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Emilia schließt eine Tür
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eBook348 Seiten5 Stunden

Emilia schließt eine Tür

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Über dieses E-Book

Der Roman setzt sich mit der zentralen Frage nach der inneren Freiheit des Menschen auseinander: Wie frei sind wir wirklich in unseren Entscheidungen, und inwieweit ist das, was wir unser Leben oder gar unser Schicksal nennen, das Ergebnis unserer Wahlen, die ihrerseits auf unbewussten Identifizierungen beruhen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Feb. 2017
ISBN9783743900295
Emilia schließt eine Tür
Autor

Brigitte Halenta

Brigitte Halenta hat bis 2010 als Psychotherapeutin in eigener Praxis gearbeitet. 2000 erhielt sie für das Drehbuch „Lavendel ist blau“ den Förderpreis der Gesellschaft zur Förderung audiovisueller Werke Schleswig-Holstein. Im März 2007 erschien ihr Roman "DIE BREITE DER ZEIT" stark gekürzt im Orlanda Verlag, Berlin. Seitdem veröffentlichte sie Kurzprosa in Literaturzeitschriften. Die 1. Neuauflage des Romans "DIE BREITE DER ZEIT" erschien 2015 in ungekürzter Form als E-Book . 2016 folgten die Romane "DAS LETZTE WORT HAT DOROTHEE", "LAVENDEL IST BLAU" und "DER EINE". Alle Romane sind inzwischen nicht nur als E-Book, sondern auch als Taschenbuch und Hardcover erhältlich. Anfang 2017 erschien der Roman "EMILIA SCHLIEßT EINE TÜR" und die 2. Neuauflage der Romane "DAS LETZTE WORT HAT DOROTHEE" und "DIE BREITE DER ZEIT" ungekürzt als Taschenbuch, Hardcover und E-Book.

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    Buchvorschau

    Emilia schließt eine Tür - Brigitte Halenta

    1. Kapitel

    4. Juli 2005

    Schade, dass der Tod uns erst widerfährt, wenn er zum Leben nichts mehr nütze ist. Für solche wie mich, die zu viel denken und zu wenig leben, will mir scheinen, macht dieses kuriose Leben erst vom Ende her Sinn. Ich wünsche mir meinen Tod als eine letzte fundamentale Erfahrung, in der jede Zelle mitschwingt. Aber es ist nur dann mein Tod, der zu mir gehört wie mein Leben von Geburt an, wenn er es ist, der mich gefunden hat. Hätte ich den Tod gesucht, wie könnte ich sicher sein, dass alle Zellen mit mir einer Meinung sind. Also muss ich weiter jeden neu heraufsteigenden Tag mit Morgen, Mittag, Abend und der Nacht hinter mich bringen, mehr oder weniger erfolgreich, mehr oder weniger unglücklich.

    Der trügerischen Sicherheit des Alltags habe ich noch nie getraut. Auch wenn es gestern und heute so war, wie ich es erwartet habe, kann es morgen ganz anders sein. Selbst vierundzwanzig Jahre, deren Tage zuverlässig mit dem kleinen unterdrückten Seufzer, den Betty beim Erwachen ausstößt, begonnen haben, konnten mich nicht überzeugen. Im Gegenteil. Mit jedem Morgen, an dem ich schon früh schlaflos liege und auf Bettys Seufzer warte, werde ich unruhiger. Nichts in diesem Leben ist für die Ewigkeit, sicher ist nur, dass sich alles verändert. Wenn sich lange nichts verändert, wird es mit jedem Tag wahrscheinlicher, dass die gewohnte Ordnung des Alltags auseinanderbricht. Und genau das ist heute geschehen. Wenn es Vorboten des Einbruchs gegeben hätte, so hätte ich sie wahrscheinlich nicht zu deuten gewusst. Die immer wiederkehrenden Abläufe sind zu einem Singsang geworden, dessen Melodie ich nicht mehr erkennen kann. Ein neuer Ton macht mich nicht stutzig, eine neue Phrasierung nicht hellhörig.

