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So what!: Frauenroman
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eBook250 Seiten3 Stunden

So what!: Frauenroman

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Über dieses E-Book

Vier Freundinnen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, die aber trotzdem schon seit vielen Jahren gemeinsam durch dick und dünn gehen: Lilli, frisch geschiedene Fotografin, Nesrin, Zahnärztin und Single aus Überzeugung, Paola, erfolgreiche Fernsehjournalistin, die junge Männer bevorzugt, und Katharina, liebevolle Ehefrau und Mutter. Als Leo von Katharina nicht nur die Scheidung, sondern auch noch das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder will, schmiedet das Quartett einen teuflisch gefährlichen Plan: Sie werden eine besonders raffiniert gewürzte Bärlauchsuppe kochen und – gemeinsam mit Leo - auch auslöffeln. Aber wird dieses kulinarische Roulette den Richtigen treffen?
SpracheDeutsch
HerausgeberGmeiner-Verlag
Erscheinungsdatum1. Feb. 2016
ISBN9783734994104
So what!: Frauenroman
Autor

Marlene Faro

Marlene Faro, geboren und aufgewachsen in Wien, arbeitete jahrelang als freie Journalistin für internationale Magazine wie Stern, Geo oder Cosmopolitan und verfasste Reisereportagen, Porträts und Interviews. 1996 landete sie mit ihrem ersten Buch über die Welt der Frauenzeitschriften einen Bestseller, der auch verfilmt wurde. Es folgten weitere Romane, Erzählungen und Sachbücher. Marlene Faro lebt heute abwechselnd in Wien und im Salzkammergut.

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    Buchvorschau

    So what! - Marlene Faro

    Impressum

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Besuchen Sie uns im Internet:

    www.gmeiner-digital.de

    Gmeiner Digital

    Ein Imprint der Gmeiner-Verlag GmbH

    © 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

    Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

    Telefon 0 75 75/20 95-0

    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

    E-Book: Mirjam Hecht

    Umschlagbild: © olly – Fotolia.com

    Umschlaggestaltung: Benjamin Arnold

    ISBN 978-3-7349-9410-4

    1. Kapitel

    1.

    Es war an einem Dienstag im Mai, als Lilli ihr erstes graues Schamhaar entdeckte. Zunächst hielt sie es für eine optische Täuschung, einen silbrig glänzenden Wassertropfen oder eine Reflexion des Sonnenlichts, das durch die Giebelfenster in ihr Schlafzimmer floss.

    Sie war nackt aus der Dusche gekommen und stand nun vor der verspiegelten Schrankwand, die fast ein Drittel des Raumes zu einer begehbaren Kleiderkammer hin abtrennte. Lilli Färber, 42 Jahre alt, schlank und zart gebräunt, eine Frau mit zierlichen kleinen Brustwarzen und rotlackierten Zehennägeln, ihre grauen Augen standen ein wenig schräg über den hohen Backenknochen.

    »Eskimo, Eskimo«, hatten ihr die Kinder jahrelang in der Pause nachgerufen. Lilli hatte daraufhin heimlich im Atlas geblättert, drei Daumen breit war die Entfernung zwischen Grönland und dem Schwarzwald auf der Karte von Europa. Es erschien Lilli nur schwer vorstellbar, dass ein Eskimo dereinst übers Nordmeer gepaddelt war und ihre Urgroßmutter gefreit hatte. Dann war ein anderes Opfer auf dem Schulhof auserkoren worden, und die Jungen blickten betont lässig zur Seite, wenn Lilli vorüberging, ihre Schönheit war in jenen Tagen offenkundig geworden.

    Die nackte Lilli Färber verlagerte ein Bein vor ihrem Schlafzimmerspiegel, aber das Ungeheuerliche blieb, wie ein Splitter, wie ein silbrig glänzender Mottenflügel in einem Nest aus rotbraunen Kringeln. Lilli holte tief Luft, dann ging sie ins Bad, um eine Nagelschere zu holen. Sie war eine Frau, die auch unerfreulichen Tatsachen gerne gerade ins Gesicht blickte, nun ja, sozusagen.

