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Mörderische Familie: Ein Psychothriller
Mörderische Familie: Ein Psychothriller
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eBook520 Seiten7 Stunden

Mörderische Familie: Ein Psychothriller

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Über dieses E-Book

Anne, blond, schön, einarmig, wird neben ihrem vergifteten Bruder Johannes aufgefunden. Sie gesteht die Tat, verhält sich psychotisch und wird in die forensische Psychiatrie eingeliefert. Kristien Blau, Psychotherapeutin, fühlt sich verpflichtet Anne, die sie seit Jahren behandelt, zu helfen. Sie schart um sich eine Gruppe ehemaliger Klienten: Swantje, Anwältin, Mark, vorzeitig verrenteter Polizist und Tankred, ein Kriminalkommissar. Außerdem ihre Freundin Gudrun, Professorin der Kriminologie.Elke Vesper lässt in diesen Roman Erfahrungen aus ihrer Arbeit als Psychologin einfließen. Das Thema des sexuellen Missbrauchs von Kindern, das familiäre und gesellschaftliche Totschweigen und die Zerstörung einer ganzen Familie wird fachkundig und anschaulich thematisiert. In diesem spannenden Thriller ist das "Wer tat es " genau so wichtig wie das Wie konnte es geschehen" .
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Feb. 2021
ISBN9783831910472
Mörderische Familie: Ein Psychothriller

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    Buchvorschau

    Mörderische Familie - Elke Vesper

    VITA

    25. NOVEMBER

    „Du siehst adrett aus", hat mein Sohn eben zu mir gesagt.

    Adrett ist eigentlich nicht sein Sprachgebrauch.

    „Adrett?", habe ich gefragt, dachte, er wollte mich verspotten.

    „Ja. Felix lächelte mich freundlich an. „Schwarze Hose, weiße Bluse, ist doch adrett, oder? So kenne ich dich sonst nicht. Steht dir.

    Ich glaube, er wollte nett sein.

    Er hat zwar behauptet, er sei für ein paar Tage von Berlin nach Hamburg gekommen, um Freunde zu besuchen, aber ich habe den Verdacht, dass er nach seiner Mutter schauen will. Er weiß, wie elend es mir geht nach meiner Trennung von Max. Trennung? Ist es wirklich schon so weit? Ich will es nicht glauben.

    Ich schiebe diese Gedanken und vor allem die Gefühle beiseite, die mir Bauchgrimmen bescheren. Gleich kommt Anne zur Therapie. Und das ist gut. So kümmere ich mich eine Stunde lang um ihre Probleme und meine treten in den Hintergrund.

    Es ist kurz nach vier Uhr am Nachmittag. Ich stehe vor meiner Balkontür, die zur Straße weist. Neben mir Rocco, mein Golden Retriever. Dicht drängt er sich an mein Bein. Als wolle auch er nett sein, mich beschützen.

    Draußen zieht die Dämmerung herauf. In einigen der gegenüberliegenden Wohnungen lassen erleuchtete Lampen darauf schließen, dass die Bewohner zu Hause sind. Ich sehe eine dicke helle Kugel aus Papier, dahinter Bücherregale, auch im schräg darunter gelegenen Zimmer Regale, prall gefüllt mit übereinander gestapelten Büchern. Das Zimmer daneben glimmt hinter verhüllenden Gardinen in violett flackerndem Fernseherlicht.

    Fußgänger hasten als dunkle Schatten durch Nieselregen. Seltsam tröstlich die erleuchteten Fenster der Bäckerei schräg gegenüber. Plötzlich überfällt mich Sehnsucht. Wonach? Heil sein? Früher war mein Leben auch nicht heil, aber es gab für jede Verzweiflung eine Hoffnung, für jede Niederlage einen Neubeginn. Und heute?

    Ein Auto fährt langsam durch die Einbahnstraße. Ich höre das Brummen und über Feuchtigkeit gleitende Reifen. Dann ist es wieder still. Und wieder ein Auto. Aus der Ferne klagt die Sirene eines Krankenwagens. Es klingt wie eine Botschaft, eine Warnung. Warum nur bin ich so unruhig?

    Vor einer halben Stunde hat Felix sich verabschiedet. Er übernachtet bei einem Freund, den er von früher kennt. Skaterfreund. Seit einer Viertelstunde bin ich bereit für Anne. Normalerweise nehme ich es persönlich, wenn ich versetzt werde, finde, dass der ausbleibende Klient respektlos mit meiner Zeit umgeht. Bei Anne ist das anders.

    Unerklärlich angstvoll blicke ich zur Straßenecke. Von dort kommt sie sonst, weil sie U-Bahn Osterstraße aussteigt. Bis hierhin sind es acht Minuten Fußweg. Üblicherweise legt Anne ihren Termin so, dass sie nach der Arbeit noch Zeit hat, durch die Osterstraße mit den kleinen Geschäften zu flanieren. Manchmal kann sie mich nicht begrüßen, weil sie in ihrer linken Hand eine Einkaufstüte trägt. Anne ist einarmig, seit ihrer Geburt. Damit geht sie so selbstverständlich um, dass ich es oft vergesse. Wenn sie etwas Schönes erstanden hat, präsentiert sie es mir in kindlicher Freude, und ich bin immer wieder beeindruckt von dieser Frau, die mit ihren langen blonden Haaren, ihrer hellen, fast durchscheinenden Haut und ihrer grazilen Gestalt etwas Elfengleiches hat. Eine einarmige Elfe.

    Wo bleibt sie?

    Die Regel lautet, dass ich spätestens drei Tage vorher informiert werden muss, wenn ein Termin nicht eingehalten werden kann. Ansonsten fällt das Honorar an. Die Vereinbarung unterschreiben alle Klienten zu Beginn der Therapie. Ich mache diese Arbeit seit zweiundzwanzig Jahren und habe noch nie ausstehende Honorare eingeklagt. Meistens einigen wir uns, wenn der Klientin oder dem Klienten etwas dazwischen gekommen oder sie oder er kurzfristig erkrankt ist. Die Ermahnung dient mehr dem Antrieb, auch wirklich auf der Matte zu stehen, wenn ein Termin verabredet ist.