    Der Morgen war noch ein Morgen aus dem anscheinend unerschöpflichen Fundus meiner gleichförmigen Tage. Bettys Seufzer, der defekte Duschkopf, den ich schon seit Wochen ersetzen will, eineinhalb Vollkornbrötchen mit Bettys selbst eingekochter Marmelade, Kirsche mit einer Prise Chili, in letzter Minute Ellis verschlafenes Gesicht im Türrahmen, Ciao, Papi, die geschlossenen Schranken an der Sedanallee, die stickige Luft in meinem Dienstzimmer. Ich riss wie immer als Erstes das Fenster auf und schätzte mich wie jeden Morgen glücklich, dass meine relative Bedeutungslosigkeit als Gefängnispsychologe mir den Verbleib im Altbau der Justizanstalt eingetragen hat, einem muffigen, verwinkelten Bau der Gründerzeit, wo aber immerhin vor den Fenstern noch Jahreszeiten stattfinden, die man riechen kann. Die künstliche Luft im Neubau würde mich krank machen. Schon von meinem allmorgendlichen Besuch im Sekretariat trocknen mir die Nasenschleimhäute aus, von den in den Klimaanlagen verquirlten Viren und den Flüchen meiner Kollegen will ich gar nicht reden.

    Um über den Tag zu kommen, brauche ich den Besuch im Sekretariat. Der ist so unverzichtbar wie frische Luft, mein nachmittäglicher Kuchen in der Kantine und die Führung dieses Journals. Ohne einen verstohlenen Blick auf die liebreizende Franziska, während ich mit Engelchen scherze, ohne einen Kaffee mit Schwatz am Nachmittag, ohne diese fortlaufenden Eintragungen in mein Journal müsste Dr. Grönenbach auch mir wie den meisten Inhaftierten Antidepressiva verschreiben. Die schöne Franziska trug heute ihre blonde Lockenfülle aufgesteckt, was den Blick auf einen sehr weißen und sehr zarten Nacken freilegte. Vielleicht war das schon das Zeichen, das ich übersehen habe. Wenn Frauen ihre Frisur ändern, beginnt immer etwas Neues. Vielleicht hat sie sich verliebt, ging es mir durch den Kopf. Dass es vielleicht auch etwas Neues in meinem Leben geben könnte, daran habe ich nicht gedacht. Engelchen beschwerte sich über die neuen Formulare und darüber, dass ich sie schon lange nicht mehr Féchen genannt habe. Ich entschuldigte mich wortreich. Es sei eben schwierig mit Mitarbeiterinnen, sagte ich, die schon so lange da wären, dass sie sich das Anrecht auf zwei dienstliche Kosenamen erworben hätten. Feodora Engel ist seit mindestens vierzig Jahren die hauptamtliche Kraft im Sekretariat. Ich habe es nachgerechnet. Sie ist die Seele des Knasts.

    Was mich auf die grundsätzliche Frage brachte, ob eine Justizanstalt eine Seele haben kann. Gerade als ich darüber ein wenig philosophieren wollte und die Datei öffnete, die ich unter J 05 wie Journal und nicht wie Justiz gespeichert habe, aber die Verwechslungsmöglichkeit kommt mir gerade recht, brach die beruhigende Routine meines Alltags jäh und unerwartet ein. Statt den Faden meiner alltäglichen Existenz geruhsam weiterzuspinnen, sah ich mich mit einem Wunder oder möglicherweise auch mit dem ersten Zeichen einer Katastrophe konfrontiert. Der Herr Direktor Bovensiek, seines Zeichens seit achtzehn Jahren Leiter unserer Anstalt, erschien leibhaftig vor meinem Schreibtisch. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich schon jemals vorher die Ehre gehabt habe, ihn in meinem Dienstzimmer begrüßen zu dürfen. Gewöhnlich ruft Engelchen an und zitiert mich hinüber in den Neubau, wo er vor einer beeindruckend geschwungenen Fensterfront hinter seinem überdimensionalen Schreibtisch residiert. Das letzte Mal liegt schätzungsweise eineinhalb Jahre zurück. In den wöchentlichen Teambesprechungen hat er mich schon lange nicht mehr angesprochen. Wenn die Psychologie überhaupt Erwähnung findet, dann an die Adresse meiner jungen übereifrigen Kollegin. Andrea reißt alles, was sich nur irgendwie mit der Seelenkunde in Verbindung bringen lässt, an sich und verteidigt ihre Beute mit apodiktischen Sätzen wie: „Nur die Psychologie vermag den Anspruch unserer Arbeit zu legitimieren. Oder: „Die Grundeinheiten des menschlichen Wahrnehmens, Denkens und Handelns sind ohne psychologische Kenntnisse überhaupt nicht zugänglich. Für solche Sätze, auch wenn ich sie nicht immer verstehe, bin ich ihr sehr dankbar. Seit sie da ist, kann ich mein tägliches Journal ohne Störungen führen und die Gespräche mit den Inhaftierten nach ihrer inneren Logik und nicht nach dem Terminbuch abhalten. Direktor Bovensiek hält Psychologen im Knast für entbehrlich, die wirkliche Arbeit tun nach seiner Meinung die Vollzugsbeamten. Andrea Wendt duldet er, weil sie eine Frau ist und in dieser Eigenschaft und nur in dieser Eigenschaft für einen besseren Geschlechterproporz im Team sorgt. Mich, nehme ich an, verachtet er, vielleicht aber auch macht er sich nicht einmal die Mühe, mich zu verachten. Ich meinerseits finde ihn unerträglich, allein seine körperliche Nähe verursacht mir Atemnot. Dieser Mensch ist mir in tiefer Seele zuwider, was ich ihm leider auf Grund der Machtverhältnisse nicht zeigen kann. Ich hasse Hardliner mit Suchtproblematik. Das sind die Schlimmsten.