    Lilli kam aus dem Badezimmer zurück und ging zu einem der Giebelfenster, draußen waren nur blauer Himmel und Baumwipfel, kein Nachbar konnte einen ungebührlichen Blick auf ihre Nacktheit werfen. Sie beugte sich über ihren Nabel, ergriff ein schmales Büschel Haare, das wie Flaumfedern zwischen ihren Fingern lag, und schnitt es ab. Eine feine Kante blieb zurück, Lilli fühlte sich seltsam beschädigt. Dann erst dachte sie an Marcel, ihren geschiedenen Mann. Ob es ihm wohl auffallen würde?

    Die Haare lagen in ihrer Hand, eines davon war dicker und drahtiger als die anderen, und es war nicht grau, sondern weiß.

    Vielleicht werde ich ja ein später Albino, dachte sich Lilli tröstend.

    Lilli Färber war eine Frau, die ihre Schritte vorsichtig setzte. So selbstverständlich wie eine Schlafwandlerin wich sie jeder Regenpfütze aus, und niemals wäre sie eine Treppe hinabgelaufen, die Hände in den Taschen ihrer heiß geliebten und völlig verwaschenen Jeansjacke vergraben. Lilli wusste, dass nur ein einziges Stolpern, nur ein einziger falscher Schritt genügen konnte, um …

    Sie schloss ihr Gartentor ab, blickte nach links und nach rechts, dann erst überquerte sie die stille Straße. In diesem Viertel war der Lärm der City zu einem schwachen Brausen gefiltert, Hecken und Alleebäume schirmten die Häuser ab. Vor etwas mehr als zwei Jahren war eine fünfköpfige Familie in die Nachbarvilla der Färbers eingezogen, ein Rechtsanwaltsehepaar mit drei Jungen, die Kinder hatten sich rasch angefreundet. Aber schon nach wenigen Monaten war der Umzugstransporter wieder vor der Tür gestanden. Das Vogelgezwitscher am frühen Morgen hatte die Eltern so genervt, dass sie ernsthafte Schlafstörungen bekommen hatten. Die Familie war wieder in die Innenstadt zurückgekehrt, der Kontakt war abgerissen. Schade, dachte Lilli, die Frau ist wirklich nett gewesen.

    Sie blickte nach links und nach rechts, ging rasch über eine Kreuzung, dann bog sie in eine schmale Seitenstraße ein, die eigentlich eine Sackgasse war. Es duftete betörend nach Flieder, Hecken aus Efeu begrenzten die Gasse an drei Seiten, so dass sie fast wie ein kleiner Park wirkte. Ein Rad war gegen einen Laternenmast gelehnt, Blätter hatten sich in seinen Speichen verfangen. Gleich daneben stand ein Tor offen, dahinter erstreckte sich sanft ansteigend eine Wiese, ein Haus lag in der bunt gesprenkelten Wiese wie ein großes Würfelspiel.

    Der mittlere Würfel war ganz aus hellem Holz zusammengefügt, mit einer schwarz lackierten Eingangstür und blauweiß gestreiften Jalousien vor den Fensterrahmen. Daran schloss sich links ein gläserner Würfel an, durch die Scheiben konnte man das Grün von Topfpflanzen und das Geflecht einer Sitzgruppe erahnen. Rechts stützte sich eine würfelähnliche Konstruktion aus Metallstangen am Haupthaus ab, statt einem Dach wuchs wilder Wein zwischen den Trägern. Unter seinen grünen Blättern standen Korbstühle und ein langer Tisch, die Reste einer Mahlzeit waren darauf auch aus der Entfernung zu erkennen, Teller und Gläser und ein halb leerer Limonadenkrug.

    Lilli blieb einen Moment lang stehen und ließ das menschenleere Bild auf sich wirken. Auch dieses Haus hatte Marcel entworfen und gebaut, wie noch einige andere im Viertel. Lilli erschien es heute manchmal, als ob sie sich zuerst in seine Häuser verliebt hätte und dann in den Mann. In Häuser, die so hell und luftig waren, jeden Sonnenstrahl speicherten bis spät in den Herbst hinein. In denen Ferienstimmung und ein Urlaub ohne Ende möglich schienen.