    Psychotherapie ist nichts, was man nebenbei macht, wie im Baumarkt ein Unkrautvernichtungsmittel zu besorgen. Auch wenn man hofft, dass es einem zu guter Letzt helfen wird, steht doch jede Stunde wieder vor einem wie ein gefährliches Tier. Der Mensch strebt nach Lust und meidet Schmerz. Psychotherapie zwingt zur Begegnung mit vermiedenem Schmerz.

    Ob ich streng auf die Bezahlung ausgefallener Stunden dränge, hängt auch davon ab, wie lange ich die Klientin oder den Klienten schon kenne, wie zuverlässig sie oder er mitarbeitet, wie pünktlich sie oder er üblicherweise ist. Und wie spät die Stunde abgesagt wurde. Wenn ich versetzt werde, erwarte ich Zahlung. Bei Anne werde ich das nicht tun.

    Sie kommt seit vierzehn Jahren zu mir, von einigen Unterbrechungen abgesehen. Anfangs weil sie suizidgefährdet war, im Laufe der Zeit erfuhr ich, dass sie Stimmen hört, und schließlich gab sie ihr tiefes Kindheitstrauma preis.

    Zu einer erfolgreichen Therapie gehört, dass irgendwann die Loslösung vollzogen wird. Bestenfalls haben mich die Klienten als positive Stimme „internalisiert". Sie brauchen mich nicht mehr, weil sie mich in sich tragen. So wie auch Eltern als innere Stimmen internalisiert werden.

    Weil sie mir vertrauen, suchen mich ehemalige Klienten oft Jahre später wieder auf, wenn sie irgendwie in der Klemme stecken. Keine andere Klientin und schon gar kein männlicher Klient hat mir hingegen so lange die Treue gehalten wie Anne. Treue? Ich habe mich oft gefragt, ob es Treue oder Abhängigkeit ist. Ob ich den Ablösungsprozess vielleicht verschludert habe. Ich habe es in der Supervision zur Sprache gebracht, und meine Kolleginnen und Kollegen waren sich einig, dass Anne ein Sonderfall ist. Für sie bin ich einer von mehreren Fixpunkten, die ihr Halt und Struktur geben. Diese Quellen hat sie in jahrelanger wachsender Selbstfürsorge erworben, und darauf ist sie zu Recht stolz. Neben mir, zu der sie alle zwei bis drei Wochen für eine Stunde kommt, gibt es zweimal die Woche eine Stunde bei einer Yogalehrerin, mit der sie sich angefreundet hat, sie hat eine Hausärztin gefunden, von der sie sich mit ihrer Migräne und ihren Übelkeitsanfällen ernstgenommen fühlt, nicht zu vergessen die Friseurin, die nicht nur ihre Haare pflegt, sondern auch ihr Selbstwertgefühl, und auch auf ihrer Arbeitsstelle ist sie mittlerweile unkündbar, weil sie es dort trotz Mobbing, Rationalisierung und schlechtem Betriebsklima seit mehr als zwanzig Jahren aushält.

    Fünf weitere Minuten sind vergangen, und ich schaue nervös auf die Uhr. Normalerweise erscheint Anne zehn Minuten vor dem Termin, weil sie sich die Zeit nimmt, auf die Toilette zu gehen, die Hände zu waschen und „anzukommen. Dann setzt sie sich auf mein kleines rotes Sofa, wirft ihre langen blonden Haare zurück, macht es sich – oft im unangestrengten Schneidersitz – gemütlich, legt ihren linken Arm auf die Lehne, lächelt mit ihrem fein geschwungenen Mund und sagt: „Da bin ich wieder.

    Anfangs irritierte es mich, einen Menschen vor mir zu haben, der alles mit einem Arm macht, begrüßen, gestikulieren, schreiben, eine Tasse anfassen, einfach alles. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. Bei Klienten, die nach Anne kommen, reagiere ich manchmal sogar irritiert darauf, dass sie zwei Arme haben.

    Vor zehn Minuten habe ich bei Anne angerufen. Es könnte ja sein, dass sie krank ist oder den Termin vergessen hat. Obwohl beides sehr unwahrscheinlich ist. Wenn sie krank ist, meldet sie sich bei mir. Und sie hat noch nie einen Termin vergessen. Ich mache mir Sorgen. Sie lebt allein in ihrer Zweizimmerwohnung. Und wenn ihr nun etwas passiert ist? Hoffentlich hatte sie keinen Unfall.

    Mit Blick auf die Straße rufe ich noch einmal bei beiden Nummern an, Festnetz und mobil. Beide Male springt der Anrufbeantworter an. „Hier ist Anne Petersen, bitte sprecht nach dem Piep." Ihre Stimme klingt sachlich und klar, man kann sich gar nicht vorstellen, dass sie manchmal bricht oder gar vollends verschwindet, wenn Anne von Gefühlen überwältigt wird.

    „Liebe Anne, hier ist Kristien Blau, ich warte auf dich. Wir haben von sechzehn bis siebzehn Uhr einen Termin. Bitte melde dich, wenn du das hörst." Ich lege auf und bereue sofort, dass ich nicht meiner Sorge Ausdruck verliehen habe. Anne ist sehr empfindlich, was Kritik anbelangt. Sie hat Angst davor, etwas falsch zu machen. Sie hat immer noch Angst vor Strafe, auch nach vierzehn Jahren Therapie.

    Gut, ich kann nichts tun. Ein Therapeut besitzt keine Telefonnummer der Nachbarn oder des privaten Netzwerks. Ein Therapeut ist kein Teil des alltäglichen Lebens. Das Leben da draußen müssen die Klienten ohne ihn bewältigen. Er greift nicht ins private Leben ein, außer es liegt Selbst- oder Fremdgefährdung vor. Und dann erfolgt eine Intervention über einen Richter.

    Zum Glück musste ich den noch nie einschalten. Fremdgefährdende Menschen, also Menschen mit hohem Aggressionspotenzial, behandle ich nicht. Wenn ein Paar zu mir kommt, bei dem es Gewalttätigkeit über das Maß gibt, das ich verkraften kann, schicke ich den Täter zu einem Kollegen, der sich in der Täterarbeit auskennt.

    Ich wurde als Kind verprügelt, und Gewalttätigkeit macht mir Angst.

