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"Hä? Wie? Was hast du gesagt": 80 Tage, die meine Welt erschütterten
"Hä? Wie? Was hast du gesagt": 80 Tage, die meine Welt erschütterten
"Hä? Wie? Was hast du gesagt": 80 Tage, die meine Welt erschütterten
eBook217 Seiten3 Stunden

"Hä? Wie? Was hast du gesagt": 80 Tage, die meine Welt erschütterten

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Über dieses E-Book

Die ersten Hörtest, das erste Hörgerät - wer sich zu seiner Schwerhörigkeit bekennt und ihr etwas entgegensetzen will, der kriegt was auf die Ohren! Der Autor ist einer von 16 Millionen Schwerhörigen in Deutschland. Viele von ihnen genieren sich, fühlen sich beschädigt, gestehen die "Schwäche" ungern ein. In einem Tagebuch beschreibt Mieder ehrlich und (selbst)ironisch über die Erfahrungen der ersten 80 Tage neuer Hör-Erfahrungen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum26. Okt. 2018
ISBN9783742718235
"Hä? Wie? Was hast du gesagt": 80 Tage, die meine Welt erschütterten

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    Buchvorschau

    "Hä? Wie? Was hast du gesagt" - Eckhard Mieder

    „Wie? Hä? Was hast du gesagt?"

    80 Tage, die meine Welt erschüttern

    Ein Hör-Tagebuch

    von

    Eckhard Mieder

    Wer nicht sehen kann, verliert den Kontakt zu den Dingen. Wer nichts hören kann, verliert den Kontakt zu den Menschen.

    Immanuel Kant

    Blindheit trennt von den Dingen, Taubheit von den Menschen.

    Helen Keller

    12. Mai, 1. Tag:

    Heute Morgen wurden mir die zwei Trainings-Hörgeräte verpasst; das mit dem roten Punkt kommt ins rechte, das mit dem blauen Punkt ins linke Ohr. Zwischen den Ohren existiert mein Gehirn, dem ich in meinem Leben schon allerhand Lautes und Leises zugemutet habe. Einige Informationen, die auf Schallwellen hineingetragen und zu Nerv-Impulsen, schließlich Sounds, Wörtern, Sätzen umgewandelt wurden, gibt es mir wieder, wenn sich sie brauche, mich erinnern oder mich orientieren möchte. Anderes, vieles (das meiste?) hat es versenkt; auf dem Grunde dieses Ozeans liegen unzählige Wracks, Amphoren, Kanonen, Schatzkisten. In diesem meinem Gehirn findet ein Kommen und Gehen, ein Durchschleusen und Sterben, ein Absterben und Gebären, Vernichtung und Schöpfung statt. Nicht anders als im Hirn eines jeden Menschen.

    Der Gehör-Akustiker, ein Mann breiter Schultern und imposanter Zuversicht, führt mich in das Therapie-Ritual ein. Für zwei Wochen werde ich jeden Tag eine Stunde lang spezielle Tests absolvieren. Dieses Gehör-Training dient dazu, „das Vermögen zu steigern, Sprache zu verstehen – auch wenn Störgeräusche vorhanden sind -, um so das Vertrauen in diese Fähigkeit zu festigen".

    Das erste, was ich in der alten, neuen Welt fast erschreckend deutlich und erschrocken wahrnehme, als ich den Laden verlasse: das Zischen der Autoreifen auf dem nassen Asphalt. Dann etwa 30 Meter vor mir eine Frau, die einen Rollkoffer nach sich zieht. Welch ein Poltern! Jetzt nähert sich hinter mir eine Frau mit ihren klackernden Schuhen (oder ist es ein Mann in Pumps?), kommt näher, überholt mich; es ist eine Frau, die auf schnellen, drallen Beinen ihrem Freund, Mr. Termin, zuläuft.

    Gegen Mittag hole ich das Auto aus der Werkstatt ab. Das Geräusch des Blinkleuchters habe ich so noch nie gehört. Ein Tocken, ein trockenes Klacken. Der (vorläufige) Clou ist der anschließende Besuch in der Kaufhalle neben der Tankstelle. Eine Wahnsinns-Kakophonie von Tönen. Scheppern, Splittern, Klingeln, Knistern, Scharren – und was alles noch?! Ich werde neue Wörter für mein frischneues Hören erfinden müssen. So wie es in einem der ersten Tests für den ersten Tag gefordert ist: Sprechen sie die erfundenen Wörter nach und schreiben Sie sie auf; werde ich für die Geräusche neue Wörter erfinden müssen?

