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Monden: Der Wellen Schatten
Monden: Der Wellen Schatten
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eBook422 Seiten6 Stunden

Monden: Der Wellen Schatten

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Über dieses E-Book

Der Winter rückt näher, das Geld wird knapp. Marie, die androgyne Heldin von Federmairs neuem Roman, findet in einem Haus am Rand einer großen Stadt Unterschlupf. Nach einer wahren Begebenheit erzählt der Autor wie seine Protagonistin als Schattenexistenz im Monden-Haus unbemerkt im Schrank des Besitzers überwintert, um danach langsam wieder aufzublühen – das liest sich in einer Fülle von feinsinnig beschriebenen Szenen als Entdeckungsreise ins eigene Innere und in die labyrinthischen Netze einer zwischenmenschlichen Beziehung, die ohne Worte auskommen muss. Als Krankenschwester in den Alltag zurückgekehrt, erzählt sie ihre Geschichte einem rekonvaleszenten Schriftsteller. Und sie überlässt ihm unauffällig ihr Notizbuch, das ihre Vorgeschichte in poetischen Fragmenten andeutet. Der Schriftsteller nimmt die Herausforderung an, dies alles zu einem Ganzen zu fügen und darin wellengleich Maries – und unser aller – Fragilität zu spiegeln.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum16. Okt. 2017
ISBN9783701362554
Monden: Der Wellen Schatten

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    Buchvorschau

    Monden - Leopold Federmair

    Schatten

    1

    iPod!

    Wenn ich das Wort in meinen federleichten Computer tippe, wird es von einem sogenannten Rechtschreibprogramm zu Ipod geändert, und wenn ich weiterschreibe, wird das vom Programm vorgeschlagene Wort mit einer roten Wellenlinie unterstrichen. Die Maschine will es besser wissen als ich. Die Maschine weiß es besser! In der Anfangszeit des iPod, inzwischen gibt es ja mehr Generationen von dem Gerät, als sich in meiner Familie zurückverfolgen lassen (ich spreche von Menschengenerationen) – in der Anfangszeit des iPod las ich den ersten Buchstaben des neuen Worts als spanisches Ausrufezeichen, und aus diesem Grund war mir das Ding sympathisch. Die umgedrehten Satzzeichen gehören zu den schützenswerten, vom Verschwinden bedrohten Formen dieser Welt. Trotzdem wäre ich nie auf die Idee gekommen, mir einen iPod zuzulegen. Zu dem Gerät gehörten Kopfhörer, kleine Ohrstöpsel, die man sich in die Ohrmuschel steckte, so daß links und rechts zwei vor der Brust zusammenlaufende Fäden herabhingen. Ich wollte mir die Ohren nicht verstopfen, sei es auch mit noch so schöner Musik. Am wenigsten wollte ich mir die Ohren draußen im Freien verstopfen, wo ich mich viel lieber an Vogelgezwitscher, Baumkronenrauschen, Wassergluckern ergötzte, oder auch an Kreissägen und Motorengebrumm, Räderquietschen und Großstadtrauschen, und wo ich es sogar vorzog, Handygequatsche, Zungenschmatzen und Krähengekreisch abzuwehren, anstatt mir die Gehörgänge gewaltsam fluten zu lassen. Musik wollte ich nicht ins Ohr gestopft, nicht ins Gehirn gedrückt bekommen. Die Klänge brauchten doch Raum zu ihrer Entfaltung. Schon die technische Wiedergabe mithilfe von sogenannten Tonträgern empfand ich als problematisch, doch immerhin, wenn die Klänge von einer Schallplatte aufstiegen, sich aus dem Lautsprecher lösten, in die Freiheit des Raums entlassen wurden, sei es auch nur in einem engen Zimmer, war ich es zufrieden und konnte das, was mir in Form von leichten, unsichtbaren Schallwellen als Musik entgegenkam, genießen. Ich weiß sehr wohl, daß man iPods mit Lautsprechern verbinden kann. Aber im Zimmer kann ich ebensogut ein herkömmliches Abspielgerät verwenden, oder einen Computer. Die iPods sind eben doch nur dazu da, den Konsumenten die Ohren zu verstopfen, während sie wirklichkeitsfremd durch Straßen und Supermärkte laufen, sich von Zügen und Autobussen fortbewegen lassen, im Café oder in der Universitätsbibliothek lungern. Im übrigen will ich gar nicht ständig Musik um mich haben. Lieber konzentriere ich mich auf die Konzerte, für die ich gern ein wenig Geld ausgebe. Manchmal sogar ziemlich viel. Der echte, lebendige, im gegenwärtigen Augenblick erzeugte Klang ist es mir wert. Und dann steckte dieses Nano-Ding in meiner Tasche. Alles Gute zum Geburtstag! Nun ja, man freut sich über unverhoffte Geschenke. Daß ich überhaupt an meinem Geburtstag ins Krankenhaus ging, hatte sich nicht vermeiden lassen. Meine Verpflichtungen an der Universität einerseits, der dichte Terminkalender der Chirurgen und Kardiologen andererseits hatten bewirkt, daß meine Ankunft in dem erst vor kurzem renovierten, hellen, wenn auch atmosphärisch gedämpften Etablissement auf den 25. August fiel. Meine Frau wußte, daß ich für mindestens zwei oder drei Tage nicht fähig sein würde, das zu tun, was ich immer tat: lesen und schreiben. Denn fernsehen, das lehnte ich ab. Ich glaube übrigens nicht, daß es der Genesung von Kranken zuträglich ist. Ebensowenig wie das Surfen im Internet. Blieb also nur die Musik. Ohne Kopfhörer ist aber keine Musik zu haben an einem Ort für Ruhebedürftige. Vorteile des iPods: Meine Frau hatte mir eine Unmenge Musik, von der sie wußte, daß ich sie liebe, heruntergeladen, genug für Stunden, Tage, Jahre… Mozart, Schumann, Brahms. Dreimal der ganze Chopin, gespielt von Rubinstein, Ashkenazy, Haraziewicz. Musik fürs Leben; genug jedenfalls für meines, das langsam zur Neige geht, auch wenn ich nach der Operation hoffen darf, noch ein paar Jahre, vielleicht Jahrzehnte, bei den Meinen zu weilen.