    Gefahr der Selbstgefährdung allerdings ist in meiner Praxis nicht selten. Bevor ich jedoch einen höchstrichterlichen Bescheid erwirke, der eine Einweisung in die Psychiatrie anordnet, spreche ich mit meinen Klienten über die Gefahr, die ich sehe, und wir finden zu einer Vereinbarung. Entweder nehme ich ihnen das Versprechen ab, dass sie mich oder eine Selbstmordhotline anrufen, bevor sie sich umbringen (und dass sie sich daran halten, liegt an unserem besonderen Vertrauensverhältnis), oder wir organisieren noch während der Sitzung eine Einweisung ins Krankenhaus oder prüfen, was unmittelbar geändert werden muss, damit sie sich ein Weiterleben vorstellen können.

    Zum Glück hat sich noch keine meiner Klientinnen, keiner meiner Klienten umgebracht. Das würde ich mir verübeln.

    Ich hole mir ein Glas Wasser. Mein Mund ist trocken und ich verspüre einen unangenehmen Geschmack, als hätte ich Schimmelkäse gegessen.

    Wenn Anne ausbleibt, ohne einen Mucks von sich zu geben, befürchte ich das Allerschlimmste. Aber ich kann nichts tun.

    Jetzt ist es fast halb fünf. Anne wird nicht mehr kommen. Ich habe es noch einmal telefonisch versucht, gleiches Ergebnis. Also gehe ich ins Internet, wo ich meine E-Mails checke. Vielleicht hat Anne mir ja eine Mail geschrieben.

    Von ihr ist da nichts, aber von Max, meinem Mann.

    Vor zwei Wochen hat er mein Leben ins Wanken gebracht. Viel mehr als das: Wenn man das Leben mit einer Ruderbootpartie vergleicht, hat er mir die Ruder weggenommen, sie weit fort geworfen und meinem Boot einen Schubs versetzt, sodass ich mich seitdem kreiselnd und schwankend an den Planken festhalte.

    Nicht dass bis dahin alles gut gewesen wäre, im Juni bin ich schon einmal ausgezogen, nachdem ich hinter ein scheußliches Geheimnis von ihm gekommen war, aber drei Wochen später bin ich auf seine beschwörenden Appelle hin zu ihm zurückgekehrt. Nicht zum ersten Mal hatte ich seine Bitten um Verzeihung erhört. Die Zeit danach war allerdings seltsam gewesen. Einerseits mit besonders großem Nähebedürfnis von seiner Seite: Allnächtlich schliefen wir eng aneinander geschmiegt ein, und wenn ich abends zu spät nach Hause kam, beschwerte er sich, dass wir schließlich verheiratet seien, und dazu gehörten auch gemeinsame Mahlzeiten. Andererseits legte er, sobald ich sein Zimmer betrat, den Bildschirmschoner über das, was er gerade auf dem Computer anschaute. Sein Handy lag permanent neben ihm, und wenn er ins Bad ging, steckte er es vorher in die Hosentasche. Nachts wachte ich manchmal auf, und mein Herz raste. Irgendwie fühlte ich mich bedroht.

    Vor zwei Wochen nun begab er sich wie oft auf eine Geschäftsreise. Drei Tage lang Südfrankreich, Teilnahme an einem Workshop der Firma, für die er seit fünfundzwanzig Jahren arbeitet. Sein Flug ging erst am Nachmittag, also wollte er vormittags noch ins Büro. Er besaß sogar die Dreistigkeit, mich zu bitten, ihn zur Arbeit zu fahren. Ein Liebesdienst, wie er sagte. So wären wir noch etwas länger beisammen. Tatsächlich bezahlt seine Firma bei Geschäftsreisen das Taxi zum Flughafen, aber ich Trottel übernahm den Taxidienst, was meinen Morgen etwas erschwerte. Also: Hundespaziergang, einmal durch Hamburg zu seiner Arbeitsstelle und dann wieder in die andere Richtung nach Eimsbüttel zu meiner Praxis.

    Erst im Laufe des Tages, tröpfchenweise, sickerten Zweifel in mein Bewusstsein, ploppten befremdliche Bilder auf: Eine To-do-Liste auf seinem Schreibtisch, auf der unter anderem stand „Hotel für Montag buchen. Seine besten schwarzen Lederschuhe, blank gewienert, ebenso seine dunkle Anzughose und ein helles Hemd. Ein herausgeputzter Mann, der sich am Morgen seiner Abreise vor mich hinstellte und fragte: „Wie sehe ich aus? All das passte nicht im geringsten zu einem Workshop von seiner Firma. Dorthin fuhr er in den üblichen schwarzen Jeans und Sneakers. Dafür brauchte er kein Hotel zu buchen, das tat die Sekretärin und auch nicht nur für eine Nacht.

    Ich war sehr unruhig an jenem Montag, ließ die vergangenen Tage Revue passieren, klopfte alles auf möglichen Dissens zwischen uns ab. Nein, er war eher besonders liebevoll gewesen.

    In der Nacht von Montag auf Dienstag schlief ich kaum. Vor meinem inneren Auge tauchte alles auf, was ich nicht bewusst wahrgenommen hatte, was nun aber klar vor mir stand. All die winzigen Ungereimtheiten der vergangenen Wochen, mein alarmiertes Gefühl. Ich schmiedete einen Plan, um mir Klarheit zu verschaffen, und lag zitternd in unserem Zweimalzweimeter großen Foutonbett, bis der Morgen endlich dämmerte. Dann brühte ich mir einen Tee auf und starrte auf die Wand gegenüber, wo ein Bild von Max und mir hängt, das uns in Marokko in der Wüste vor einem Zelt zeigt, beide mit zu Turbanen verschlungenen Tüchern als Kopfbedeckungen.

    Sobald die Uhr endlich quälend langsam auf neun Uhr vorgerückt war, rief ich seine Sekretärin an und sagte in zuckersüßem Ton: „Max ist ja auf dem Workshop, wir haben aber morgen Hochzeitstag, ich würde ihn gern überraschen, können Sie mir die Adresse seines Hotels sagen, dann schicke ich ihm Blumen."

    Sie stutzte, sagte irritiert: „Nein, Frau Blau, das ist ein Irrtum. Max ist nicht auf dem Workshop. Da ist nur Frank, der Abteilungsleiter. Aber warten Sie, ich kann noch mal fragen … wieso, der Workshop ist doch erst ab Mittwoch. Aber warten Sie, ich frag Frank nochmal, ob Max überhaupt teilnimmt."

    „Nein danke, das brauchen Sie nicht. Tschüs."