    Nun also stand dieser Fettsack unvermutet vor meinem Schreibtisch, die massige Verkörperung eines gewaltsamen Einbruchs in meinen geordneten Alltag, und warf mir eine dünne Akte auf den Schreibtisch.

    „Wir haben einen Neuzugang, U-Haft, weiblich, fünfundsechzig, Tötungsdelikt, aus einflussreicher Familie, kümmern Sie sich darum. Ich erwarte Diskretion."

    Er war so schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war. Ich starrte auf die Akte, und zum ersten Mal kam mir mein Dienstzimmer unerträglich klein vor.

    2. Kapitel

    5. Juli 2005

    Ich habe niemandem etwas erzählt, nicht einmal Betty. Es könnte sie beunruhigen. Die Kollegen scheiden natürlich erst recht aus. Joe Ziethen mit seinem pessimistischen Blick auf die Welt würde gleich Unheil wittern, und Ronald Klopfstein mir ein paar Paragraphen, von denen ich noch nie gehört habe, herbeten. Als Einzige könnte ich Engelchen ins Vertrauen ziehen, aber sie weiß wahrscheinlich mehr, als mir lieb ist. Ich möchte meine Unbefangenheit behalten. Ich werde mir diese Frau aus einflussreicher Familie, die im reifen Alter noch ein Tötungsdelikt begangen hat, erst einmal ansehen. Ich schaue nie in eine Akte, bevor ich die Leute nicht mit eigenen Augen gesehen habe. Ich fürchte meine Vorurteile. Für morgen Nachmittag habe ich Frau Engelbrecht einbestellt.

    Ein unangenehmer Tag heute, der glücklicherweise in zwei Stunden zu Ende ist. Diese Akte liegt wie ein unappetitliches Insekt auf meinem Schreibtisch. Ich habe sie unter einen Stoß normaler Vorgänge geschoben, aber sie bringt den Haufen in Bewegung, er zuckt, er hat eine Tendenz, sich unmerklich vom Rand in die Mitte meiner Arbeitsplatte zu bewegen, so dass ich ihn dauernd wieder zurückschieben muss. Diese Akte nimmt mir zweifellos von meinem wunderbaren Gleichmut, den ich mir in zwanzig Dienstjahren mühsam erarbeitet habe. Muss ich etwa wegen dieser Frau meine Gewohnheiten ändern? Ist Bovensiek mir auf die Schliche gekommen? Will er mich auf die Probe stellen? Alles Wichtige macht doch Andrea, warum jetzt ich? Oder haben wir es hier mit einer ganz besonderen Wichtigkeit zu tun, die er eher mir als Andrea zutraut? Ich erwarte Diskretion. Was soll das heißen? Ich bin allerdings, anders als die Kollegen, noch nie mit Fallgeschichten hausieren gegangen. Dass sie in der Regel spektakulär sind, gehört zu unserem Geschäft. Es geht immer um Grenzsituationen. Wahnsinn und Abgründe sind unser Alltag.

    Ich wollte aber gerne mein Haus abzahlen, den Kindern eine gute Schulbildung ermöglichen, meine Frau zufriedenstellen. Von meiner Pension trennen mich noch zwanzig Jahre, wenn ich keinen vorzeitigen Ruhestand in Anspruch nehme. Zwanzig Jahre muss ich noch durchhalten. Die Frage ist allerdings, wofür. Für diese Art von einschläfernder Sicherheit, die mein ausgeglichenes Bankkonto verbreitet? Angesichts dieser Akte, die Aufmerksamkeit und Vorsicht erfordert, erschreckt mich das.