    „Erfolgreich, das ist das Wort, das die Ärzte gern verwenden, um ihre Leistungen ins Licht zu stellen. Sie gratulieren den Patienten, aber in Wahrheit beglückwünschen sie sich selbst. Meine Ärztin ist nicht so, oder nicht nur so, denn gewöhnlich paßt sie sich der Umgebung und ihren Gepflogenheiten an, andernfalls könnte sie ihre Arbeit nicht tun. Und Fehler, das ist allgemein bekannt, wirken in diesem Beruf fatal. Ich schreibe „meine Ärztin, als hätte ich eine persönliche, gleichsam verwandtschaftliche Beziehung zu ihr. Das ist nicht der Fall. Ich bewundere diese kleine Person – sie reicht mir, bei aufrechter Haltung, kaum an die Schulter – lediglich für ihre Entschlossenheit, ihren Tatendrang, die Sicherheit ihres Urteils. Bei der Operation nahm sie die Hilfe von Kollegen in Anspruch, von Ärzten und Pflegern, ohne die sie meinen widerspenstigen Körper, der nicht wußte, in welche Gefahren er sich durch seine Unruhe brachte, niemals hätte zähmen können. Hinzu kam der Faktor der Zeitdauer, die nicht vorhergesehen werden konnte: sieben Stunden waren es am Ende, zuerst bei Bewußtsein des örtlich betäubten Patienten, später im Dämmerzustand, vom Patienten aus gesehen, und schließlich, nach einer Injektion, über die er Erleichterung empfand, ohne daß er sich von irgend etwas Rechenschaft abzulegen vermochte, ganz ohne Bewußtsein. Schaum sei mir vor dem Mund gestanden, als ich auf der Liege aus dem Operationssaal geschoben wurde, sagte mir meine Frau, als ich wieder ansprechbar war. Und die Krankenschwester ließ mich wissen, meine Frau, die sonst überhaupt nicht zur Sentimentalität neigt, habe meine Hand gehalten und geweint. „Gott sei Dank…" Ich weiß nicht, warum sie das hinzugefügt hat; als sei es eine Leistung, eine Hilfestellung, wenn geweint wird. Erst später erfuhr ich von der Kardiologin, die mich zusammen mit einem Chirurgen operiert hatte, mein Kreislauf sei gegen Ende der Operation zusammengebrochen und der Puls, der bei mir auch sonst keine fünfzig Ausschläge pro Minute erreicht, sei auf zehn gefallen.

    Ich habe kein Interesse an allzu detaillierten medizinischen Erklärungen, und schon gar nicht will ich den Ärzten in ihr Handwerk pfuschen; soweit wie möglich vertraue ich ihnen. Aber wenn das Blut in meinen Adern nicht mehr pulsierte, sondern nahezu stillstand, war ich doch eher tot als lebendig? Nun ja, halten wir uns an die Tatsachen. Tatsache ist, daß ich mich danach einige Tage lang, mehr als zwei oder drei, so schwach fühlte wie nie zuvor in meinem Leben. Meine Frau hatte recht behalten: zu etwas anderem als Musikhören war ich nicht in der Lage, und eine ganze Weile nicht einmal dazu. Der iPod lag bis zum Donnerstag – die Operation war am Montag, geendet hatte sie am Abend – unberührt auf dem Nachtkästchen am Kopfende meines Betts.

