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Die Breite der Zeit
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eBook695 Seiten10 Stunden

Die Breite der Zeit

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Über dieses E-Book

Abenteuer Alter: Die letzte Chance, ein glücklicher Mensch zu sein.

Nach einem Schicksalsschlag, der ihr altes Leben vernichtet, muss die Heldin des Romans, die siebzigjährige Henriette, sich ein neues erfinden. Die aufregende Entdeckungsreise in das eigene Ich öffnet die Augen für ganz neue Möglichkeiten, Alter zu erleben:

Henriette erobert sich die Freiheit des Alters, nur nach eigenem Gutdünken zu leben; sie lässt sich noch einmal auf Liebe und Sexualität ein ohne die Scham und die Verlustängste ihrer jungen Jahre; sie kostet von der unermesslichen Breite der Zeit, statt sich widerstandslos ihrer berechenbaren Länge zu unterwerfen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum16. Aug. 2017
ISBN9783743951914
Die Breite der Zeit
Autor

Brigitte Halenta

Brigitte Halenta hat bis 2010 als Psychotherapeutin in eigener Praxis gearbeitet. 2000 erhielt sie für das Drehbuch „Lavendel ist blau“ den Förderpreis der Gesellschaft zur Förderung audiovisueller Werke Schleswig-Holstein. Im März 2007 erschien ihr Roman "DIE BREITE DER ZEIT" stark gekürzt im Orlanda Verlag, Berlin. Seitdem veröffentlichte sie Kurzprosa in Literaturzeitschriften. Die 1. Neuauflage des Romans "DIE BREITE DER ZEIT" erschien 2015 in ungekürzter Form als E-Book . 2016 folgten die Romane "DAS LETZTE WORT HAT DOROTHEE", "LAVENDEL IST BLAU" und "DER EINE". Alle Romane sind inzwischen nicht nur als E-Book, sondern auch als Taschenbuch und Hardcover erhältlich. Anfang 2017 erschien der Roman "EMILIA SCHLIEßT EINE TÜR" und die 2. Neuauflage der Romane "DAS LETZTE WORT HAT DOROTHEE" und "DIE BREITE DER ZEIT" ungekürzt als Taschenbuch, Hardcover und E-Book.

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    Buchvorschau

    Die Breite der Zeit - Brigitte Halenta

    1. TEIL

    Aus Wolken muss es fallen, Aus der Götter Schoß, das Glück, Und der mächtigste von allen Herrschern ist der Augenblick.

    SCHILLER

    1. Kapitel

    Henriette Bosselmeyer macht sich nichts vor. Wenn an einem solchen Tag alle Bugendorfer, die etwas auf sich halten, auf dem Bosselhof erscheinen und ihr einen beschaulichen Ruhestand oder einen friedlichen Lebensabend wünschen, dann sollte sie sich langsam damit abfinden, dass sie nun alt ist. Aber sie ist eine Zugereiste und will sich nicht abfinden, und wer weiß, vielleicht gelten diese Bugendorfer Vorstellungen auch nur für Eingeborene. Seit Achim endlich die letzten Kühe verkauft hat, seitdem der Rhythmus der Tiere nicht mehr ihre Tage bestimmt, beschäftigt sie eine unerhörte, geradezu jugendliche Idee, die außer ihr selbst niemandem gefallen wird.

    Und dann passiert es einfach: An ihrem siebzigsten Geburtstag, dem 30. Januar 2000, einem Sonntag, nachdem alle Gratulanten den Hof verlassen haben und die Familie wieder unter sich ist, platzt es aus ihr heraus:

    Ich will eine Reise nach Amerika machen. Allein.

    Sie hat es laut und vernehmlich gesagt, und sie hat sich nicht gefragt, ob es passt. Es kam von ganz allein und schwebt nun wie ein dunkles Wölkchen über all dem unnützen Geschenken: Zwei Kaffeemaschinen, etliche Toaster, gestickte Servietten, verschiedene Vasen und ein Acrylbild, das die Frau des Bürgermeisters ihr überreicht hat, eine grelle Landschaft in einem aufwendigen Rahmen, ein würdiges Geschenk zum Siebzigsten eben, aber so roh gemalt, dass Henriette darüber weinen könnte.

    Stattdessen sagt sie: Ich will nach Amerika, und zwar allein, und diese unerhörte Äußerung verwandelt in der Stille, die ihr folgt, mit einem Mal den ganzen Niederschlag dieser entbehrlichen Veranstaltung, die sie ja nun glücklich hinter sich gebracht hat, in einen Trödel, den sie morgen auf den Boden schaffen wird, wo schon die unbrauchbaren Geschenke vorangegangener Jubiläen der Familie Bosselmeyer unter wachsenden Staubschichten ruhen.