    »Beckmann« stand auf einem Schild aus Messing neben dem offenen Tor eingraviert. Lilli drückte den Klingelknopf der Gegensprechanlage, zugleich betrat sie den Garten, ohne auf Antwort zu warten. Eine Scheibe des gläsernen Würfels wurde zur Seite geschoben, zwei Kinder erschienen im Rahmen, gefolgt von einer Frau in einem blauen Sommerkleid, die sich gerade das glatte dunkelblonde Haar im Nacken zusammendrehte.

    »Lilli, du, was für eine schöne Überraschung! Aber komm doch rein, Kinder, macht Platz.«

    Die beiden Frauen küssten sich auf die Wangen, Katharinas ungeschminkte Haut war so makellos glatt und schimmernd, ihr Haar duftete ganz schwach nach Pfirsichshampoo. Jedes Mal, wenn Lilli ihre Freundin Katharina erblickte, beschloss sie ernsthaft, ihr eigenes Leben endlich umzukrempeln. Buttermilch statt Weißwein, Müsli statt Pommes frites. Aber es blieb stets beim guten Willen …

    Lilli drückte die kleine Cornelia an sich und knuffte den großen Jakob, dann folgte sie den beiden in den gläsernen Wintergarten, Katharina fegte Zeitschriften von einer Polsterbank.

    »Mach es dir bequem, ich hole uns etwas zu trinken. Apfelschorle, ist dir das recht? Oder lieber Kaffee?«

    Lilli nickte zu beidem und zog ein spitzes Matchboxauto unter ihrer Sitzfläche hervor. Ein kühler Weißwein wäre ihr jetzt am allerliebsten gewesen, aber dies war nun mal ein vorbildlicher Haushalt, in jeder Hinsicht. Weißwein gab es erst abends, vorzugsweise zu einer Forelle Müllerin.

    Sie hörte Katharina in der Küche hantieren, die Kinder im Garten lachen und quietschen. Eine dampfende Hitze lag schon seit Tagen über der Stadt und den Hügeln ringsum. Lilli hob ihr gelocktes kastanienbraunes Haar mit beiden Händen in die Luft, aber es verschaffte ihr keine Kühlung.

    Katharina kam mit einem Krug und zwei Gläsern aus der Küche, dann ging sie noch einmal zurück und erschien wieder mit einem Tablett, darauf standen Espressotassen und ein Teller mit Amarettoplätzchen, einfach perfekt. Sie stellte alles mit einem vorsichtigen Klirren ab und lächelte Lilli an. »Gut siehst du aus, so erholt. Das wird sicher ein wunderbarer Sommer, meinst du nicht auch?«

    Lilli lächelte zurück, aber gleichzeitig fühlte sie eine leise Gereiztheit in sich aufsteigen. Über die Hitze, über dieses sanfte Gesicht ihr gegenüber, vor allem aber über sich selbst: eine erwachsene Frau, die sich von einem einzigen lächerlichen weißen Haar irritieren ließ.

    »Ich glaube, ich werde mir die Haare färben«, sagte sie, mitten in Katharinas Gastgeberinnenlächeln hinein.

    Katharina schien einen Moment lang sprachlos, dann schüttelte sie entschieden den Kopf. »Lilli, das meinst du doch nicht im Ernst. Du hast die schönsten Haare von uns allen. Bleib so, wie du bist, ich bitte dich.«

    Lilli nahm einen tiefen Zug Apfelschorle. Milde und Schläfrigkeit überkamen sie, als ob sie einen magischen Beruhigungstrunk geleert hätte. Katharinas Kräuterbeet ging ihr durch den Sinn, in dem neben Basilikum und Melisse auch allerhand Grünzeug wucherte, das Lilli nicht zu benennen wusste. Sie blickte mit einem plötzlichem Anflug von Misstrauen auf die Frau ihr gegenüber, aber Katharina wirkte so harmlos, dass sich Lilli selber lächerlich schalt.

    Vergangene Woche hatten alle Nachrichtensendungen von einer Feuerkatastrophe in Florida berichtet. Rauch und Flammen waren über den Bildschirm gelodert, vermummte Männer waren in die explodierenden Häuserzeilen gerannt, um nach Überlebenden zu suchen.