    Und ich hatte aufgelegt. Mein Herz raste einen Moment, als wollte es aus meiner Brust springen, ich zitterte, als hätte ich zu lange in kaltem Wasser verbracht. Dann fühlte ich nichts mehr. Unbeweglich saß ich auf dem Stuhl, starrte ins Nichts. Die Taubheit löste sich erst ganz allmählich und wich einer hilflosen Wut.

    Ich schrieb Max eine Nachricht: „Ich bin unfassbar geschockt. Mit wem liegst du gerade im Bett? Er reagierte nicht. Ich schrieb, er solle am Mittwoch nicht in unser Haus zurückkommen. Ich würde es nicht ertragen, mit ihm Tisch und Bett zu teilen. Daraufhin erhielt ich eine kurze SMS. „Ich bin auf einer Geburtstagsfeier. Komme morgen wie geplant am Nachmittag zurück.

    So viel Unverfrorenheit haute mich um. Eine Tsunamiwelle verschiedenster Gedanken und Gefühle brach über mich hinweg. Zweifel an meiner Intelligenz, an meiner Intuition, an meiner Liebenswürdigkeit, Fassungslosigkeit, dass jemand, der behauptet, mich zu lieben, so etwas tun kann, Überlegungen, wohin ich flüchten könnte, Zukunftsangst, und über allem die bohrende Frage: Mit wem feiert er drei Tage lang einen Geburtstag?

    Seitdem wohne ich in einem Zimmerchen in meiner Praxis. Zwölf Quadratmeter. Früher das Wartezimmer, jetzt mein Schlafzimmer. Zum Wartezimmer muss die Küche herhalten.

    Inzwischen weiß ich, dass er mit einer Frau drei Tage lang ihren Geburtstag gefeiert hat. Angeblich ist das nur eine Freundin, und die Geburtstagseinladung stammte noch aus der Zeit, als ich zwei Wochen lang ausgezogen war. „Ich habe nicht gewusst, wie ich ihr absagen sollte. Und ich habe mich nicht getraut, es dir zu sagen. Ich bin ein Feigling."

    Seitdem belagert Max mich mit Liebesschwüren und Bitten um Verzeihung. Wir müssen zur Paartherapie gehen, sagt er. Wir haben einander verloren. Aber wir lieben uns doch. Gehören zusammen. So auch jetzt in einer Mail, die mein Herz berührt: „Du bist das einzig wirklich Wesentliche in meinem Leben. Ich habe mich verlaufen. Kann mit dieser Frau gut sprechen, will eigentlich nur eine Freundschaft. Du hast schon so lange nichts von mir gelten lassen bei unseren ewiggleichen BPGs." BPGs sind Beziehungsproblemgespräche. An Problemen hat es uns nicht gemangelt. Aber an Lösungen.

    Ich habe nichts gelten lassen? Neuerdings zweifle ich tatsächlich an meiner Kommunikationsfähigkeit. Dennoch will ich ihm glauben, dass ich die einzige Frau in seinem Leben bin. Also tippe ich auf replay und schreibe: „Lieber Max, ich bin unglaublich verletzt, aber ich bin bereit für eine Paartherapie. Bitte kümmer du dich darum. Deine Kristien"

    26. NOVEMBER

    Am Morgen treffe ich mich mit Felix im Café May zum Frühstück. Das Frühstück dort ist der Renner, es ist preiswert, opulent und köstlich. Kaum sitzen wir voreinander, er vor einem Berg voller Brötchen und Rührei und Aufschnitt, ich staunend über seinen Hunger, bemerkt er: „Sag mal, diese einarmige Anne P., kann das deine Klientin sein, die früher immer zu dir gekommen ist?" Ich starre ihn an.

    Er greift zu seinem Handy, ein paar Klicks, und vor meinen Augen erscheint schwarz auf weiß:

    BRUNK, SCHLESWIG-HOLSTEIN, BRUDERMORD.

    Am Montag, 21. November, wurde die einarmige und psychisch kranke Anne P. neben ihrem getöteten Bruder Johannes P. aufgefunden. Laut Aussagen der Angehörigen des Getöteten weist der Mord auf sexuelle Motive hin, ist die Täterin geständig und befindet sich in der Psychiatrie in Verwahrung.

    Die Buchstaben beginnen vor meinen Augen zu tanzen.

    Es ist mir schwergefallen, mit Felix zu sprechen. Zum Glück beherrsche ich die Kunst, das Gegenüber zum Reden zu animieren. Was bei Felix nicht schwer ist. Viele Freundinnen klagen über wortkarge Söhne, Felix sprudelt eher über von seinen Projekten, Gedanken, Überlegungen, Hobbys. Es ist nie langweilig mit ihm. Heute allerdings schweiften meine Gedanken immer wieder zu Anne.

    Felix gegenüber habe ich abgewiegelt: „Seltsam … einarmig … Anne … naja, gibt manchmal eigenartige Zufälle … keine Ahnung … wird sich rausstellen …"

    Aber innerlich war ich wie ein Rennpferd vor der Startlinie. Ich wollte losrennen, nach Hause, mich informieren über diesen dubiosen Mord.

    Ich glaube, Felix hat es gemerkt, gleichwohl nichts gesagt. Als wir uns verabschiedeten, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich war nicht wirklich bei ihm gewesen. Ich forschte in seiner Miene, aber die war freundlich. Ich begleitete ihn noch bis zur U-Bahn, wir verabredeten uns für morgen Mittag ins Restaurant Little Buddha bei mir um die Ecke. Morgen Abend will er im Flixbus zurück nach Berlin fahren.

    Kaum zu Hause gehe ich ins Internet.

    Mich erfasst ein inneres Zittern, das ich von früher kenne. Das lange weg war und seit Max’ Betrug wieder häufiger von mir Besitz ergreift. Äußerlich ist es unsichtbar, aber innen vibriert alles. Zu der Notiz, die Felix mir gezeigt hat, finde ich einige ähnliche Artikel aus anderen Tageszeitungen, alle kurz, alle ähnlichen Inhalts. In allen Titeln taucht das Wort „Brudermord auf, in manchen der Begriff „schizophren. In einem wird davon gesprochen, dass Anne ihren Bruder vergiftet haben soll. Was ist das für eine Geschichte!