    Vor der Haustür begegne ich Mascha, die Nachbarin unter uns. Sie lacht und sagt: „O, du hast Antennen in den Ohren! Ich sehe ein bisschen wie ein Marsmensch aus: der kurzen, durchsichtigen Plastefäden wegen, an denen die Hörgeräte aus den Ohren gezogen werden. Sie meint, dann müsse sie nicht mehr so laut sprechen. „Wie?, fragte ich. „Hatte meine Schwerhörigkeit schon solche Folgen, hat man sie schon so gemerkt? „Nein, höchstens, dass du oft gefragt hast: ‚Bitte?‘ Also das, was vermutlich vielen Menschen (Frau und Töchter sowieso) auffiel: dass ich um Wiederholungen bat. Hä? Wie? Was hast du gesagt??

    Manchmal kamen die Nach-Fragen aus oberflächlicher Gewohnheit, glaube ich. Ich hatte recht eigentlich verstanden, hatte mich gedanklich nicht eingestellt (oder war in Gedanken nicht im Gespräch?) und wartete nicht auf die Realisierung des Gesagten, sondern fragte gleich: „Was hast du gesagt?, „Wie bitte?, „Noch einmal, bitte." Es war – neben der zweifellos vorhandenen Harthörigkeit – Bequemlichkeit im Rede-Spiel. Aber dass das Fernsehgerät ziemlich laut gestellt werden musste und ich trotzdem vielen Dialogen nicht folgen konnte, ist auch Fakt. (Wobei ich diesbezüglich wiederum nicht nur meine Ohren für schuldig erkläre. Es werden in manchen Filmen auch sehr bizarre Tonmischungen angeboten, zu schweigen davon, dass es für etliche Schauspielerinnen und Schauspieler en vogue ist, vor sich hin zu nuscheln. Und über Dialekte denke ich gleich gar nicht nach; Berlinern oder Bayerisch muss entweder talentiert gelernt oder von Hause aus gegeben sein. Es ist nicht so, dass akustische Klarheit um mich herum ist.)

    Mich erheitert Maschas „Selbstkritik", als sie zugibt, sie wisse aber von sich selber, dass sie sehr leise spreche. Das beruhigt mich ein bisschen; es lag (liegt) nicht immer an meinen Ohren, sondern auch an der Verständlichkeit des Gegenübers. Mascha spricht in der Tat sehr leise, ein bisschen vernuschelt, sehr verhalten, nenne ich es ihr gegenüber. Sehr in sich hinein. Aber sind das alles nicht Ausflüchte, Ausreden, ein Sichwinden vor der Hör-Malaise?

    Mir beim Naseschnauben zuzuhören, zu hören, wie die Hose beim Anziehen raschelt, wie das Papier einer Zeitung beim Umblättern knattert, mein Schlucken ist ein Hör-Ereignis – das ist wie in einem Spiel; nur dass es kein Spiel ist, meine Prothesierung (oder Prothetisierung?) hat eine neue Nuance bekommen. Ein paar Zahnkronen habe ich schon, eine Brücke wurde mit vorige Woche entfernt (weil ein dazugehöriger Stütz-Zahn krank war und aus dem Zahngehege geext wurde), ein bissel Meniskus im linken Knie fehlt (nun, das ist keine Prothesierung), ich habe eine Neigung zu Thrombosen – alles in allem kann ich bilanzieren: Ich werde unausweichlich alt; hoffentlich. Vor drei Tagen war mein 64. Geburtstag. (Was habe ich in den letzten Jahren alles nicht gehört? Was habe ich zum Glück nicht gehört, was habe ich zum Schaden versäumt?)

    Ist es ein Zeichen – wenn ja, wofür? -, dass ich just an meinem Geburtstag einen Steckbrief am Amtsgebäude neben dem REWE-Supermarkt entdeckte. Gesucht wird die Identität eines Mannes (Zeichnung seines Gesichtes), der tot in einer Metallkiste am Ufer der Elbe unweit von Dessau-Roßlau gefunden wurde. Ich muss an meinen neuen Personalausweise denken und an den Beamten, der mich fragte, in welchem Dessau ich geboren sei. Es stellt sich heraus, dass die Stadt Dessau zu Dessau-Roßlau erweitert (oder amtlich-bürokratisch verknappt?) wurde; es hat wohl eine Gebiets-Reform gegeben, und so steht seit neuestem als mein Geburtsort im Perso: DESSAU JETZT DESSAU-ROßLAU. Und zwar ein Roßlau und nicht Rosslau. Was hat das mit meinen Ohren zu tun?