    In den letzten zwei Jahren bin ich sehr leichtsinnig geworden. Ich habe mir ein wenig Aufstand geleistet. Aus mir hätte auch etwas Besseres als ein kleiner Polizeipsychologe in einer Provinzhauptstadt werden können. Meine Mutter hätte mich gerne auf einem Lehrstuhl gesehen, auf internationalen Kongressen bahnbrechende Erkenntnisse der modernen Seelenkunde verkündend. Das Zeug dazu hätte ich gehabt, wenn ich nur an meine Aggressionstheorie denke, aber ich habe die falsche Frau geheiratet. Indem ich mich in Betty verliebte und keine andere haben wollte als diese kleine, pummelige Amerikanerin, die ihren Lebenszweck in der Führung eines perfekten Haushalts sieht. Heute glaube ich, dass ich damit die Weiche in die Mittelmäßigkeit gestellt habe. Seitdem konnte ich mir nur noch darauf etwas einbilden, dass sich meine Fallberichte wie Romane lasen. In dieser Hinsicht berufe ich mich gern auf Freud, der selbst bemerkte, dass seine Fallberichte sich wie Novellen ausnähmen, was ihn im Gegensatz zu mir allerdings nicht mit Stolz erfüllte, sondern mit der Besorgnis, man könne ihn möglicherweise als Wissenschaftler nicht ernst nehmen. Nun, um Wissenschaftlichkeit muss ich mich nicht bemühen. Zwar bin ich verpflichtet, von allen Sitzungen mit den Inhaftierten Gesprächsprotokolle anzufertigen, aber kein Mensch liest sie. Die letzten ruhten unberührt zehn Jahre in ihren Ordnern, dann war die Aufbewahrungspflicht abgelaufen, und irgendwelche jungen Praktikanten, die sonst nichts zu tun hatten, kamen, sortierten sie aus und zerschredderten sie in gleichmäßige, 0,8 Zentimeter breite Streifen.

    Seit die elektronische Datenverarbeitung auch im Strafvollzug Einzug gehalten hat, gibt es meine Berichte, die ich offenbar so ausführlich und detailversessen einzig und alleine zu meinem Vergnügen geschrieben habe, noch auf den Festplatten, auf Disketten und neuerdings auch auf CDs. Nur Datenmüll für die Experten, die alle paar Jahre kommen, die Geräte warten und jungfräulich reine Festplatten hinterlassen. Eine Weile habe ich die von mir verfassten Fallberichte noch einmal extra auf einen Datenträger gespeichert und mit nach Hause genommen. Das ist zwar aus Datenschutzgründen verboten, aber wer könnte schon Interesse daran haben, mir etwas Unrechtmäßiges nachzuweisen. Niemand, denn in den Augen der Vollzugsbeamten ist mein Job ein nutzloses Zugeständnis an politische Strömungen der sechziger Jahre, das ihnen nur die Arbeit erschwert. Ich habe versucht, Betty abends daraus vorzulesen, aber ihr Interesse erlosch schnell. Sie interessiert sich nur für andere Menschen, wenn sie neue Koch- oder Backrezepte haben.

    Es wurmte mich, dass sich kein Mensch für meine Berichte interessierte, angeforderte psychologische Stellungnahmen werden natürlich zur Kenntnis genommen, aber meine alltägliche Arbeit ist für die Katz. Es war gewissermaßen eine Entwicklung, an deren Ende ich dieser Erkenntnis nicht mehr ausweichen konnte. Die Arbeit, mit der ich mein Leben verbringe, ist für die Katz. Zuerst habe ich nur unpassende, ja unsinnige Sätze in den Text eingeschoben, wie zum Beispiel: „In archaischen Zeiten kopulierten die Kanarienvögel mit den Jungfrauen der Paläste, deshalb sollte man den Gefangenen die Haltung von Haustieren erlauben. Sicherheitshalber wartete ich ein paar Wochen ab. Als niemand darauf reagierte, erprobte ich die nächste Stufe der Provokation, indem ich unprofessionelle Bemerkungen einflocht wie: „Der Kinderschänder R. ist eine stinkende Sau, Abschaum, der in den Gully gehört. Jede normale Strafe ist zu milde, man sollte ihn täglich zwei Stunden auf dem Marktplatz an den Pranger stellen, damit die Vorübergehenden ihn beschimpfen und bespucken können. Wochenlang hatte ich nachts Alpträume, aber nichts passierte, niemand nahm mich diskret beiseite, um mir ins Ohr zu raunen: „Hören Sie, Herr Kindermann, da ist Ihnen wohl, in aller Freundschaft, ich meine ja nur, wir wissen ja alle." Als auch die Abmahnung ganz von oben ausblieb, wusste ich nicht mehr, ob ich nun erleichtert war oder ob ich mich ärgern sollte. Ich wurde immer frecher. Frech – ich stolpere über das Wort! Ja, natürlich, wie ein Schuljunge, der die Provokationen auf die Spitze treibt, weil er erwischt werden möchte.