    »Das sind noch wahre Helden«, hatte Marcel aufgewühlt gemurmelt, der gerade auf einen Kurzbesuch vorbeigekommen war. Jan und Leah, ihre beiden Kinder, waren mit offenen Mündern da gesessen, anschließend hatten sie mit Jakobs Spritzpistole eine Riesensauerei auf der Terrasse angerichtet.

    Auch Lilli hatte die Geschehnisse mit Herzklopfen verfolgt. Und dennoch – das Heldentum der Feuerwehrmänner erschien ihr viel leichter begreifbar als die stete, unermüdliche, nie versiegende Sanftheit und Freundlichkeit ihrer Freundin Katharina. Katharina war für Lilli eine wahre Heldin des Alltags.

    Eine Frau, die sich von ganzem Herzen freuen konnte, wenn ihr Mann Leo von einem Kongress in Honolulu eine Muschel mitbrachte, die er am Strand gefunden hatte, wie rührend. Statt, nun ja, wie wäre es mit einem Kettchen aus schwarz schimmernden Südseeperlen gewesen oder wenigstens einem Seidentuch aus dem Duty Free? Das Budget eines erfolgreichen Chirurgen hätte solch ein Mitbringsel doch gewiss verkraftet! Aber wahrscheinlich habe ich bloß eine rabenschwarze Seele, dachte Lilli. Vielleicht hat Marcel ja deshalb in den Armen dieser Tussi Zuflucht gesucht. Weil ich so eine scharfe Zunge habe und nie meinen Mund halten kann. Ich sollte mich endlich bessern und mir Katharina zum Vorbild nehmen. Oder ist es dazu schon zu spät? Ob ich ihr wohl von dem blöden Haar erzählen kann?

    Lilli holte tief Luft. Cornelia kam aus dem Garten gerannt, Katharina strich ihr über die feuchte Stirn.

    »Leo operiert heute wieder den ganzen Tag, aber er hat mir fest versprochen, endlich einmal pünktlich zum Abendessen da zu sein. Kommt doch auch vorbei, du und die Kinder, wir sind schon so lange nicht mehr zusammengesessen.«

    Lilli schüttelte jedoch den Kopf. Der passende Moment war vorüber.

    »Danke, das klingt wirklich verlockend, aber die Zwillinge übernachten heute bei einer Schulfreundin, und ich will die Ruhe nützen und ein paar alte Fotomappen durchsehen.«

    Sie stand auf und streckte sich, dass die Wirbel in ihrem Rücken knackten. Katharina schlug mit einer Serviette nach einer Mücke, die über dem Krug mit Apfelschorle kreiste. Dann gingen sie gemeinsam den Gartenweg entlang.

    »Und vergiss den Unsinn mit dem Haarefärben, hörst du«, sagte Katharina, sie stieß Lilli mit dem Ellbogen ein wenig in die Seite, eine für sie ungewöhnliche, ja geradezu temperamentvolle Geste.

    »Man sollte zu seinem Körper stehen, die Zeichen der Zeit mit Würde tragen … wer hat das eigentlich immer gepredigt? Eine gewisse Lilli Färber, wenn ich mich recht entsinne.«

    »Jetzt verwechselst du mich aber ganz eindeutig mit einer gewissen anderen Person«, gab Lilli zurück, sie konnte endlich lachen.

    Die Frauen küssten sich zum Abschied auf beide Wangen. Lilli winkte den Kindern zu, dann trat sie wieder in die Sackgasse hinaus. Die Nachmittagssonne war so gleißend, dass sie vermeinte, den heißen Asphalt durch die dünnen Sohlen ihrer Sandalen zu spüren.

    Sie ging die stillen Straßen entlang. Pfingstrosen hingen schwer über Gartenzäune, Falter ließen sich von unsichtbaren Luftströmungen schaukeln, ein Rasensprenger hob und senkte sich im Takt. Lilli fiel plötzlich jener Nachmittag ein, als sie das erste Mal in diese Straßen eingebogen war. Sie hatte einen Ring am Finger getragen und ein Ultraschallfoto der Zwillinge in ihrer Handtasche. Und sie hatte ohne Unterlass an Shirley McLaine denken müssen, die bei der Oscar-Preisverleihung ihre Statue so voller Triumph geschwenkt hatte.