    Mine richtet sich in ihrem Rollstuhl auf. Ihre im Alter immer kleiner und immer wässriger gewordenen Augen starren sie böse an.

    Sie sagt: Du kennst einfach kein Maß.

    Da ist sie wieder, die alte Schärfe, es gibt sie also noch, auch wenn die Alte neuerdings eher zahm tut, weil die Machtverhältnisse sich geändert haben. Jetzt hat Henriette das Sagen, und die sagt ungerührt:

    Trink deinen Tee aus, ich bringe dich gleich nach oben. Henriette weiß natürlich genau, angesichts des mit Geschenken überladenen Wohnzimmertisches wird von ihr anstelle von provozierenden Wünschen jetzt Dankbarkeit erwartet. Aber sie weiß auch, dass all diese Gaben, deren Wert vor allem ihren Geber ins rechte Licht rücken sollen, weniger ihrer Beliebtheit in Bugendorf als dem Bosselhof gelten, der mit vierhundert Hektar noch immer das größte Anwesen im Umkreis ist. Von der Anzahl und der Güte ihrer Geburtstagsgeschenke mästet sich die Schwiegermutter, die jetzt gehorsam von ihrem Abendtee nippt, ihren Dünkel. Landbesitz. Wer so viele Bodenrechte hat, der hat auch in allen anderen Dingen recht, auch in so kleinen wie der Anordnung der Sammeltassen in der Vitrine im Esszimmer. Vierhundert Hektar Land sind eben noch immer kein Pappenstiel. So ist das eben. Für die Stilllegung der Äcker gibt es eine Pauschale vom Bund. Die Weiden können ohne Kühe, die sie knapp halten, hochschießen, wie sie wollen. Der Bauer züchtet jetzt Biogemüse, die Bäuerin fährt nach Amerika, die Altenteilerin zählt nicht mehr, mit achtundneunzig segnet sie doch bald das Zeitliche, besser, sie verflucht es, und der einzige Sohn Heiner ist leider ein zeugungsunfähiger Hüne mit der Arglosigkeit eines Kindes.

    Was will sie denn in Amerika, fragt Heiner grinsend seinen Vater und stellt mit ihm eine hämische Gemeinsamkeit her, die mehr kränkt als Mines Bissigkeit.

    Mann und Sohn rücken näher zusammen, Heiner tuschelt seinem Vater etwas ins Ohr.

    Sollen sie. Achim hat sich mit dem Klinefelt abgefunden. Heiner ist zwar nicht der Hellste, aber der Junge ist ein guter Arbeiter, und bei der Freiwilligen Feuerwehr hat er als Schlauchwart auch seinen Platz gefunden. Achim würde es nie zugeben, denn natürlich hätte er sich Enkelkinder gewünscht, aber der Klinefelt hat auch etwas Gutes. Die Krankheit hat ihm auf Lebenszeit einen Sohn für sich allein geschenkt. Dass ihm eine Frau den fünfzigjährigen Riesen mit der Mädchenstimme nur wegen der vierhundert Hektar doch noch wegnehmen könnte, ist unwahrscheinlich. Heiners Interesse an Frauen ist allenfalls vierjährig. Also sollen die beiden doch glücklich miteinander werden. Eine unheilige Vater-Sohn-Allianz, die sie ausschließt.

    In Achims Augen ist der Klinefelt inzwischen nur noch ein kleines Unglück. Nur ein genetischer Defekt, erklärt er jedem geduldig, der sich über die hohe Stimme seines Sohnes irritiert zeigt, mit der dieser unaufhörlich die Ereignisse des Tages einschließlich seines eigenen Tuns kommentiert. Im Dorf weiß inzwischen auch der Dümmste vom lebenden Anschauungsobjekt, was ein Klinefelter Syndrom ist. Sie nennen es bloß anders. Bosselheini.

    Du bist doch kein Bosselheini, sagen sie zu jemandem, der sich blöd anstellt.

    Aber der Bosselheini ist ihr Sohn, ihr einziges Kind, und es hört nicht auf, wehzutun.

    Ohne diese Krankheit wäre ihr Leben vielleicht anders gelaufen. Sie hat sich unter diesem Unglück, das eine Katastrophe war, gekrümmt. Stillgehalten, ihre Kraft für innen gebraucht. Am Abend ihres Siebzigsten denkt Henriette, dass sie es geschafft hat, weiterzuleben. Die Frage ist nur, wofür.