    Unberührt… Nein. Jemand mußte ihn berührt, sogar benutzt haben, das war klar. Längst weiß ich, wer es war, und will die werte Leserschaft nicht unnötig auf die Folter spannen. Als ich das Wiedergabezeichen auf dem iPod berührte, hörte ich aus den kleinen weißen Knöpfen, die ich mir – körperlich geschwächt und gedankenlos – in die Ohren gesteckt hatte, eine Stimme, die mir sogleich unwirklich vorkam, wie aus einem Traumreich, einer unbestimmbaren Örtlichkeit, einem Nirgendwo, zugleich nahe und fern. Nicht männlich, nicht weiblich; nicht jung, nicht alt; sondern eine absolute, absolut andere Stimme, die mir nach einer Weile des Hörens schon vertraut vorkam und mich durch gewisse Schwankungen dann doch wieder überraschte. Erst gegen Ende der dritten Folge wurde mir klar, daß es die vorhin erwähnte Krankenschwester war, die hier sprach. Marie, der Name stand auf ihrem Namensschildchen, neben einem bunten Blümchen, das sie wohl selbst dazugemalt hatte. Echte Blumen, mitunter ein kleines Sträußchen, brachte sie fast täglich mit, nicht nur für mich, auch auf den Tischchen, den Nachtkästchen der anderen drei Patienten im Raum, von denen ich nicht viel mehr als hin und wieder ein Husten oder Stöhnen, ein Flüstern, wenn sie Besuch hatten, oder eine Geste, ein Gesicht, eine Ahnung von Hinfälligkeit im Gardinenspalt wahrnahm, steckte sie welche in die braunen, grünen und durchsichtigen Fläschchen und Gläschen, die sie vermutlich mit eigener Hand zweckentfremdet hatte.

    Die Stimme in meinem Kopf aber, die keine Gelegenheit hatte, mit den Lüften in Berührung zu kommen – sagt man nicht auch von einem guten Wein, er entfalte erst im Kontakt mit der Luft sein volles Aroma? –, diese Stimme klang anders als die hellere, manchmal etwas unbeherrschte, flatternde, ihrer Besitzerin nicht vollkommen gehorchende Stimme der jungen, nicht mehr ganz jungen, etwa dreißigjährigen Frau, die mich für die Operation vorbereitet hatte (denn dazu bedarf es einiger Vorbereitungen). Anfangs hielt ich die Folge von Lauten, die sich da in mein Gehirn bohrten, sogar für die Stimme eines Mannes. Oder ich achtete nicht darauf, ob Mann oder Frau, die Stimme schnarrte leicht, zeitweise so, als würde jemand Text von einem Blatt ablesen, mit hochgezogenen Schultern, starrem Oberkörper, unter irgendeiner Art von Zwang, der nicht äußerlich sein mußte, sondern innerlich, dieser Sprechzwang, ja, innerlich war. Hin und wieder schien sich die Stimme aber zu befreien, dann schwoll sie an, überstürzte sich, verhaspelte sich, begann zu stottern. Nach ein paar Minuten erfolgte eine kurze Pause, die Sprecherin schien sich zur Ordnung zu rufen (oder gerufen zu werden?) und verfiel wieder in jene Monotonie, die dem, was sie vorbrachte, widersprach. Sie sagte „ich", diese Stimme, aber oft vermied sie das Ich und gebrauchte den Eigennamen, Marie, fiel also von der ersten Person in die dritte.

    Beinahe drei Folgen lang kam ich nicht auf den Gedanken, die Marie der Erzählung mit der gleichnamigen Krankenschwester in Verbindung zu bringen, die mich umsorgte. Zwischen ihren Sätzen, manchmal auch mittendrin, waren Pausen, meistens zum Nachdenken, oder weil sich die Sprecherin anders besann; manchmal auch, weil sie durch einen Ruf oder eine Pflicht aus ihrer Erzählung gerissen wurde. Hin und wieder vernahm ich ein leises rhythmisches Fiepen, das nach wenigen Impulsen verstummte.

    2

    Das Haus lag am Stadtrand in einer Siedlung, am Fuß des Berges. Man sah, daß der Wald abgeholzt worden war, damit man dort bauen konnte, ein Rechteck in der Wildnis, wie ein Tischtuch auf der Wiese, beim Picknick, wie wir es früher …

    Nein, ich will Ihnen nicht von früher als früher erzählen. Eine ziemlich steile Straße führte auf die Anhöhe und mündete in ein Gittermuster von noch schmaleren, schmäleren Sträßchen, wo zwei Autos, wären sie sich begegnet, Mühe gehabt hätten, aneinander vorbeizukommen. Adrette Einfamilienhäuser mit kleinen, manchmal auch größeren Gärten, da und dort hatte man eine Kiefer stehengelassen oder eine Buche, es gab Tretautos, Dreiräder, Gummistiefel, Kindersachen, obwohl man selten Kindergeschrei hörte. Unten beim Teich, von dem schmale Kanäle Wasser zu den Feldern leiteten, war ein Spielplatz, aber dort spielten die Kinder nicht, wahrscheinlich, weil die Bäume noch zu klein waren, sie spendeten keinen Schatten, und zum Klettern waren sie auch nicht geeignet. Einige der Häuser an der Bergseite waren älter, die Mauern dicker, kleine Villen in wuchernden Gärten. Keine Dornröschenschlösser, aber doch ein bißchen … stattlich. In dieser Siedlung lag auch das Haus von Monden. Es war ein Mittelding zwischen den Villen und den Familienhäusern weiter unten, aber ich durfte nicht wählerisch sein … Oder anders gesagt, ich war wählerisch, weil ich wählerisch sein mußte, aber die Schönheit war kein Kriterium, sondern die Einsamkeit, die Unauffälligkeit, der Bewohner, der Hausschlüssel, die Nachbarschaft, die Gelegenheit. Es gab viele Kriterien, aber nicht Schönheit oder Bequemlichkeit. Sauberkeit ja, denn auf einem unordentlichen Anwesen hätte ich mich verraten.