    Mir ist eiskalt. Habe ich etwas übersehen? War Anne gefährlich? Hätte ich reagieren müssen? Worte aus unserer letzten Therapiestunde flackern in meinem Kopf auf: „Ich habe Rachegelüste!, sagte sie lachend. „Johannes hat sich mit mir einen Todfeind gemacht.

    Am Nachmittag eine Message über WhatsApp: „Habe über die Sache mit Anne gelesen. Wäre bereit, sie anwaltlich zu vertreten. Swantje"

    Swantje ist Anwältin. Sie kennt Anne aus einer von mir geleiteten Selbsterfahrungsgruppe von vor zwölf Jahren: „Weiblichkeit und Sexualität".

    Ich tippe mit unsicheren Fingern auf mein Handy: „Ich verstehe nichts."

    27. NOVEMBER

    Schweißnass wache ich auf. Dabei ist mein Schlafzimmer eiskalt. Seit ich in meiner Praxis übernachte, schlafe ich bei offenem Fenster, etwas, das Max auf den Tod nicht ausstehen konnte. Im Winter war es ihm zu kalt, im Sommer zu laut. Die Vögel, der entfernte Verkehrslärm. Also habe ich mich ihm angepasst, wie in so vielem, und bei geschlossenem Fenster geschlafen. Jetzt decke ich mich bis zur Nase zu. Üblicherweise schlafe ich gut und friere nicht. Heute Nacht aber habe ich geschwitzt.

    Ich hatte Schwierigkeiten einzuschlafen. Mein Trick, abends eine halbe Stunde noch einen Roman zu lesen, der mich von all meinen persönlichen Problemen ablenkt, hat nicht funktioniert. Dabei fesselt mich „Garp und wie er die Welt sah" sehr, obwohl ich ihn schon zum dritten Mal lese. Kaum habe ich aber mit müden Augen das Buch beiseite gelegt, wurde ich von Ängsten überschwemmt. Vor meiner Zukunft ohne Max. Vor nicht wieder gut zu machenden Fehlern. Davor, Anne nicht richtig diagnostiziert zu haben. Ein Fehler, der einen Menschen das Leben gekostet hat? Aber auch Angst, Anne im Stich zu lassen. Wie mag es ihr dort gehen? Sexualdelikt? Welches Sexualdelikt könnte Anne an ihrem Bruder begangen haben?

    Anne ist schwerstmissbraucht von ihrem Vater. Zehn Jahre lang war sie Objekt seiner sadistischen Fantasien. Es begann an ihrem vierten Geburtstag. Er hatte ihr eine Puppe geschenkt und kam in der Nacht zu ihr. Sie hatte schon geschlafen. Er sagte, für die Puppe solle sie jetzt ein bisschen nett zu ihm sein. Am nächsten Morgen dachte sie, sie hätte das nur geträumt.

    Ich kann immer noch nicht daran denken, ohne dass mir übel wird.

    Anne ist doch keine Sexualstraftäterin!

    Ich schwitze. Rocco kommt an mein Bett und leckt meine schweißnasse Hand, die aus der Bettdecke herausragt. Ich muss etwas tun. Aber ich kann die Augen noch nicht richtig öffnen. Also winde ich mich aus dem Bett.

    Nachdem ich Rocco sein Futter gegeben habe, sitze ich mit einem Becher Tee wieder im Bett, das Fenster ist nun geschlossen, dahinter ein Bild, für das man nur Grautöne bräuchte, um es zu malen. Grauer Himmel, graues Haus, graue Fensterlöcher, schwarzgraue Baumruinen. Dieser Novembertag lockt nicht nach draußen. Auch in mir ist alles grau. Anne lässt mir keine Ruhe.

    Ich nehme mir Annes Akte vor. Sie ist nicht so dick, wie man angesichts der vielen Jahre vermuten könnte. Anfangs längere Notizen, Zeichnungen, die sie angefertigt hat, viele von ihr beschriebene Seiten. Die Zeichnungen wirken wie von einem sechsjährigen Kind. Darauf sind Strichmännchen, unzusammenhängende Szenen. Immer wieder ein Phallus, in unterschiedlicher Größe. Immer wieder ein Riese und ein kleines Mädchen. Durch diese Zeichnungen hat sich Anne offenbart. Die Worte kamen erst viel später. Es war bei Lebensgefahr verboten gewesen, dass sie jemandem erzählte, was ihr Vater in der Nacht mit ihr tat.

    Einmal hat sie es als Kind trotzdem gewagt, ungefähr sechs Jahre alt, da waren eine ihrer vielen Tanten mütterlicherseits und ihre Mutter in der Küche und wuschen das Geschirr ab. Sie sagte: „Vadder mokt Sachen mit mi, hei deit mi weh. Sie erinnerte sich nicht mehr, ob die Frauen gefragt hätten, wo, oder ob sie von allein auf ihre Scheide wies. „Dor.

    Auf jeden Fall widmeten die beiden Frauen sich nach kurzem Innehalten wieder emsig dem Abwasch, und die Tante sagte: „Dat mokt sei all. Dat geit vorbi." Ihre Mutter hatte nichts gesagt.

    In den Nächten danach war er besonders grob gewesen, sie hatte gelernt, zu diesem Zufluchtsort zu gehen, wo es hell war und sie nichts mehr spürte, weil sie sich nicht mehr in ihrem Körper befand. Viel später allerdings, nach ihrem letzten Klinikaufenthalt, sagte sie erschüttert: „Ich glaube, ich bin gar nicht freiwillig dahin gegangen, ich glaube, es war so was wie eine Nahtoderfahrung. Er setzte mir ja immer diese Maske auf. Dahinter konnte ich keine Geräusche machen, aber ich glaube, ich konnte auch nicht gut atmen. Ich glaube, ich bin manchmal fast weg gewesen."

    Meine Beklemmung kommt wieder, wenn ich in den Papieren blättere. Ich habe dem schwer standgehalten, was sie beim Erinnern durchlitt. Meine und ihre große Sorge damals war, dass sie von ihren Erinnerungen und Gefühlen überflutet würde, dass das Trauma sich wiederholte. Immer habe ich darauf geachtet, dass sie sich nicht zu sehr assoziierte, dass sie das Ganze aus Distanz betrachtete, dass sie sich körperlich bewusst machte, wie sie auf meinem Sofa saß. Dass sie erwachsen war. In der Hypnotherapie gibt es eine Technik für so einen Fall: Man setzt den Klienten in seiner Vorstellung in einen Kinoraum und dann noch in den Raum dahinter, den Glaskasten oben, in dem früher die Rollen abgespult wurden. Dort behält der Klient jederzeit die Kontrolle, kann den Film stoppen, rückwärts, in Zeitlupe oder in verstärkter Geschwindigkeit laufen lassen.