    Im Übrigen pfeifen die Vögel verdammt laut. Ich bin mal gespannt, ob ich, wenn wir im Sommer wieder durch Skandinavien wandern, die Pfifferlinge wachsen höre. Dieses Geräusch würde ich dann „Pfiffersingen" nennen. Dies ist mein erster Neologismus in diesem Tagebuch.

    Am Nachmittag ein Fernsehen-Test. Ich schalte mich in „Rares für Bares rein und – halte für ein Willkommens-Zeichen, was ich als erstes sehe. Ein Gemälde des norwegischen Malers Anders Askevold wird angeboten. 1887 gemalt, „Am Hardangerfjord. Ausgerechnet eine norwegische Landschaft, ausgerechnet der Hardangerfjord! In der Hardangervidda (Ost) sind Sabine und ich vor zwei Jahren gewandert, wir haben für diesen Sommer vor, drei Wochen durch die Hardangervidda (West) zu wandern. Wie das Wandern durch skandinavisches Gelände seit zehn Jahren ein Muss für uns ist. Als Agnostiker glaube ich nicht an Zeichen und Wunder. Aber ein solches Bild (das der Maler, höre ich vom Experten in der Sendung, in seinem Düsseldorfer Atelier gemalt hat) an diesem ersten Tag meines neuen Hörens zum Verkauf angeboten wird – erzähle mir mal einer was von Zufällen, Zeichen und Zusammenhängen. (Der Experte schätzt den Wert des Bildes auf 2.000 Euro; die Anbieterin wird es für 1.650 Euro los.)

    Während des Fernsehens esse ich zwei Stullen. Das Geräusch des Kauens beeinträchtigt das Hören immens. Ich nehme die Hörgeräte heraus. Mir beim Kauen zuzuhören … Wie wird sich das entwickeln, ein Differenzieren der Töne, eine spezielle Gewöhnung des Gehirns bzw. der Bereiche, die für das Hören verantwortlich sind? Sicher ist schon jetzt: Ich höre seit heute anders als gestern. Sicher dürfte sein: Die Wahrnehmung der Welt, wo sie sich akustisch preisgibt, anbietet, gewärtig ist, wird eine andere werden (ist schon eine andere). Ich bin nicht euphorisch, ich bin nicht überfordert, ich bin nicht traurig, ich bin überrascht; vor allem bin ich neugierig auf das, was geschehen wird.

    *

    Erster Tag auch als Versuchskaninchen im Selbsttest der „terzo"-therapie. Der Gehörakustiker hat mit mir am Morgen eine Stunde lang die Test-Methodik durchgespielt. Um 18 Uhr setzte ich mich vor den Player und folge den Anweisungen der ersten sieben Aufgaben: Informationen gewinnen und Lautlesen; Zahlen verstehen, nachsprechen und notieren; Wörter verstehen, nachsprechen und kennzeichnen; Anhören und beurteilen – Konzentrationsübung auf ein Zielwort; Gedächtnistraining – Ziffern anhören, merken, nachsprechen und kennzeichnen; Akustische Merkfähigkeit – anhören, nachsprechen und notieren …

    *

    Am Abend stoßen Sabine und ich mit Sekt auf die neuen Ohren an. Sie betreffen nicht nur mich. Sie machen es ihr leichter, mit mir zu reden. Wahrscheinlich nicht sehr erhebend für meine Liebste gewesen, immerzu wiederholen zu müssen, wenn sie mit mir sprach. Sagen wir mal: vieles von dem, das sie zu mir sprach, musste sie wiederholen. Bin ich also jetzt einer von den grünen Marsmännchen mit Antennen ausm Kopp.

    13. Mai, 2. Tag

    Werde ich eines Tages im Rückblick mein Leben einteilen in die Phase vor den Ohrstöpseln und in die Phase mit den Ohrstöpseln? Jedes Geräusch ist jetzt anders; jedes Geräusch ist jetzt neu. (Und ich vergesse, wie es sich vorher angehört hatte? Dumpfer, leiser, matter, oder ich hörte es überhaupt nicht mehr, weil es ein Leben lang gewohnte Töne waren? Nur, dass sie sich unmerklich „verdrückten", dass die Sounds schwächer wurden, unschärfer, ungewisser? Eine gewachsene Schwerhörigkeit wie ein im Fjord vom Meer hereinkommender Morgen-Nebel?)