    Einige Tage bin ich dort in der Gegend auf der Lauer gelegen, im Wald, bei einer der Meditationshütten, von denen es hier viele gibt, oft versteckt und wenig besucht, aber in Stand gehalten von uralten buckeligen Weiblein, die den Boden mit erstaunlicher Körperkraft fegen. Nicht nur hier, auch in anderen Gegenden habe ich das Meine zur Pflege der Hütten und Kiesplätze, der Stiegen und Bäume und Steine getan, aber die Weiblein, die zwar aus der Ferne grüßten, mich aber sonst gar nicht zu bemerken schienen, gingen unbekümmert zu Werk. Der Herbst hatte noch nicht begonnen, es gab keine gefallenen Blätter zu kehren, aber die Nächte wurden kühler, früher oder später würde ich mich um einen anderen Schlafplatz umsehen müssen. In der Stadt? Auf dem Bahnhof? Das widerstrebte mir. Von den halbwegs sicheren Orten wurde man vertrieben, Polizisten kamen und griffen einem unter die Arme, höflich, aber bestimmt. Einmal, da ist es so gelaufen, drei Uniformierte standen um mich herum, konnten sich nicht entschließen, redeten dann in ein Handy und ließen eine kräftige Frau kommen, in schmucker Uniform (mit blinkendem Orden!), die mir unter die Arme griff. Ich wäre ja von allein gegangen, aber sie ließen mich nicht, bevor sie nicht meine Papiere überprüft hatten. Meinen Dienstausweis trage ich immer bei mir. Damals war er zwar abgelaufen, aber der mit dem Handy rief im Krankenhaus an, irgendwer rief irgendwo an, die Computer wissen alles, zu jeder Tages- und Nachtzeit, schließlich kam die Ordensträgerin und griff mir unter die Arme. Nicht so fest, ich tue ja nichts … Unsere Blicke trafen sich, die Frau lächelte, über ihre Stirn hing eine braun-blonde Strähne, und daneben war eine ringförmige Narbe, ein kleiner weißer Kreis in der dunkleren Haut. Nur eine Sekunde, aber die Polizistin lächelte.

    Nein, nicht in die Stadt. Da waren auch die stinkenden, bärtigen Männer, die alle etwas von mir wollten, aber zu schwach waren, um mehr als ein bißchen lästig zu sein. Außer einem, der hatte einen andern getötet im Streit und war stolz darauf, der war zu allem imstande, aber davon muß ich dir nicht erzählen. Also, ich legte mich auf die Lauer, hatte ja Zeit. Eigentlich lag ich Tag für Tag auf der Lauer, immer schon bin ich auf der Lauer gelegen, kann man das nicht so sagen? Die Meditationshütten haben keine Wände, nur Pfeiler, und es geschieht, daß nachts, während du schläfst, ein Tier an dir schnuppert, aber das macht mir nichts aus. Im Gegenteil, ich liebe es, wenn mich der Atem der Welt liebkost. Kann man doch sagen? Bei Monden war, wäre mit den Liebkosungen Schluß. Und mit der Nachtkälte war ebenfalls Schluß, und mit der Feuchtigkeit, und der Hitze. Und mit der Angst. Feine Angst, eine Art Dunst, Feinstaub. An die Geräusche hatte ich mich gewöhnt, an die Schreie, das Stöhnen und Zischen, das Kratzen der Marder, das Zirpen der Grillen, das Gebrumme der Frösche. Die Fagott- und Flötenstimmen, das Trommeln vom Specht, wenn am Rande des Himmels ein Silberstreif erschien … Ich will nicht von früher als früher reden. Ich lag auf der Lauer, im Schneidersitz, Lotossitz, saß auf der Lauer und beobachtete die Bewegungen, wann jemand aus dem Haus ging, wann er zurückkehrte, nur in dieser einen Straße, die hatte ich mir schon erwählt. Wann der Postbote kam, wer häufig Pakete bekam, wo Kinder waren, wo nicht, wie die Fenster und Türen ausgerichtet waren, ob man von außen in die Zimmer sehen konnte oder nicht, Gartenzäune, Abstände zwischen Pflöcken, Gardinen und so weiter, Möbel, Leere, Bücher, Licht. Und natürlich die Menschen, die Bewohner. Eigentlich kam nur eine alleinstehende Person in Frage. Ein alter Mensch, dachte ich am Anfang, ein Gebrechlicher wie die im Krankenhaus, ein Tauber Stummer Blinder, dem ich meine Hilfe anbieten könnte: Ich habe eine Ausbildung … oder ganz still, ich wäre einfach da, eines Tages träte ich über die Schwelle und wäre da und der Alte oder die Alte, meistens sind es ja Frauen, die Männer können sich nicht um sich selbst kümmern, die werden in Altenheime verfrachtet, also die Alte würde sich an mich gewöhnen, so sehr, daß sie sich ein Leben ohne mich nicht mehr vorstellen könnte … Oder so ähnlich. Die Alten stellen sich gar nichts vor, sie nehmen, was ist, es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Eine Zeitlang, müssen Sie wissen, habe ich regulär gearbeitet in so einem Heim. Wo die dem Tod entgegengehen, dem Tod gegenüberliegen, ganz ruhig, langsam, auf ein Ziel hinschlafen, das sie nie erreichen. Niemand stirbt, nie. Du brauchst keine Angst zu haben. Du nicht.