    In meinen Unterlagen befinden sich zwei Berichte von psychosomatischen Kliniken. In der ersten war sie vor ungefähr neun Jahren. Damals ging es vor allem um Migräneanfälle, häufige Übelkeit, starke Rückenschmerzen und nächtliche Panikattacken. Beim zweiten Klinikaufenthalt ging es um Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Panikattacken und Suizidgefahr. Anne war durch Mobbing einer feindseligen Kollegin in das frühere Trauma geglitten. Sie fühlte sich verletzt und von den anderen Kollegen im Stich gelassen.

    Zu diesem Zeitpunkt kam sie wieder zu mir, nachdem sie vorher drei Jahre lang allein zurechtgekommen war. Drei Jahre, in denen sie gut für sich gesorgt hatte, regelmäßig zum Yoga ging, sogar Bauchtanzkurse besuchte, um sich mit ihrem Bauch „anzufreunden, wie sie es nannte. „Und wenn Gefühle hochkommen, höre ich einfach auf. Sie hatte auch einen Aquarellmalkurs besucht, nachdem sie in der ersten Kur ihre Freude am Aquarellmalen entdeckt hatte. Nun brach alles wieder auf.

    Gemeinsam mit ihrer Hausärztin entschied ich, dass sie möglichst schnell in eine Klinik musste, sie kam mir unberechenbar und suizidgefährdet vor, sie wirkte wie ein gejagtes Tier. Zwei Wochen, nachdem sie mich aufgesucht hatte, wurde sie in einer Klinik aufgenommen, die auf Depression und Angststörungen spezialisiert ist. Dort blieb sie zehn Wochen lang.

    In dieser Klinik hat sie auch zu ihrem Missbrauch gearbeitet. Sie ist dort zweimal von Flashbacks überflutet worden, aber sie hat es überlebt, wie sie stolz sagte. Der Klinikbericht sprach von Stabilisierung, von langsamer Rückeingliederung in den Arbeitsprozess, von notwendiger weiterer psychotherapeutischer Begleitung.

    Ich blättere die Unterlagen durch, von einem drückenden Schuldgefühl geplagt. Habe ich irgendetwas übersehen? Habe ich vielleicht aufgrund meiner Empathie und Betroffenheit meine Distanz verloren?

    Wie konnte es bloß geschehen, dass Anne ihren Bruder getötet hat?

    Die Tochter ihres Bruders, Sabine, war für Anne mehr als nur eine Nichte. Aufgrund ihres Traumas hatte Anne sich nie einem Mann anvertrauen können. Sie hat keine Kinder. Sabine jedoch hat sie geliebt wie eine Tochter. Sie hat diesem fast zehnjährigen Mädchen doch nicht den Vater weggenommen! Sabine hat eine Mutter, Gerlinde, Johannes’ Frau. Die ist nun Witwe! Anne hat feministische Anschauungen vertreten, Frauensolidarität. Die hat doch kein Mädchen zur Halbwaise, keine Frau zur Witwe gemacht!

    Ich kann es einfach nicht glauben. Aber mir kommen immer wieder ihre Worte aus der letzten Sitzung in den Kopf: „Johannes hat sich mit mir einen Todfeind gemacht. Sie hat bekräftigend mit dem Kopf genickt und wiederholt: „Jaaa, Todfeind! Aber sie hat dabei gelächelt, und ich bin nicht im Geringsten auf die Idee gekommen, dass sie damit gemeint hat, sie wolle ihn umbringen.

    Sie hat die Tat gestanden. Warum also quäle ich mich so, verdammt?

    Es kommt immer wieder vor, dass Menschen in Extremsituationen Dinge tun, die sie sich vorher in schlimmen Fantasien ausgemalt haben. Dennoch kann ich es so nicht stehen lassen. Ich muss in Erfahrung bringen, was passiert ist. Es muss doch so was wie eine Mordkommission geben, das liest man immer in Krimis und sieht es auch im Fernsehen. Psychisch kranke Sexualstraftäter landen in Hamburg in Ochsenzoll, der forensischen Psychiatrie. Johannes, ihr Bruder, wohnte allerdings in einem kleinen Dorf in Schleswig-Holstein. Brunk, steht in der Überschrift des Artikels.

    Ich muss wissen, was geschehen ist.

    Bislang hatte ich nichts mit der Kriminalpolizei zu tun. Meine Vergehen spielen sich im Bereich dessen ab, was die Kasse Hamburg mir mit fünfundzwanzig oder fünfzehn Euro berechnet. Falschparken. Vor Kurzem wurde ich sogar abgeschleppt und musste dreihundertfünfzig Euro Strafe zahlen. Meine Praxis, die jetzt auch meine Wohnung ist, liegt in Eimsbüttel. Dort herrschte immer schon Parkraumknappheit, neuerdings ist das ins Groteske ausgewachsen.

    Meine Praxis liegt parallel zur Osterstraße. Dort liegt ein Café neben dem nächsten Restaurant, abgewechselt mit kleinen Boutiquen, einem Dritte-Welt-Laden, einer unabhängigen Buchhandlung. Hier gibt es die „Kleine Konditorei" mit dem leckersten Backblechkuchen der Welt und endlosen Schlangen bis auf die Straße hinaus am Samstag und Sonntagmorgen, weil alle unbedingt dort Brötchen kaufen wollen, obwohl es in der Osterstraße an Bäckereien ebenso wenig mangelt wie an Friseuren. Aber es mangelt an Parkplätzen.