    »I deserved it«, hatte Shirley McLaine überschwänglich gerufen, »I deserved it. Ich habe sie mir verdient.«

    Für diese Ehrlichkeit hatte ihr Lilli sogar sämtliche Psychotrips und Wiedergeburtstheorien verziehen. Und genauso hatte Lilli selbst sich gefühlt an jenem Junitag. Am liebsten hätte sie Marcel wie eine goldene Oscar-Statue geschwenkt und den Vorübergehenden zugerufen: »I deserved him. Ich habe ihn mir verdient. Ich habe mir dies alles hier verdient. Ich habe so lange auf ihn gewartet.« Ganz wackelig in den Knien vor Glück war sie gewesen.

    Zwölf Jahre später spazierte Lilli zum einzigen Supermarkt im Viertel. Kombiwagen parkten auf dem Vorplatz, Frauen luden Kisten mit Mineralwasser ein, Kinder wurden in ihre Sitze gehievt. Sie hatte kein Markstück für einen Einkaufswagen dabei, aber das war auch gar nicht nötig.

    Lilli betrat den Supermarkt, sie winkte der sommersprossigen Verkäuferin hinter der Wursttheke zu, ließ Kohlköpfe und Milchpackungen links liegen und steuerte die Kosmetikabteilung an. Irgendwo hier musste es doch ein Regal für Haarfärbemittel geben, endlich stand sie davor. Das Angebot war überwältigend, Lilli begann die leuchtenden Mähnen mancher Frauen plötzlich in einem anderen Licht zu sehen. Du bist ganz schön naiv, sagte sie zu sich selbst, natürlich nur in Gedanken. Aber der Supermarktsleiter blieb abrupt stehen, er grüßte Lilli, wie es ihr schien, ein wenig irritiert.

    In dem Regal waren Tiegel und Tuben geschlichtet, Pulver und Schaumsprays, von Saharablond bis Tintenschwarz. Lilli hielt sich mit Bedacht an die Rottönungen, zwei davon gefielen ihr auf Anhieb, »Spicy Brown« und »Red Planet«. Lilli begann zu kichern, der Verkäufer an der Käsetheke blickte streng zu ihr herüber.

    Lilli erstand zu seiner Besänftigung ein Stück Brie und ein halbes Pfund Gouda, dann ging sie nach Hause zurück, ohne Umwege. Sie fand, dass dieser Tag wohl ein Einschnitt in ihrem Leben gewesen war. Sie fand sich ziemlich tapfer.

    Frauen mit Mann haben immer Fleisch im Kühlschrank. Koteletts und Speck und Würste, dazu Bier im Sechserpack. Frauen ohne Mann verfügen über Joghurt mit Acidophilusbakterien angereichert, Selleriestangen im Gemüsefach, eine Flasche Weißwein »für alle Fälle«.

    Lilli stand gebückt vor der offenen Tür und blickte in das wohlgefüllte Innere. Marcel war schon vor einem dreiviertel Jahr ausgezogen – nun ja, eigentlich hatte sie ihn hinausgeworfen, an einem golddurchwirkten Wochenende im Oktober –, aber noch immer erstand sie jeden Samstag ein halbes Pfund von der Mortadella, die er so sehr gemocht hatte, und kontrollierte sorgfältig das Ablaufdatum des Filets, das sie wie gewohnt mit grobem Pfeffer bestreute und mit Öl bepinselte. Ab und an unternahm sie einen halbherzigen Versuch, Jan und Leah zu einem Stück gebratener Putenbrust zu überreden, aber ihre Kinder schüttelten sich vor Grausen bei dem bloßen Gedanken. Also rührte Lilli Milchreis und brutzelte Spiegeleier zum Spinat, die restliche Mortadella und die Putenbrust wurden mit schlechtem Gewissen in die Mülltonne gekippt.

    Und dennoch hatte sie nicht die Absicht, von diesen überflüssig gewordenen Ritualen abzulassen. Mit Schaudern dachte Lilli an die gähnend leeren Fächer der Jahre vor Marcel zurück, die sie depressiver gestimmt hatten als jedes Februarbegräbnis.