    Monden war der einzige Alleinstehende in der Straße. Seine Nachbarn waren ein altes Paar, der Mann ging manchmal zum Supermarkt hinunter, schlurfte zurück mit halbwegs gefülltem Netz, zweimal pro Woche fuhr der Kleinlastwagen einer Lieferfirma vor (der noch ein paar andere Häuser in der Siedlung versorgte). Sonst gab es nur noch eine alte Frau, die in der Familie ihres Sohnes oder ihrer Tochter wohnte, die hatte zwei Enkel, Gymnasiasten, die Mutter brachte sie im Geländewagen, der viel zu groß war für die schmale, asphaltierte Straße, morgens und abends irgendwohin, zur Schule, zum Tennis, zur Klavierstunde, während der Vater … Ich habe nicht herausgefunden, wie der zur Arbeit kam, am Morgen, eine ganze Weile, nachdem Monden das Haus verlassen hatte, lief er, eine Aktentasche in der Hand, das Handgelenk schlenkernd, die Straße hinunter, scheinbar gut gelaunt, oft sogar pfeifend, vielleicht nahm ihn ja ein Kollege im Auto mit, oder der Firmenbus. Kurz und gut, nicht wahr: gut und kurz (sagte Joe, wenn er rauchte), Monden war der einzige in der Straße, womöglich sogar in der ganzen Siedlung, der allein wohnte, und alte Leute waren Mangelware. Singles und Alte, die wohnen in den Stadtzentren, und Penner und Punks, während sich Familien gern ein Häuschen im Grünen suchen … oder bauen … Nein, Monden hat das seine sicher nicht selbst gebaut, auch nicht bauen lassen, das sieht man, es ist älter als er selbst, kein Single-Haus, wenn es so etwas überhaupt gibt. Einsiedelei. Ja, das Monden-Haus hat etwas von einer Einsiedelei, und der Wandschrank im Schlafzimmer war das innerste Heiligtum. Leer, wie es sich für ein Heiligtum gehört. Damals konnte ich es nicht wissen, aber später wurde mir klar, obwohl ich ihn nicht gefragt hatte (ich habe ihn gar nichts gefragt), daß er in diesem Haus aufgewachsen ist.

    Durchs Blattwerk, schräg unter mir, einen Steinwurf entfernt, sah ich die Garagentür aufgehen, eine Kipptür, die sich die niedrige Decke entlangschob, mit Hilfe eines Mechanismus geschoben wurde von einem Mann in grauem Anzug und kurz geschorenem Haar, ziemlich groß gewachsen, gut gebaut, ein Schatten vor dem Schatten des Innenraums, der gleich darauf im Fahrzeug verschwand, einem … ich habe mich nie für Autos interessiert, einem silbergrauen Gefährt, dem der Mann dann noch einmal entstieg, um mit drei raschen Schritten zur Garagentür zurückzugehen, sie herunterzuziehen und abzuschließen. Während der Wagen mit laufendem Motor auf der Straße stand, warf der Mann einen Blick auf die Hausfront, bevor er sich ans Steuer setzte und losfuhr. Langsam beschleunigend, normales Tempo. Kurz darauf ertönten die beiden Gongschläge aus dem Wald auf einem weiter hinten ansteigenden Hügel. Der Mann verließ jeden Morgen um dieselbe Zeit sein Haus und kehrte nicht vor einem bestimmten Zeitpunkt am späten Nachmittag zurück. An den zwei Wochenenden, während deren ich auf der Lauer lag, fuhr er insgesamt zweimal weg, und nur einmal kehrte er spät heim, kurz nach Mitternacht, glaube ich. Ein alleinstehender Mann mit regelmäßigen Gewohnheiten, nicht zu jung, nicht zu alt, vielleicht geschieden, wer weiß. Heute läßt sich jedes zweite Ehepaar scheiden, die meisten nach wenigen Monaten. Stimmt doch, oder? Mein Vater, der war sogar zweimal geschieden, bevor er mich bekam, das heißt, meine Mutter, meine Mutter bekam mich, ich habe sie nie gesehen. Mein Vater wechselte das Auto alle sechs Monate, Sommerwagen, sagte er, Winterwagen, aber für mich waren sie alle gleich … Bequeme Ledersitze, trotzdem roch es nach Gummi und Ethanol, die haarigen Hände klebten am Lenkrad, spätestens nach zehn, fünfzehn Minuten Fahrt mußte ich ins Freie, so kann man doch keinen Ausflug machen.