    Auf die Dauer wurde mir das zu anstrengend. Im März letzten Jahres übergab ich meiner schönen Franziska zum ersten Mal eine gänzlich leere CD zum Archivieren. Auf dem Label standen säuberlich die Namen derjenigen Inhaftierten, deren Gesprächsprotokolle der Datenträger angeblich dokumentierte. Im Grunde war das ungefährlicher als meine Spielereien vorher. Sollte tatsächlich einmal jemand darauf stoßen, dass die CD leer war, konnte ich mich auf Probleme mit der Speicherung herausreden. Und wenn es darauf angekommen wäre, hätte ich leicht etwaige Inhalte aus meinem Journal herausfiltern können, denn die Zeitersparnis kam unmittelbar meinem Journal zugute.

    Ich brauche diese Dokumentation für mich. Eine Dokumentation, die bezeugt, dass ich hier mein Leben verbracht habe, dass ich Gespräche geführt, dass ich über Menschen und über dieses verrückte Leben nachgedacht habe, dass mir der Apfelkuchen in der Kantine geschmeckt hat und dass ich mit Engelchen über die Tücken des Alltags geplaudert habe, während meine Aufmerksamkeit bei Franziska war. Jeder Besuch im Sekretariat gilt eigentlich nur ihr. Noch in dem Augenblick, in dem ich die Klinke herunterdrücke, bin ich mir ganz sicher, dass sie heute ihre blauen Blumenaugen von ihrer Arbeit abwenden und mich voll anschauen wird. Aber dann murmelt sie wieder nur, ohne aufzublicken, „Hallo" und widmet sich ihrem Computer, als wäre ich nicht im Raum. Mein einziger Trost besteht darin, dass ich mir einbilde, sie hört, was ich mit Engelchen rede, und meine klugen Bemerkungen über das Leben machen ihr Eindruck.

    Betty weiß übrigens, dass ich ein Interesse an Franziska habe, aber das erschüttert ihre Sicherheit keinen Deut. Sie hält ihren Paavo für den einzigen treuen Ehemann der Welt. Manchmal fragt sie mich sogar: „Na,und hast du deine Franziska heute gesehen?" Einmal, als mich ihre unerschütterliche Sicherheit ärgerte, habe ich ihr das Outfit unserer jungen Praktikantin beschrieben: Die knallengen Hosen, unter denen sich die Konturen der Unterwäsche abzeichnen, die Schockfarben ihrer knappen Oberteile, das Klappern ihrer hohen Absätze auf den Granitfliesen der Anstalt, mit dem sich ihr Auftritt schon von weitem ankündigt. Die wahre Franziska sieht dagegen aus wie eine Lady aus dem englischen Hochadel, Understatement in jedem Detail ihrer Kleidung und in ihrem Auftreten. Wenn nicht die Locken wären und diese Blumenaugen, deren Blick einen Mann wie mich zu Grunde richten kann, es würde sich niemand nach ihr umdrehen. Alles in mir sträubt sich dagegen, Betty zu verraten, wie die Frau aussieht, die täglich mein Herz erfreut.

    „Na ja, sagte Betty damals, „wenn man so jung ist. Wenn sie erst drei Kinder hat, wird sie auch vernünftig.

    Dazu habe ich natürlich gar nichts gesagt. Denn Betty muss auch nicht wissen, dass Franziska auf die vierzig zugeht und eine fast erwachsene Tochter hat. Betty nimmt selbstverständlich an, dass mein gewissermaßen abstraktes männliches Interesse nur nicht ernstzunehmendem jungen Gemüse gilt, und hat mich nie nach Franziskas Alter gefragt.

    3. Kapitel

    6. Juli 2005

    Ich wollte nie so dickfellig werden wie die aus dem Vollzugsdienst. Schließlich sind es doch immer noch Menschen, um die es geht, auch wenn sie hier Inhaftierte heißen. Über die Jahre bin auch ich unempfindlicher geworden, das wohl. Mich kann nichts mehr überraschen, dachte ich. Bis heute Nachmittag um drei.