    Die erste Stunde des Tages mit dem Hörgerät, das ich mir nach dem Duschen einsetze. Noch nackt. Dass Anziehen der Unterwäsche, ein lautes Streifen. Die Jeans mit der laut klackernden eisernen Gürtelschnalle. Die Schritte über den Laminat-Fußboden im Wohnungsflur, danach die Schritte auf den Steinplatten des Hausflures. Drei Treppen, das Öffnen der Haustür, das klirrende Öffnen des Briefkastens, das Ffffft bei der Entnahme der Zeitung. Wieder die Schritte nach oben. Kühlschrank. Butter, Pflaumenmusglas, das Brot raschelt laut in der Papiertüre, als ich es aus dem porzellanenen Behälter nehme. Usw. usf. Nachher werde ich zum Sport gehen, die samstägliche Stunde „Fettburner" (was für ein seltsames deutsch-englisches Kompositum, ein denglisches Wort). Ich bin gespannt, wie ich die ohnehin laute, treibende Musik höre oder – das Wort passt: - verkrafte. Und die mitleidlos-kundigen Anweisungen unserer Vorturnerin Antigoni.

    Sabine wird nicht mitkommen, sie ist noch immer stark erkältet. Ich werde als einziger Mann allein zwischen den Frauen mich strecken, tänzeln, und mich zum nächsten Mal fragen, welches Fett diese schlanken Wesen um mich herum burnen wollen?

    *

    Ich ertappte mich gestern in der Kaufhalle dabei, anderen Menschen auf und in die Ohren zu schauen: ob sie Hörgeräte tragen. Es könnte zu einer Manie werden. Blickkontakt zu suchen, scheint mir etwas Normales zu sein; und Hör(gerät)kontakte? Obwohl es mir in den letzten Jahren so vorkommt, als vermieden es die Menschen, sich anzuschauen. Vor allem von Frauen werden Blicke selten erwidert; wenn, dann nur kurz. Kann es sein, dass sie als Mädchen dazu erzogen werden, Männern nicht länger in die Augen zu schauen, weil das als Aufforderung zum Kontaktieren – Daten? – verstanden wird? Sind die Kerle wirklich so bescheuert oder „so drauf? Dass die meisten Menschen in vollen Bahnen, auf Bahnhöfen, überall dort, wo sie klumpen, ohnehin in ihre elektronischen Zauberwelten versunken und wie die Behämmerten auf ihren Displays herumwischen oder –tippen, trägt zu Blickkontakten nicht bei. Sie schauen nicht mal auf, wenn sich jemand neben sie setzt und einem quasi „auf die Pelle rückt.

    Also was Neues: zu den Blickkontakten kommt der Hörkontakt. Das ist eine Bereicherung. Oder ist es eine der Facetten, die mein Hörakustiker meinte, als er gestern davon sprach, ich werde entzückt sein über die neue Lebensqualität? So sprach er, als ich anfangs meinte, es würde wohl eine Umstellung werden, an die ich mich gewöhnen müsse. Falls der Spezialist aus diesen Sätzen eine Bange herausgehört haben sollte, irrte er. Bis jetzt bin ich nur neugierig. Vielleicht ist es so wie mit den meisten Sachen, die man aktuell erfährt, die einen fokussierten Zugang herauskitzeln. Wenn du einen Schlaganfall hattest, interessiert dich plötzlich alles, was mit Apoplexien zu tun hat. Statistiken, Erfahrungsberichte, Artikel. Wenn du mal in Shanghai warst, nimmst du jede Nachricht über diese Stadt des Fortschritt-Wahnsinns begierig auf. Es entsteht in dir ein Wundern: darüber, dass du dich nicht schon immer (und obzessiv?) für Schlaganfälle und für Shanghai interessiert hast. Bis etwas Nächstes kommt, das ebenso wieder deine Aufmerksamkeit einsaugt. Etwa ein neues Auto oder der Fund eines bisher unbekannten Mikroorganismus im Abwasser der Städte. Du stellst plötzlich fest, dass es von Autos deiner Marke auf den Autobahnen und von Mikroorganismen in der Kanalisation nur so wimmelt.