    Also Monden. Zweimal ging ich zur Haustür, auf direktem Weg die Böschung hinunter. Hätte ich den Weg und dann die Straße genommen, ich hätte eine halbe Stunde gebraucht. Mittags, ich dachte, in der Mittagszeit erregt es sicher keinen Verdacht, die wenigen Leute, die zu Hause waren, saßen am Eßtisch, ich konnte sogar ihr Besteck klappern und klingen hören. Eine Gabel, die auf Silbergeschirr schlug, daß es tönte, lauter als der Gong. Dann der Mittagsschlaf, selbst die Vögel machten eine Pause, es war immer noch ziemlich heiß. Am besten mit raschen Schritten, zielstrebig, wie eine Eilpostbotin. Hinter der Garage befand sich ein Garten, nicht groß, der Rasen vor nicht allzu langer Zeit gemäht. Rosen blühten, aber zwischen den Ranken wuchs hohes Gras. Zur Straße hin Hagebuttensträucher. Drei Stufen führten zum Eingang, und ich hätte fast auf die Klingel gedrückt, so sehr ging ich in meiner Rolle auf. Ich stoppte die Handbewegung, als mein Blick auf das Namensschild fiel: Monden. Monden … War das der Name einer Firma? Ein Familienname? Ein Eigenschaftswort? Seltsam, ich stellte mir gleich etwas vor. Ohne die Augen zu schließen, sah ich, wie jemand durch ein freistehendes Tor schritt. Im Mondlicht, gern hätte ich das Wesen überholt, um sein Gesicht zu sehen. Ich drückte auf die Klinke der Haustür und wußte im voraus, daß sie verschlossen war. Bei meinem zweiten Erkundungsgang, wieder mittags, trat ich in den Garten, um mich nach einem anderen Eingang umzusehen. Hätte mich jemand entdeckt, ich hätte mich als Verwandte von Herrn Monden ausgegeben, seine jüngere Schwester, aus einer anderen Stadt angereist, ich wollte hier auf den Bruder warten. Ohne Gepäck? Den Rucksack ließ ich lieber im Versteck unter dem Hüttenboden. Fürs erste, man weiß nie, wie das Abenteuer ausgeht. Mein Äußeres war … wie soll ich sagen, nicht gepflegt, aber ich wusch mich täglich, und manchmal schwemmte ich die Unterwäsche im Bach, badete sogar darin, nachts, im Mondlicht, wenn die Luft lau war. Kaufte mir ab und zu etwas Neues, stopfte die alten Klamotten in einen Mülleimer im Einkaufszentrum, fühlte mich dann wie neu. Die Verkäuferinnen sahen mich schief an, wenn ich fragte, ob ich das Gekaufte am Leib behalten dürfe, aber sie hatten nichts dagegen. Im Verlauf des Sommers war mein Geld langsam zur Neige gegangen, und die Kreditkarte des Primars – den kleinen Diebstahl wird er nicht bemerkt haben, er hat ja so viele Karten – die Kreditkarte wollte ich nur im Notfall benützen, weil sie mich womöglich verraten hätte. Auch das war ein Grund für meine Suche. Und an diesem Tag hatte sie Erfolg, denn als ich, ungläubig, die Klinke herunterdrückte, öffnete sich die Tür.

    3

    In der Nacht vor der Operation hatte mich die Krankenschwester, dieselbe Person, deren gespeicherte Stimme ich im iPod herumtrage, während ihre Besitzerin wie vom Erdboden verschluckt ist, beim Weinen ertappt. Ich schreibe „ertappt", weil ich es so empfand, obwohl ich schon weiß, daß auch Männer weinen dürfen. Möglich, daß die Schwester eine ganze Weile hinter dem Vorhang stand und lauschte, unentschlossen, ob sie mich ansprechen sollte oder nicht. Zur Ausrüstung der von zwei lachsfarbenen Vorhängen umgebenen Kajüten, aus denen die Krankenzimmer bestehen, gehört dieser Knauf am Ende eines Kabels, mit dessen Hilfe man zu jeder Tages- oder Nachtzeit eine Schwester oder einen Pfleger rufen kann. Den Knopf hatte ich aber nicht gedrückt, es gab überhaupt keinen Grund dazu. Mein Allgemeinzustand war nicht so schlecht, die Krisen waren zwar in letzter Zeit häufiger geworden, mittlerweile traten sie täglich auf, aber ich hatte mit ihnen umzugehen gelernt und wurde nicht so leicht panisch. Die Panikattacken, bildete ich mir ein, gehörten der Vergangenheit an. Trotzdem hatte sich die Schwester genähert, diese kleine, zugleich sanfte und tatfreudige Person. Aus irgendeinem Grund hatte sie sich ins Zimmer geschlichen, einer Ahnung folgend – aber Ahnung wovon? Ahnung meiner Traurigkeit?

    Darum handelte es sich nämlich, um eine tiefe Traurigkeit, die mich dazu brachte, mir meinen Tod vorzustellen. Oder umgekehrt, es war die Vorstellung meines Todes, die mich abgrundtief traurig machte. Vor so einer Operation erklärt einem der Arzt oder die Ärztin in einer eigens für solche Zwecke reservierten, fensterlosen Kammer die Gefahren, denen man sich dabei aussetzt, und am Ende des Gesprächs schreibt man seinen Namen unter eine vorgedruckte Erklärung, ohne die das Unternehmen nicht stattfinden kann. Die Wahrscheinlichkeit, daß ich den Eingriff nicht überlebte, war äußerst gering, aber immerhin, sie war gegeben (Spurenelemente von Wahrscheinlichkeit). Ohne den Wortlaut zu lesen, gab ich mein Einverständnis. Ich hatte keinen Grund, es nicht zu tun, und stellte der Ärztin nur wenige Fragen.