    Meine Gedanken gleiten hierhin und dorthin. Gleich muss ich arbeiten. Vorher muss ich mit Rocco gehen. Mir bricht der Schweiß aus. Das kenne ich schon. Es begann mit neunundvierzig. Ich weiß es noch: Der erste Schweißausbruch führte dazu, dass ich zu meinem Hausarzt ging. Ich habe nie geschwitzt. Und dann so eine plötzliche Überflutung meines Körpers. Ich befürchtete eine schwere Krankheit, Tuberkulose mindestens. Mein Hausarzt Herr Gretesmann, so heißt er wirklich, hat mich nach ausgiebiger Untersuchung freundlich und, wie mir schien, ein wenig spöttisch oder gar hämisch angelächelt und gesagt: „Liebe Frau Blau, Sie sind unheilbar gesund. Ihre Schweißausbrüche haben nur etwas damit zu tun, dass Sie jetzt ins Klimakterium kommen. Süffisantes Lächeln. „Das ist altersgemäß. Da habe ich beschlossen, den Arzt zu wechseln. Was ich bis heute nicht getan habe, weil ich eigentlich keinen Hausarzt brauche. Ich bin, wie er so überaus witzig formulierte, unheilbar gesund. Für den Rest ist meine Gynäkologin zuständig. Die will mir Hormone verschreiben, wogegen ich mich bisher noch standhaft gewehrt habe. Ich kann diese Schweißausbrüche auch akzeptieren und durchstehen, das Komplizierte daran ist für mich, dass es so unberechenbar kommt und sich dann wirklich wie ein Ausbruch schwerer Krankheit anfühlt.

    Wenn ich wüsste, okay, Klimakterium, das heißt, ich habe alle zwei Stunden einen schweren Schweißausbruch, und danach ist es wieder gut, könnte ich damit umgehen. Dann würde ich meine Termine entsprechend legen, und meine Mitmenschen vorwarnen, dass es um vierzehn Uhr beginne, um vierzehn Uhr fünfzehn wieder vorbei sei. Aber so ist es nicht. Stattdessen bleibe ich manches Mal drei Tage lang verschont, und plötzlich – mitten in einer therapeutischen Sitzung – merke ich, wie mein Gesicht heiß wird, und ich sitze der Klientin oder dem Klienten mit feuerrotem Kopf gegenüber, und dann bekomme ich den zwanghaften Drang, mich auszuziehen. Das geht selbstverständlich nicht, weil eine Psychotherapeutin keine Stripteaseshow veranstaltet.

    Oft ist es wie jetzt: Mir bricht der Schweiß aus, und ich weiß nicht, wie ich diese Anwandlung interpretieren soll. Bin ich jetzt gerade gestresst, weil ich meinen Tag zu voll knalle mit irgendwelchen Problemen, nun auch noch mit einem obskuren Mord, habe ich Angst vor einer Begegnung mit der Polizei, weil es unbewusste Schuld in mir wachruft, wie sagt man so schön: Der Mörder steckt in jedem von uns, oder bin ich mit meinen Gedanken in Wirklichkeit bei Max und möchte gerade weinen, weil er mich so übelst verraten hat?

    Ich kann diese Fragen nicht mehr beantworten, weil der Schweiß aus meinen Poren bricht, als würde eine Schleuse überlaufen. Im Nu ist meine Unterwäsche klitschnass, ich bekomme Luftnot, greife nach der nächstliegenden Akte und fächle mir Luft zu. Es ist doch unmöglich, dass das auf irgendwelche Hormonumstellungen zurückgeht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich keine geheime Krankheit habe. Ich ziehe mich splitternackt aus, gehe unter die Dusche und habe den Eindruck, als würde das lauwarme Wasser auf meiner Haut zischen.

    Um elf Uhr stehen meine ersten Klienten vor der Tür. Die Wohnung ist picobello aufgeräumt. Niemand soll merken, dass ich hier auch wohne.

    Um zwölf Uhr fünfundvierzig, die erste Sitzung von eineinhalb Stunden ist vorbei, die Klienten verabschiedet, ich will mir gerade etwas zu essen machen, höre ich die Wohnungsklingel. Scharf fährt es durch mich hindurch. Habe ich in meinem psychischen Durcheinander einen Termin vergessen? Das ist mir in den vergangenen Wochen zweimal passiert. Zweimal zu viel.

    Ich frage in die Gegensprechanlage, wer da sei. Als Antwort kommt ein schwerer Schnaufer, dann brummelt eine tiefe Männerstimme etwas, was ich nicht verstehe. Das ist mir unheimlich. Ich laufe zum Balkon und beuge mich übers Geländer, sodass ich sehen kann, wer unten steht.

    „Hallo, rufe ich, „wer ist da?

    Eine Gestalt löst sich von der Tür, macht zwei schwere Schritte die Treppe hinab und wendet den Kopf nach oben. Ein alter ausgemergelter Mann, dem der Anzug um die Gestalt schlottert. Ein Obdachloser, denke ich, aber dann sagt der Mann ein Wort. Ein Zauberwort. Er sagt es weniger, als dass er es rauskotzt, es klingt wie das Bellen eines gefährlichen Hundes.

    „Wolfgang Petersen, Annes Bruder. Bitte lassen Sie mich rein." Das ist keine Bitte, sondern ein Befehl.

    Ich zucke zusammen. Wolfgang. Annes älterer Bruder. Während ich zur Tür gehe, schießen durch meinen Kopf Bilder, die ich mir nach Annes Beschreibung von Wolfgang gemacht habe. Oder die ich in Fotoalben gesehen habe. Fotos von Annes Konfirmation. Da war sie vierzehn und er achtzehn. Ein smarter, gut aussehender junger Mann im Anzug, der auf allen Fotos ihr leicht zugewandt steht, als wolle er sie beschützen. Dabei hatte er sie beinahe erhängt, als sie gerade zwei Jahre alt war. Sie hatte bereits Schlieren vor den Augen gehabt und keine Luft mehr bekommen, als ihr Vater auf dem Dachboden auftauchte, wo sie am Strick hing, und sie freimachte. Von da an war ihr Vater ihr Lebensretter gewesen.

    Diese Geschichte hatte Anne mir bereits in der zweiten Therapiestunde erzählt. Wolfgang hatte sie gefragt, ob sie gerne mal nach Hamburg reisen wollte, was Anne bejaht hatte. Natürlich wollte sie in diese große Stadt, von der alle schwärmten. Also stieg sie auf einen Stuhl und steckte ihren Kopf in die Schlinge, so wie es der große Bruder von ihr verlangte. Dann zog er den Stuhl weg und sagte: „Los geht die Reise!" Sie war federleicht gewesen, vielleicht hatte Wolfgang ihren Kopf auch so in die Schlinge gelegt, dass ihr Genick nicht brechen konnte, auf jeden Fall hatte der Strick sie gewürgt und nur beinahe stranguliert.