    Frau Engelbrecht! Fünfundsechzig Jahre alt, aus einflussreicher Familie, Tötungsdelikt. Sie war in die Wolke eines teuren Parfums gehüllt, das auch jetzt noch, nach langem Lüften, in jedem Winkel meines Dienstzimmers nistet. Ich versagte mir zu fragen, wie es hieß. Frau Engelbrecht ließ sich vorsichtig auf meinem abgewetzten Klientenstuhl nieder, als fürchte sie, ihr mauvefarbenes Seidenkostüm zu beschmutzen. Sie saß aufrecht auf der Kante und sah mich erwartungsvoll an. Ein Energiebündel. Klein, zierlich, aber keinesfalls zart. Ein Mord ist ihr schon zuzutrauen. Erstaunlicherweise redete sie mit mir. Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet, als ich erfuhr, dass sie niemand von ihrer Familie sehen will und auch die Besuche ihres Rechtsanwalts aussitzt, schweigend, als ginge sie das alles nichts an. Sie redete. Flüssig, manchmal sogar ausschweifend, und ich machte mir meinen Reim darauf. Ich hörte die gesagten Sätze, und ich hörte die nicht gesagten Sätze.

    So habe ich ziemlich schnell verstanden, dass eigentlich etwas Besonderes aus ihr hätte werden können, aber nun ist sie fünfundsechzig, und es ist nur eine gewöhnliche Straftäterin aus ihr geworden. Vielleicht würden manche denken, dass sie bis zu der Straftat doch zu den Erfolgreichen gehört hat, weil sie an der Seite eines bedeutenden Mannes die Welt gesehen, in den vornehmsten Hotels logiert und mit berühmten Zeitgenossen diniert hat; weil die Familie Häuser besitzt an der Côte d’Azur und in Florida, eine Cassetta am Lago di Garda und ein Chalet in der Schweiz, aber ich habe schnell erkannt, dass ihr Häuser, Autos und Kleider von Chanel und Dior einigermaßen unwichtig sind. Ich habe einen Blick für so etwas, ich meine, für das, worauf ein Mensch sein Leben baut. Frau Engelbrecht hat ihr Leben auf etwas anderes gebaut. Ich weiß noch nicht, was es ist, aber ich ahne, dass es etwas sein könnte, das mir Respekt abnötigt.

    Ich muss es zugeben: Frau Engelbrecht interessiert mich, ganz unabhängig davon, wie ihre Akte auf meinen Schreibtisch gekommen ist. Sie ist glücklicherweise kein Pflichtfall, ein weiterer abzuarbeitender Name auf der Liste wie die meisten anderen. Ich werde in meinem Journal die Passagen, die von ihr handeln, markieren, damit ich nötigenfalls schnell ein Dossier über sie zusammenstellen kann.

    Emilia Engelbrecht, geboren 1940 in Stuttgart als älteste Tochter eines Konzertagenten, in zweiter Ehe verheiratet mit Ludwig Engelbrecht, einem ehemals international sehr erfolgreichen Plastischen Chirurgen, machte nicht gerade den Eindruck, als litte sie unter ihrer Tat. Ich wage es kaum zu sagen, aber sie wirkte fröhlich. Den angebotenen Kaffee nahm sie gerne an, schlug die Côte-d’Azur-gebräunten Beine unter dem kaum die Knie bedeckenden Kostümrock übereinander und lächelte mich verbindlich an.

    „Sie fragen sich wahrscheinlich, fing ich vorsichtig an, „warum Sie zum Psychologen einbestellt worden sind.

    „Aber nein, überhaupt nicht, es freut mich doch, Ihnen meine Geschichte erzählen zu können", entgegnete sie freundlich in einem Ton, als sei es das Natürlichste auf der Welt, an diesem Mittwochnachmittag hier mit mir zu plaudern.

    „Sie werden sehen, sagte sie, „Sie werden wenig Mühe mit mir haben. Wenn Sie mögen, können Sie mich auch Mila nennen, alle nennen mich Mila.

    Ich war irritiert. Dieses unangemessene Angebot von Vertrautheit ärgerte mich. Ich werde sie selbstverständlich nicht Mila nennen.

    „Ich fange von vorne an", sagte sie.