    Trotzdem lag ich jetzt im Krankenhausbett, konnte nicht einschlafen und war todtraurig. Diese Empfindung wurde nicht durch die geistige Vorwegnahme meines Todes ausgelöst, auch nicht durch Angst vor etwaigen Schmerzen, sondern allein durch die Vorstellung, daß meine siebenjährige Tochter ohne mich aufwachsen könnte. Daß ich nicht bei ihr, neben ihr, um sie sein würde, während sie aufwuchs, sich entwickelte, ein bestimmtes Wesen ausbildete, Entscheidungen traf, war das Traurigste, was es auf der Welt gab. An niemanden sonst dachte ich, auch nicht an meine Frau, nur an meine Tochter, die allein sein würde auf der Welt, nicht ganz allein zwar, aber ohne den sie liebenden Begleiter, all die vielen Jahre ihres Lebens, die ihr noch bevorstanden. Was aus ihr werden würde, wollte ich gar nicht beeinflussen, sondern nur dasein, wenn sie mich bräuchte, und ich wußte und spürte, daß sie mich brauchte, nicht nur jetzt, auch in Zukunft. Ich begann sogar, den Gott, an den ich nicht glaube, anzuflehen, mich weiterleben zu lassen, wenigstens die Jahre, bis sie groß wäre, selbständig, erwachsen. Und dann übermannte mich wieder die blanke Vorstellung, ich sei nicht da: ein weißes Bild des Nichts, das meinen Namen trägt. Im Schlaf oder im Wachen ruft meine Tochter nach mir, und ich bin nicht da, werde niemals dasein. Die Tränen rannen mir aus den Augenwinkeln…

    Irgendwann bemerkte ich das Gesicht der Krankenschwester im Vorhangspalt: Marie. Die Frau musterte mich, und gleichzeitig lag auf ihrem Gesicht das, was ich empfand, die Trauer über meine Abwesenheit im Leben meiner Tochter. Keine Zuckungen, kein Schluchzen ihrerseits, sondern eine unmerkliche Veränderung, wie wenn ein Wolkenschatten – oder ein Lichtmuster? – über eine Landschaft eilt. Ich sah, wie die Trauer zur Ruhe kam. Nicht verschwand, sondern zur Ruhe kam und besänftigt zurückkehrte in mich. Eine Hand, an deren Gelenk ich, als der Ärmel nach unten rutschte, flüchtig eine Narbe erkannte, zog den Vorhang zu, und während sie das Gesicht zur Seite wandte, sagte die Frau: „Es ist in Ordnung. Sie sagte nicht: „Es wird alles gut gehen, machen Sie sich keine Sorgen, oder etwas dergleichen. Ihr Satz konnte auch bedeuten: „Es ist in Ordnung, wenn du stirbst, die Welt dreht sich ohne dich weiter." Die Todesvorstellung blieb, aber sie erschreckte mich nicht mehr. Ich schloß die Augen, und das ovale Gesicht der Krankenschwester erschien auf meinem inneren Bildschirm. In einem halb bewußten Hinübergleiten schlief ich ein.

    4

    Was ich vorhin erzählt habe, klingt so, als hätte ich alles geplant, aber so war es nicht, dazu wäre ich gar nicht fähig gewesen. Gut, die letzten Schritte habe ich geplant, das passende Haus ausgewählt, die beste Methode, hineinzukommen. Früher, als ich bei meinem Vater wohnte, war ich oft allein zu Hause, abends, wenn die Haushälterin gegangen war und der Vater sich verspätete, und einmal klingelte es an der Tür und ich öffnete und ließ das Lebewesen herein, einen kugelrunden Mann mit struppigen grauen Haaren, der stank und den Hosenbund mit einer Schnur zusammenhielt, unter der ein Dreieck weißer Haut zu sehen war, weil der Knopf abgerissen war. Ich ließ ihn herein, weil er sagte, er müsse aufs Klo. Einen, der dringend muß, kann ich doch nicht wegschicken, dachte ich, und ließ ihn herein. Und der Mann watschelte wirklich aufs Klo, schnurstracks, als würde er das Haus seit langem kennen … Das ist wieder mal so eine Geschichte von früher als früher. Ich hatte sie alle vergessen, weil ich sie vergessen wollte, und jetzt kommen viele davon zurück, nichts kann sie abhalten, die Heimkehrer, wie kleine Tierchen sind sie, die sich nicht ausrotten lassen. Außerdem kannst du das, was jetzt geworden ist, ohne ein paar davon nicht verstehen. Wir brauchen die Tierchen. Wozu? Frag mich nicht. Früher ist immer noch jetzt.

