, und aus diesem Puzzle ist eine Hintergrundgeschichte entstanden, wie sie Pichler nun seinen Zuhörern erzählt.

    Er vermutet, Tillmann müsse das Opfer einer außergewöhnlichen Intelligenz sein, da nur intelligente Menschen den Schwachsinn des Gesprochenen durchschauten, und behauptet, sichere Beweise zu besitzen, daß er Wissenschafter war - vielleicht Sprachwissenschafter, Denkwissenschafter jedenfalls -, bis er eines Tages ins Schweigen verfiel. Was natürlich nur bei einem Leben, das sich ganz der Sprache und dem Denken verschrieben habe, in dieser Konsequenz möglich sei und auch nur in so einem Fall zur Einlieferung habe führen können.

    Als Stationsältester will Pichler ihnen sogar nachweisen, Tillmann sei schon zuvor auf Station gewesen, »auf Tauchstation«, wie er es nennt. Als blutjunger, blasser und kurzsichtiger Junge sei er in der Anstalt aufgetaucht - »untergetaucht«, sagt der Erzähler und erinnert sich, Tillmann begegnet zu sein, nachdem dieser, wie so viele, an seiner ersten Jugendliebe, seiner Eigenliebe, zerschellt war. »Insofern ist es eine Liebesgeschichte, wie alle tragischen Geschichten, aber eben nur insofern.«

    Von der eigenen Eitelkeit und der der Mutter ins Unglück getrieben. In die allgemeine Falle hilflos hineingetappt. Dies war, laut Pichler, ein verständlicher Fehler, den jeder einmal mache. Aber bei Tillmann habe es fatale Folgen gehabt. Es habe ihn erstmals mit dieser Anstalt in Berührung gebracht. Mit dem Schweigen. Man könne zwar heute nicht mehr mit absoluter

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1