    Es gibt Fragen, die man sich nicht stellen darf. Es sind falsche Fragen, die zu falschen Antworten führen. Weiterleben, jeden Tag aufs Neue, das war die Herausforderung.

    Ich habe sie bestanden, murmelt sie vor sich hin, wenn auch mehr schlecht als recht.

    Sie hat gelernt, immer nur das zu tun, was ihr vor den Füßen liegt, und nicht über die Fußspitzen hinauszuschauen. Also bringt sie jetzt Mine zu Bett.

    Das Zimmer ist altengerecht eingerichtet, darauf hat sie bestanden, genauso wie darauf, dass morgens die Gemeindepflegerin kommt. Mine abends ins Bett zu bringen ist das Äußerste, das sie leisten kann. Sie beißt die Zähne zusammen und tut dieses Äußerste.

    Ihr Arrangement ist unausgesprochen, aber die Alte hat es kapiert: Du hast mir Jahrzehnte das Leben schwergemacht, es gibt keinen Grund, es dir jetzt leichtzumachen.

    In sehr kleinen Münzen zahlt sie es heute der Schwiegermutter zurück. Lässt sie rufen und klingeln, und wenn sie dann endlich zu Mine geht und die sich beschwert, dass Rike mal wieder nichts gehört hat, sagt sie, doch ich habe dich gehört, die ganze Zeit, ich wollte aber erst die Spülmaschine ausräumen oder die Wäsche zusammenlegen. Ihr fällt immer etwas ein. Sie fragt sich immer, wie man so alt werden kann wie Mine, wenn man doch den Bauch voller böser Gedanken hat. Wahrscheinlich macht den Unterschied, ob man die bösen Gedanken gegen sich selbst hat oder gegen andere. Gegen andere, das hält offensichtlich frisch, während man von bösen Gedanken gegen sich selbst Krebs bekommt so wie die arme Kathrin.

    Sie reicht Mine das Handtuch zum Abtrocknen. Für einen Augenblick verschwinden die wachsamen, bösen Augen im hellblauen, von ihr sorgfältig weichgespülten Frottee. Manchmal denkt Henriette, dass es Mines Hass war, der Heiners Chromosomen durcheinandergebracht hat. Diese einleuchtende Erklärung nimmt ein wenig von der Last, dass es nur ein unerklärlicher, gleichgültiger Zufall war, der ausgerechnet sie getroffen hat.

    Sie war doch erst einundzwanzig, keine Spätgebärende mit Risikoschwangerschaft. Allerdings ein Kind zu kriegen, war das Allerletzte, was sie damals auf der Rechnung hatte. Heiner war das Ergebnis der Verkettung widriger Umstände bis hinein in seine Chromosomen. Ein Verhängnis hatte sich da zusammengebraut, aus dem ihr Leben geworden ist. Sie hatte sich ein X für ein Y gemacht, oder umgekehrt, und die falschen Entscheidungen getroffen. Von all der guten Erziehung war sie ganz dumpf im Kopf gewesen. Sie stünde hier wahrscheinlich nicht und wüsche diesen von lebenslanger Missgunst und Hass aufgeblähten alten Körper, wenn sie damals den Avancen des adretten Herrn Senkstake nachgegeben hätte. Der war doch eigentlich ein attraktiver Mann, attraktiver als das Milchgesicht Achim, aber sie hatte so viel Angst vor all dem, was ein Mädchen aus gutem Hause nicht tut, und mit seinem Chef schon gar nicht, dass sie sich lieber von dem erst siebzehnjährigen Achim trösten ließ. Vor ihm hatte sie keine Angst.

    Dabei hätte Herr Senkstake ihr gewiss mit Eleganz zeigen können, wie das alles so ging zwischen Mann und Frau, statt so hilflos herumzuhantieren wie Achim. Er hätte bestimmt auch gewusst, wie man sicher verhütet, und mit seinem Rückenwind hätte sie in der Welt Karriere machen können, statt in Bugendorf die Kühe zu melken. Er hatte ihr ja schon die Leitung der Porzellanwarenabteilung in Aussicht gestellt. Aber sie war schwanger geworden, bevor sie noch gewusst hatte, was ein guter Orgasmus ist. Sie war so entsetzlich dumm und ahnungslos damals, dass sie darüber seufzen muss.

    Ist was, fragt Mine.