    Ich nickte. Ich lasse meine Klienten immer erst einmal reden, was und wie sie wollen, aus der Art und Weise, wie sie den leeren Raum, den ich ihnen anbiete, benutzen, erfahre ich sehr schnell mehr über sie, als sie mir erzählen könnten. Aber in diesem besonderen Fall hätte ich wahrscheinlich heute mehr Struktur setzen müssen. Indem ich nickte, überließ ich ihr die Zügel.

    „Ich war ein Schreikind", sagte sie.

    Was für eine Eröffnung! E.E. war ein Schreikind, notierte ich. Aber dann legte ich den Stift aus der Hand und hörte nur noch zu. Emilia Engelbrecht, geborene Lohse, genannt Mila, breitete den Teppich ihres Lebens vor mir aus, mit einem drängenden Redefluss, als hätte sie fünfundsechzig Jahre darauf gewartet. Nach zwei Stunden, in denen mein mehrfaches Auf-die-Uhr-Sehen von ihr nicht wahrgenommen wurde, musste ich sie nachdrücklich unterbrechen.

    „Morgen, sagte ich, „morgen können Sie weiter erzählen, und schob sie zur Tür, hinter der der Kollege, der sie hinüberbegleiten sollte, schon wartete. Sie drehte sich noch einmal um:

    „Ich freue mich, sagte sie in einem Ton, als hätten wir eine Verabredung zum Dinner, „vielen Dank, bis morgen also.

    Ich werde jetzt aus dem Gedächtnis aufschreiben, was ich gehört habe. Vermutlich muss ich dafür eine Überstunde anhängen. Auch gut, zu Hause erwartet mich nichts, das spannender wäre. Übrigens bin ich froh, dass ich hier kein Protokoll schreiben muss, das die Inhaftierte nach Prüfung der Richtigkeit unterschreiben müsste. Ich bezweifele, dass sich Emilia Engelbrecht, geborene Lohse, in meinen Aufzeichnungen wiedererkennen würde. Es ist ihr Leben, wie ich es sehe. Ich nehme mir schon seit langem die Freiheit, mit den unverdaulichen Brocken, die mir die Inhaftierten vor die Füße spucken, nach meinem Gusto umzugehen, sonst würde ich mir an ihnen den Magen verderben. Ich reinige sie, prüfe sie eindringlich auf ihre Echtheit, schätze ihr Gewicht und suche für sie den einzigen Platz, an den sie passen. Wie ein Steinmetz aus vielen, verschieden gewachsenen Natursteinen einen Platz pflastert, der in seiner Gesamtheit wirkt, so entsteht am Ende eine wahre Geschichte mit Sinn und Verstand. Ich bestehe nicht nur auf meiner psychologischen Autonomie, sondern auch auf meiner ästhetischen. Die Geschichte muss wahr sein, ob sie auch wirklich ist, interessiert mich nicht. Wer erzählt schließlich die Geschichte? Ich erzähle die Geschichte. Milas Geschichte, die wie alle Geschichten, die in der Lankenau erzählt werden, böse endet.

    Emilia war ein Schreikind. So fängt die Geschichte an. Der Protest beginnt schon in den Windeln. Wogegen protestiert das Kind? Gegen eine unzumutbare Mutter? Oder nur gegen die Unruhe in seinen unreifen Därmen? Die Eltern, Hildegard und Hubert Lohse, waren, als Mila geboren wurde, seit sechs Monaten verheiratet. Die blutjunge Mutter war überfordert. Ich höre ihre vorwurfsvoll empörte Stimme in der eleganten Stuttgarter Wohnung, mit der sie sich gegen ihren Mann zur Wehr setzt.

    „Wie kannst du von mir erwarten, dass ich mich an dem Baby freue! Seine Geburt hat mich fast das Leben gekostet. Es ist hässlich mit seinem kahlen Schädel, das musst du doch zugeben, und wenn es nicht gerade schläft, schreit es."