    Im Übrigen bin ich ein Fatalist. Ich nehme an, es sind die Gene meines Vaters, an den ich mich als Fatalisten erinnere. Als einen freundlichen Mann, der es nahm, wie es kam. Schmerzen, unverhoffte Schicksalswendungen der unangenehmen Art, Abstürze (etwa aus seiner Karriere als Offizier) – er nahm sie mit Demut, Friedlichkeit, vielleicht aus Lethargie, und er wurde darüber nicht zum Zyniker. (Ich muss es nicht werden, ich bin, glaube ich, einer; meine misanthropischen Züge, mindestens die, kann und will ich nicht verleugnen. Es widert mich an, rituell auf die Frage: ‚Wie geht’s?‘ mit einem ‚Supergut!‘ prahlend zu antworten, wenn ich bspw. mit meiner Schwerhörigkeit „kämpfe". Im Übrigen werden Menschen wie Nietzsche die Bezeichnung ‚Misanthrop‘ geradezu wie eine Auszeichnung verliehen; oder muss man erst tot sein, um als ‚Misanthrop‘ geachtet zu werden?)

    *

    Der Schlüsselbund im Schloss klirrt wie eine Schlacht, in der mit Schwertern gegeneinander gekämpft wird; so stelle ich mir jedenfalls, Rebecca-Gable-geschult, eine Schlacht zwischen Rittern und Mannschaften vor. Die Klospülung rauscht wie ein Sturzbach, oder wie ich den Dettifoss auf Island hörte. Der Einkaufswagen, der in einen anderen geschoben wird, gellt wie ein Unfall mit Blechschäden durch die Tiefgarage der Kaufhalle (ich mag das Wort, es gehört zu meinem Leben, mehr als der ‚Supermarkt‘; was verbinden ‚Super‘ und ‚Markt‘ miteinander? Das gehört in die Schachtel der Wörter, in der auch ‚Fettburner‘ steckt.)

    *

    Die Anweisungen Antigonis und die Musik nehme ich nicht anders wahr als vorher sonst. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich auf die Reihenfolge der Bewegungen konzentriere – und nicht auf mich und meine Ohren. Merke: Bist du konzentriert, weißt du nicht, dass du „Plastikohren" hast.

    *

    Am Nachmittag fahren wir zur HORNBACH-Filiale, die wir in zehn Minuten über die Autobahn erreichen. Es herrscht dickster Autoverkehr. Das Wetter ist sommerlich, obwohl für den späten Nachmittag Gewitter und starker Regen angesagt sind. Es ist der normale Samstagverkehr um Frankfurt herum. Es gehört zur Alltagskultur, den Samstag für Einkäufe zu nutzen, zu denen man an den Werktagen in der Woche nicht kommt. Das muss man wissen, wenn man sich einreiht und Teilchen dieses Wahnsinns Verkehr wird. Nicht meckern im Stau, du gehörst dazu, du staust mit!

    Was ich nicht neu erfahre: Mich nervt die Konsum-Welt sehr rasch. Immer schon halte ich es nicht lange in Kaufhäusern, auf Märkten, in Kaufhallen aus. Mir ist alles zuviel. Die Waren, die Menschen, nicht selten laufen über Monitore Werbefilmchen oder aus Lautsprechern verbrechert Musik – ich bin weder konsum-puritanisch noch ein Prediger der Askese. Es könnte sein, dass mein Genervtsein eine Facette meiner Klaustrophobie ist. (Ein platzängstlicher und Menschenmassen hassender, schwerhöriger Misanthrop, oje!) Ich leide nicht unter ihr. Warum soll es Leiden sein, wenn man mit Menschen- und Produkte-Massen nicht gern in Berührung kommen möchte? Vielleicht ist es auch so, dass jedem Menschen von allen Dingen, die er haben möchte, die er erleben kann, die er sehen, , schmecken, hören will, im Leben ein bestimmtes Maß bestimmt ist. Wenn du das Maß an Rotwein erfüllt hast, möchtest du keinen mehr trinken; er schmeckt nicht mehr. Wenn du die Zahl der Zigaretten, die du rauchen musstest, erreicht hast, wirst du zum Nichtraucher. (Ich las mal, dass einem Mann eine bestimmte Zahl von Erektionen und/oder Ejakulationen zur Verfügung steht. Vermutlich ist das wissenschaftlich gesehen der reine Humbug. Wäre diese Maß-Theorie wahr, dann gäbe es doch so etwas wie Schicksal oder einen Gott, der als Buchhalter agiert? Dessen Bücher mögen mir für immer verschlossen bleiben.)

    Vom HORNBACH laufen wir ein

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