    Sie antwortet nicht. Je weniger sie sagt, umso weniger Munition hat die Alte, um damit zurückzuschießen. Sie legt die wächsernen Beine, deren Knie spitz unter dem Nachthemd hervorschauen, ordentlich nebeneinander. Man könnte denken, sie wären schon tot, diese Beine, was sie gewissermaßen ja auch sind, denn laufen kann Mine schon seit zwei Jahren nicht mehr mit ihnen.

    Ob meine Beine in fünfundzwanzig Jahren auch so aussehen, fragt sie sich und nimmt sich vor, nachher ihre siebzigjährigen Beine zu inspizieren.

    Gute Nacht, sagt sie zu der Alten wie jeden Abend, die darauf nicht antwortet wie jeden Abend, und löscht das Deckenlicht.

    Sie meint es auch nicht wirklich. Soll Mine sich doch quälen in der Nacht. Sie hat sich auch gequält. Solange sie noch mit Achim geschlafen hat, hat er zu ihr gehalten, auch gegen Mine. Als sie nach den vier Fehlgeburten nicht mehr wollte, war er mit Mine gegen sie.

    Sie geht im Dunklen die Treppe hinunter, sie braucht kein Licht, ihre Füße erkennen jede Stufe und balancieren die Dellen, die vier Generationen Bosselmeyer hineingetreten haben, aus. Mit jedem Schritt, den sie in den Jahren diese Treppe hinauf- und hinuntergegangen ist, hat sie dazu beigetragen, dass sich die Dellen vertieft haben. Sie will aber nicht dazugehören. Sie ist nur eine Angeheiratete.

    In der Küche schauen sie Berge von gebrauchtem Geschirr und mit Essensresten besetzte Platten an. Die Spülmaschine läuft.

    Das kann morgen alles Hilde machen, beruhigt sie aufsteigende Impulse, für Ordnung zu sorgen, und macht sich einen Malzkaffee.

    Nachdem dieser siebzigste Geburtstag bisher nur aus Blechen mit Butterkuchen, diversen Sahnetorten, Platten mit belegten Broten und der Sorge, ob die Getränke reichen, bestanden hat, aus Händeschütteln und Sich-gerührt-Zeigen, aus small talk ohne Ende, kann sie nun endlich in ihrer unaufgeräumten Küche ganz in Ruhe den leicht pelzigen Geschmack des Kaffees hinten auf der Zunge genießen.

    Erst jetzt merkt sie, dass sie Hunger hat, weil sie seit dem Mittagessen nichts mehr zu sich genommen hat. Sie sucht sich zusammen, was an Schnittchen noch übrig geblieben ist, häuft sie auf einen Teller und stellt ihn neben ihren Kaffeebecher. Einen Küchenstuhl zum Sitzen, einen zweiten für die Beine. Seufzend vor Erleichterung lehnt sie sich zurück und kaut mit geschlossenen Augen.

    Dann fallen ihr ihre Beine ein. Kauend streift sie ihren Rock hoch und betrachtet ihre Beine, an denen, umhüllt von einer teuren Strumpfhose für diesen besonderen Tag, auf den ersten Blick nichts auszusetzen ist. Sie sind gut geformt und auch nach solch einem anstrengenden Tag nicht angeschwollen. Aber sie will die Haut sehen. Dafür steht sie noch einmal auf und zieht die Hose aus.

    Nein, wie Mines Beine sehen ihre nicht aus, aber schön sind sie auch nicht. Die Haut ist nicht so bleich wie bei Mine, aber sie ist ganz fein in sich geriffelt, besonders entlang des Schienbeins. An beiden Oberschenkeln haben sich verzweigte rote und blaue Flussläufe gebildet. Das kann man chirurgisch entfernen lassen.

    Aber lohnt sich das noch?

    Ihre Knie sind auf dem besten Wege, so spitz zu werden wie Mines Knie, auf jeden Fall ist da viel mehr Haut, als es für die Knochen und das Fleisch darunter braucht. Früher hatte sie ganz zarte blonde Härchen, die fast unsichtbar ihre Unterschenkel bedeckten. Erst wenn sie braune Beine hatte, konnte man den blonden Flaum sehen, und das sah dann sehr schön aus. Bernhard hatte ihre Beine geliebt. Jetzt war dieser Flaum so gut wie verschwunden, stattdessen wuchsen einzelne, fast schwarze Haare unnatürlich lang aus vergrößerten Poren.

    Wann waren ihre Beine zuletzt noch schön?