    Hubert war wahrscheinlich nach monatelanger Abstinenz gereizt, wenn nicht wütend. Dafür hatte er nicht eine Neunzehnjährige geheiratet. Erst ein halbes Jahr war es her, dass er sie ihren Eltern, die einen achtzehn Jahre älteren Konzertagenten für ihre vielversprechende Tochter abartig fanden, mit viel Phantasie und Aufwand abgeschmeichelt hatte. Von dieser onyxäugigen, hüftschwingenden höheren Tochter, mit der er ein paar, man darf annehmen, lustvolle Wochen auf Reisen verbracht hatte, hatte er, wenn es denn schon sein musste, eine unauffällige Geburt und eine reizende Mutterschaft erwartet. Hildegard aber litt seit Milas sechsundzwanzig Stunden währender Geburt unter einer, wie der Doktor sich ausgedrückt haben soll, Schwäche an Leib und Gemüt und musste viel ruhen. Die Pflege des Säuglings oblag einer Frau Ahrens, einer resoluten Frau in den Vierzigern, die auf Huberts dringliche Nachfrage das Mütterhilfswerk geschickt hatte. Hubert war viel unterwegs, er musste sich um seine Künstler kümmern. Die Konzertagentur Lohse zehrte offenbar auch im zweiten Kriegsjahr noch von dem Glanz vergangener Jahre. Noch immer feierte man nach Konzerten die Nächte durch und fuhr an freien Tagen mit den Künstlern zu Picknicks hinauf auf den Birkenkopf. Hildegard, allein zu Haus, beschäftigte sich dann mit ausländischen Illustrierten, und wenn auch Frau Ahrens fortgegangen war, schob sie, um ungestört schlafen zu können, den Wagen mit dem schreienden Baby in die Speisekammer.

    Auf Anraten des Arztes schickte Hubert seine junge, aber nutzlose Frau widerwillig zur Kur ins Sauerland. War er zu Hause, trug er seine schreiende Tochter stundenlang durch die Wohnung. Manchmal gelang es ihm, sie zu beruhigen. Er nannte sie Mila, weil ihm Emilia für so ein kleines Wesen zu lang und zu feierlich erschien. Es war Hildegard, die auf Emilia bestanden hatte, in der Hoffnung, den Allerweltsnamen Lohse, der ja nun tatsächlich nichts hermacht, wenigstens ein bisschen interessanter klingen zu lassen: Emilia Lohse.

    Mit sechseinhalb Monaten zog sich Mila eines Morgens auf Huberts Schoß an seinem Schlips selbständig in die Senkrechte, saß da mit schwankendem Oberkörper, aber eindeutig aufrecht aus eigener Kraft, und krähte vor Befriedigung. Von Stund an hörte sie auf zu schreien.

    Als Hildegard von ihrer Kur zurückkam, konnte das Kind freihändig sitzen, wo immer man es absetzte, und hatte ein Kränzchen von feinen blonden Löckchen um den Kopf.

    „Eigentlich ist sie ja jetzt richtig niedlich", bemerkte Hildegard.

    „Kein Wunder, brüstete sich Hubert, „meine Tochter! Die Locken hat sie von mir.

    Hildegard beschaffte sich für eine stattliche Summe Ba-bykleidung noch aus Vorkriegsbeständen und fuhr ihre Tochter in einem eleganten Kinderwagen von Hartan durch Stuttgart. Trotzdem gab es für die weniger dekorativen Seiten der Kinderpflege natürlich weiterhin Kindermädchen. Hildegards Familie besaß vor dem Krieg Mühlen im Erzgebirge und pflegte einen Lebensstil, bei dem es selbstverständlich war, dass sich eine Mutter nicht an den Windeln ihres Kindes die Hände beschmutzte. Die meisten Kindermädchen blieben nicht lange, weil sie Hildegard nicht zufriedenstellen konnten. Eine Reihe von jungen Pflichtjahrmädchen gaben sich die Tür in die Hand.

    Wechselnde Bezugspersonen, man weiß, was das nach sich zieht, mindestens eine unsichere Bindung, wenn nicht Schlimmeres. Länger ausgehalten hat es anscheinend nur eine: Mariele. Das muss aber schon nach der Geburt von Julian gewesen sein, als Hildegard sich Hilda nannte und versuchte, als Pianistin Karriere zu machen.

    Hildegard hatte mit Hubert gepokert, und er hatte gewonnen: ein weiteres Kind gegen eine Karriere. Sie brachte Julian zur Welt, diesmal ohne besonderes Aufsehen während eines Fliegeralarms im Keller, und nun hatte er trotz aller Einschränkungen, die das vierte Kriegsjahr mit sich brachte, für ihre Karriere als Pianistin zu sorgen. Er arrangierte Unterrichtsstunden bei großen Pianisten, wenn sie in Stuttgart gastierten, und Konzerte in kleinem Rahmen, aber mit einflussreichen Leuten. Sie hatte zweifelsfrei Talent, aber Talent ist nur wie ein Keim. Um ihn zum Wachsen und Blühen

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