    Anne hat in der Therapie viel von ihrem Bruder erzählt. Ein geliebter, bewunderter Bruder, intelligent, schön. Mit neunzehn war er ausgezogen, gemeinsam mit einer Freundin, die studierte wie er.

    Ich öffne die Tür. Ein alter Mann steht da, schwer atmend, bleich, mit Augen, die trotz der tiefen schlammfarbenen Höhlen einen intensiven Glanz ausstrahlen. Einen fiebrigen Glanz. Ich strecke ihm die Hand entgegen. „Kristien Blau, kommen Sie rein."

    Ich führe ihn in die Küche. Mit ihm in mein Therapiezimmer zu gehen und ihn dort auf die Klientencouch zu setzen, kommt mir unpassend vor. Also setzt er sich auf einen meiner Küchenstühle, deren farbenfroher Bezug Patchwork imitiert. Ich biete ihm ein Glas Wasser an, das er durstig hinunterstürzt.

    Die Ellbogen auf den Küchentisch gestützt, betrachte ich ihn, wie ich es gewohnt bin: eingehend, genau, vorurteilslos. Ich lese in Gesichtern, Körperhaltungen, Kleidung, Gestik, Mimik. Das ist mein Job. Die Menschen wollen, dass ich sie sehe. Aber ich vergesse manchmal, dass nicht alle Menschen gesehen werden wollen und dass dieser Blick auch missdeutet werden kann.

    Viele Menschen denken, Psychologen könnten bis in die Seele blicken, Gedanken lesen, das Schlechte in ihrem Gegenüber durchschauen. Das stimmt nicht. Aber viele Psychologen sind aufmerksame Betrachter. Ich zumindest habe schon während meiner ersten Ausbildung, der zur Tanztherapeutin, gelernt, Körperhaltungen zu lesen. Es ist ja inzwischen kein Geheimnis mehr, dass wir mit unserer Körperhaltung Stimmungen ausdrücken. Einige Forschungsarbeiten beschäftigen sich damit, und wirklich: Wenn wir die Schultern hängen lassen, die Mundwinkel senken und all die äußeren Erscheinungsformen von Trauer oder Depressivität an den Tag legen, verändert sich auch unsere Stimmung. Und umgekehrt: Wenn wir die Schultern senken und straffen, den Kopf heben und einen wachen unternehmungslustigen Blick bemühen, ändert sie sich ebenfalls. Man kann sich denken, dass solche Camouflage nicht lange währt und wir wieder in den unbewussten Ausdruck unserer wirklichen Gemütslage zurückfallen. In Gruppen lasse ich gleichwohl als Aufwärmübung während des Spazierens durch den Raum die Teilnehmer die Arme begeistert in die Höhe werfen und „Oh Wonne!" rufen. Jeder weiß, dass das albern ist, also kommt zur Verstärkung noch ein amüsiertes Lächeln oder gar Lachen über sich selbst und über die Therapeutin mit ihrer absurden Aufgabe hinzu.

    Wolfgang Petersen könnte diese alberne Übung dringend gebrauchen, so gebrochen, wie er aussieht. Anne hat mir von ihm erzählt, gesehen habe ich nur die Fotos des jungen smarten Mannes. Ab zwanzig mit Bart und langen Haaren.

    Dieser Mann, der vor mir sitzt, hat mit dem auf den Fotos nicht die geringste Ähnlichkeit. Er ist ungefähr in meinem Alter, aber er wirkt wie mindestens siebzig, wenn nicht älter. Seine Wangen sind eingefallen, die Lippen leicht lila verfärbt, die blassblauen Augen liegen in tiefen Höhlen wie in Morast. Er bewegt seinen Mund, als kaue er auf der Innenseite seiner Lippen. Seine fast weißen Hände sind von dicken blauen Adern durchzogen. Er faltet sie, als wolle er sie festhalten.

    Ich weiß, dass er schwerkrank ist. „Mein Vater hat ihn gebrochen", sagte Anne manchmal. Wolfgang hatte anfangs eine nässende und eiternde Zyste am After, die jedoch jeder Behandlung widerstand und sich dann so ausgewachsen hatte, dass er mehrfach operiert werden musste und heute einen zweiten Darmausgang hat, wo seine Exkremente in einer Art Plastiktüte aufgefangen werden.

    Er hat inzwischen einen Nierentumor, der angeblich gutartig ist, dennoch wächst und wächst. Er ist nicht mein Klient, und ich schiebe das Grauen über die Gleichgültigkeit und Unfähigkeit seiner Ärzte während der Stunden mit Anne meist fort. Anne berichtet über ihn, und ich spreche mit ihr über ihre emotionale Reaktion. Sein Schicksal erscheint mir immer wieder ungeheuerlich, Hartz IV-Empfänger scheinen in unserer Gesellschaft auch von Ärzten als Menschen betrachtet zu werden, um deren Gesundheit es sich nicht zu kämpfen lohnt.

    Jetzt sitzt er vor mir und hält sich an seinen eigenen Händen fest. Was für ein Drama, denke ich, und es schnürt mir die Kehle ab. Wie konnte aus einem so vielversprechenden Mann ein solches Wrack werden!

    „Ich musste einfach nach Hamburg kommen, sagt er nach einer Zeit, in der ich ihn angeschaut und geschwiegen habe. „Ich wusste nicht, mit wem ich reden könnte. Zu Ihnen hatte Anne Vertrauen. Er lächelt spöttisch. „Hatte? Sie lebt ja noch. Tot ist Johannes. "

    Er hebt den Blick, der angestrengt auf den Tisch gerichtet war, und sieht mich gequält an. „Was ist da geschehen, Kristien? Errötend wirft er mir einen beschämten Blick zu. „Entschuldigung. Wenn Anne und ich über Sie gesprochen haben, hat sie immer Kristien gesagt, es war gar nicht leicht für mich, Ihren Nachnamen rauszukriegen.

    Erstaunt sage ich: „Sie müssen sich nicht entschuldigen. Aber wenn Sie nur meinen Vornamen kannten, woher haben Sie dann die Adresse?"

    Er grinst. Und hinter dem Drama seines Lebens blitzt plötzlich die Intelligenz des jungen Mannes auf, von dem Anne

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