    Damals war ich in der Abteilung mit den Aussichtslosen, Krebsstation, Sie wissen schon, im Pavillon dort drüben auf der anderen Seite vom Teich. Vielleicht hätte ich mich mit dem Mann nicht einlassen sollen. Ich meine einlassen, wie man sich eben einläßt, wie ich mich auch mit Ihnen eingelassen habe, weil ich gesehen habe auf Ihrem Gesicht, was Sie fühlen, da genügt doch ein Blick … Kann man von mir verlangen, daß ich wegschaue, wenn mich ein Patient sieht? Doch, das kann man verlangen. Aber bei Joe bin ich zu weit gegangen, ich gebe es zu. Oder er ist zu weit gegangen. Nach der Diagnose der Ärzte hätte Joe entsetzliche Schmerzen leiden müssen, aber er sagte, er hätte keine Schmerzen. Er aß nichts und hätte tot sein müssen, aber er war nicht tot, nur fleischlos, Haut und Knochen. Er behauptete, daß er sich vom Licht ernährt, und betete, daß der Winter nicht käme, denn nach der Tag-Nacht-Gleiche sei es bald so weit, den Winter werde er nicht überleben, und er hat ihn nicht überlebt. Sister Morphine nannte er mich, deshalb habe ich die Kapseln genommen, statt seiner. An seiner statt? Er wollte die Kapseln nicht, weil er keine Schmerzen litt. Das Gras genügt mir, hat er gesagt, und ich gebe zu, auch vor der Kommission habe ich zugegeben, daß ich mit ihm geraucht habe, im Sommer bei offenem Fenster, damit man‘s nicht riecht. Klingt unwahrscheinlich, daß es damals niemand bemerkt hat, aber so war es. Ein guter Geruch, nicht wahr, ein wunderbarer, natürlicher Duft, den man sofort erkennt, besser als alles, was es so zu riechen gibt in einem Krankenhaus und besonders in der aussichtslosen Abteilung. Haut und Knochen, aber eigentlich schön, dieses durchscheinende Wesen … vergeistigt, wie sagt man? Es gab Tage, da kam ich ins Zimmer, und das Licht war er, Joe, das Licht kam nicht durch die waagrechten Spälte zwischen den Jalousienblättern, sondern von der Form auf dem Bett, die in der Mitte geknickt war, wie ein großer Zweig, die knorrigen Hüften, der Rücken aufrecht am Kissen, der Kopf seitlich geneigt und die Augen, als horchten sie auf etwas, eine innere Musik. Hey Joe!, sagte ich, und er lächelte. Müde natürlich, wie sonst hätte er lächeln sollen. Er war schön mit seinen langen weißen Haaren, die ich ihm hinten zusammenband, die weißen Haare mit den grauen und grünlichen und karottenroten Strähnen, woher die wohl kamen. Schön und einladend war die genaue Landschaft in seinem Gesicht, die Täler und Erhebungen, die schattenspendenden Wimpern, das Liniengitter auf der Stirnfläche, die dunkleren Tümpel da und dort, die Risse und Klüfte am Mund, die Halme am Kinn, die Farne an den Wangen, das über den Schlüsselbeinen aufsteigende Wurzelgeflecht. Joe bewegte das Handgelenk und lächelte müde. Du machst meine Nachtmär zum Traum! Am linken Gelenk trug er ein Armband aus bunten Fäden, das wie ein Abgesandter der Haarsträhnen wirkte. Ein Geschenk, eine Erinnerung … An wen?, wagte ich einmal zu fragen. An dich, Sister, antwortete er.

    Dorthin, dorthin will ich mit dir, Geliebter, ziehen. Wo sich die Landschaft weitet, um uns aufzunehmen. Das war meine klare Vorstellung. Dorthin schickte mich Joe, nachdem er die Welt verlassen hatte. Geh hinaus und verkünde meine Botschaft … Das Problem ist, daß man von dem Zeug immer mehr braucht. Auch deshalb mußte ich in die Welt hinaus, um von dem Zeug loszukommen und es hinter mir zu lassen mitsamt Joe, der ohnehin nicht mehr da war. Was hatte ich hier noch zu suchen? Alle Aussichtslosen sterben, früher oder später, wie alle Wesen, aber die Aussichtslosen sterben früher als früh. Im Sommer begannen sie zu sterben wie die Fliegen, wie die Fliegen. Du weißt, daß ich weiß, am Ende der Nacht, da bin ich tot. Solche Dinge haben wir nicht nur gesagt, sondern im Duett gesehen. Nicht gesucht, sondern gefunden. Die Dinge sind aufgeblüht, sogar im Krankenhauszimmer, eine Blume, ein Kiefernzweig, der sich draußen bewegte. Ein Zapfen, den ich mitgebracht habe, Joe wiegt ihn in der hohlen Hand, wie es draußen der Wind tut mit den schuppigen Brüdern. So bin ich zu seiner Botin geworden und habe das echte Land bereist, auf und ab, wie man am Gitarrenhals auf und ab fährt, hörte ich Joe sagen, obwohl er nicht mehr bei mir war. Erst jetzt war er bei mir und alles erlaubt. Ein paar Geldbündel, eine Kreditkarte aus dem Vatertresor in die Plastiktüte gesteckt, um die Fahrkarten für Züge und Nachtbusse und die Hotelzimmer zu bezahlen.

    Ich habe keine genaue Erinnerung an diese Zeit. Das Leben war wie in den Träumen, die ich mir injiziert hatte, die Wirkung hielt an, obwohl ich längst keine Kapseln mehr hatte. Den Traum vergißt du, wenn du erwachst, und wenn du träumst, vergißt du das Vorher. Einiges habe ich aufgeschrieben in dem schwarzen Notizbuch, das ich in einem Café gefunden hatte, jemand hatte es liegengelassen, noch fast unbeschrieben, nur das Datum war eingetragen, der heutige

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