    Sie ließ die Kühlschranktür zufallen und ging ins Wohnzimmer, wo der Boden mit Fotomappen und Schwarzweißvergrößerungen übersät war. Mit ihrer Tochter hatte sie bereits Telefoniert, Jan und Leah waren auf dem Gartenfest einer Klassenkameradin eingeladen und gehörten außerdem zu den Auserwählten, die mit Schlafsack auf der Veranda übernachten durften. Lilli seufzte unwillkürlich, sie hoffte bloß, dass die Gastgebereltern diskret auf Sitte und Anstand achten würden.

    Und der Kindesvater kümmert sich wieder einmal um nichts, dachte Lilli – und wusste zugleich, dass ihr Groll ungerecht war. Marcel war ein liebevoller und interessierter Vater geblieben, er sah seine Kinder kaum seltener als zu Zeiten ihrer intakten Ehe. Heute befand er sich in Stuttgart, zur Besprechung mit einem seiner wichtigsten Auftraggeber. Der war erst kürzlich aus New York zurückgekehrt, jetzt träumte er von einer Villa, ein bisschen wie das Guggenheim-Museum, nur »gemütlicher«. Ihr Exmann hatte entnervt geseufzt, als er ihr davon erzählte, aber der Auftraggeber war ein hoch angesehener Mann, es galt, seine Visionen entsprechend zu würdigen – und ihm dennoch eine Betonspirale hoch über dem Neckar mit Fingerspitzengefühl auszureden.

    Lilli war sich sicher, dass sie an diesem Abend noch von Marcel hören würde. Nach einer Phase wilder Wut und erbitterter Schuldzuweisungen hatten sie zu ihrer beider Verblüffung wieder zu vernünftigen, ja freundschaftlichen, ja beinahe zärtlichen Gesprächen zurückgefunden. Zunächst den Kindern zuliebe, und dann … Vor fünf Wochen war es passiert, nach einem Elternabend, den sie gemeinsam absolviert hatten, anschließend war Marcel noch »auf ein Glas Wein« mitgekommen, sie hatten zwei Flaschen Rotwein leer getrunken und gestritten und geheult und sich geküsst wie vor zwölf Jahren. Am nächsten Morgen war sie neben Marcel aufgewacht, du lieber Himmel, sie hatte ihn unsanft wachgerüttelt und hinauskomplimentiert, bevor Leah und Jan wach wurden. Die Kinder litten schon genug unter der Trennung ihrer Eltern, man brauchte sie nicht noch unnötig zu verwirren, fand Lilli.

    Und sie selbst?

    Lilli seufzte und kniff die Augen zusammen, wie es kleine Kinder tun, wenn sie beim Versteckspiel nicht gesehen werden wollen. Ich weiß es nicht, dachte sie. Das Leben wird immer komplizierter. Dabei habe ich immer gedacht, dass alles einfacher sein wird, dass ich nur mit dem Finger zu schnippen brauche, wenn ich erst einmal eine erfahrene Frau von über vierzig bin.

    Sie rieb ihre Augen und blickte um sich, als ob sie ihr Wohnzimmer noch nie gesehen hätte, die Regale voll unordentlicher Bücherstapel und die gerahmten Fotos an der Wand, den Tulpenstrauß in der grässlichen Kristallvase, die ihr Marcel und die Zwillinge vor Jahren zum Muttertag überreicht hatten. Sie thronte mittendrin, auf einem weichen Stapel aus geschichteten Kissen, umgeben von Mappen und Zeitschriften, auf dem niederen Tisch vor ihr standen ein Teller mit Brie, Crackers und Oliven, daneben ein volles Weinglas und eine fast leere Flasche. Beinahe schämte sie sich für ihr Wohlergehen, während ihr Exmann draußen in der Welt größenwahnsinnige Bauherren besänftigen musste. Als das Telefon läutete, gab sie sich größte Mühe, beschäftigt und gestresst zu wirken: »Färber, ja bitte?«

    Marcels Stimme klang ehrlich müde. »Pfhhh, gerade hat er eine neue Flasche bestellt, das wird noch eine lange Nacht.

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