    Sie hat die Veränderungen nicht mitgekriegt, und das betrübt sie jetzt. Wahrscheinlich ist das überall am Körper so, denkt sie. Achtzehn Jahre lang hat sie nur in den Spiegel geschaut, um die Korrektheit von Frisur und Kleidung zu überprüfen. Sie hat sich in Sicherheit gewiegt, weil sich ihr Körper noch genauso anfühlt wie immer, aber hinter ihrem Rücken gewissermaßen haben sich Schönheit und Jugend endgültig davongemacht. Ohne Bernhards schmeichelnde Hände hatte sie ihren Körper vergessen und war ein körperloses, aber wohlangesehenes Mitglied des Dorfes und der Kirchengemeinde geworden.

    Ob Kindervogelschießen, Erntedank, Schützenfest, Feuerwehrball – sie hatte sich eingesetzt. Sie hatte einfach immer ja gesagt, das mache ich schon, wenn sie gefragt wurde. Sie hatte die Geschenke für die Kinder eingekauft und hübsch verpackt, sie hatte die Kirche zu allen Festtagen mit Blumen aus ihrem Garten geschmückt, die Lose für die Tombola beschriftet und eine unendliche Reihe von Kuchen gebacken, die vielleicht, wie sie in den Zeitungen immer schreiben, wenn sie ausdrücken wollen, dass etwas sehr lang ist, schon einmal um den ganzen Globus reicht. Und über all dieser rastlosen Tätigkeit war sie unversehens siebzig Jahre alt geworden.

    Sie wischt sich die letzten Krümel vom Mund und zieht die Strumpfhose wieder an. Siebzig – das ist doch eine absurde Zahl. Sie kann nicht glauben, dass sie damit wirklich etwas zu tun hat. Käme irgendein vertrauenswürdiger Jemand und würde ihr sagen, sie sei heute sechzig geworden, würde sie das auch schon ein bisschen zu alt finden. Als Bernhard starb, ist anscheinend ihre Zeit stehengeblieben. Damals war sie zweiundfünfzig. Und diese schwere Wolke von Trauer senkte sich auf sie nieder. Um nicht erdrückt zu werden, hatte sie sich ins Tätigsein ohne Rast oder Besinnung gestürzt – und jetzt war sie es leid.

    Fünfundfünfzig!

    Wenn sie heute fünfundfünfzig geworden wäre, das käme ihr plausibel vor, und sie könnte jetzt leichten Herzens weitermachen. Aber das ist vielleicht nur ihr unvernünftiges Gefühl, und ihr Herz, dieses merkwürdige Ding in ihrer Brust, ist tatsächlich heute siebzig geworden.

    Es schlägt zu langsam, hat Dr. Wendland zu ihr gesagt und gemeint, sie solle mal irgendetwas tun, was sie sonst nie tun würde, eine Grenze überschreiten, das könne vielleicht ihr müdes Herz wieder auf Trab bringen.

    Amerika als Herzmittel, so wie andere Leute Digitalis nehmen. Aber sie hat keinen organischen Befund, sie hat nur ein Loch in ihrer Seele, daran kann Digitalis nichts verbessern. Aber vielleicht Amerika. Genauer gesagt: Colorado, Fort Collins. Dorthin hat es Maren mit Mann und Kindern verschlagen. Eigentlich hat sie Angst vorm Fliegen. Vielleicht reicht es schon für eine herzbeschleunigende Grenzüberschreitung, einmal nach Berlin zu fliegen und gleich wieder zurück.

    So weit kommt das noch! Sie steht entschlossen auf. Von ihrer Angst wird sie niemandem etwas erzählen. Mal sehen, was Achim macht.

    Was soll der schon machen! Der sitzt wie immer mit dem Schönkirchner Boten in seinem durchgesessenen Lieblingssessel am Kamin, der heute mal ausnahmsweise zur Feier des Tages gebrannt hat, und versucht, sich mit den Sportnachrichten wach zu halten. Nicht etwa für sie, sondern für sich selbst, weil ein erwachsener Mann nach seiner Meinung nicht schon nach der Tagesschau ins Bett gehen kann. Heiner ist verschwunden, auch wie immer am Computer. Er schießt Tontauben ab oder kleine grüne Männchen vom Mond. Sie versteht nicht, was er dabei findet, aber er ist beschäftigt und hält den Mund, das ist allemal eine Erleichterung.

    Sie lässt sich auf das Sofa fallen, Achim sieht nicht einmal auf. Ob sie nun hereinkommt oder nicht, es macht keinen Unterschied für ihn, wenigstens so lange nicht, wie die Dinge ihren vorhergesehenen Lauf nehmen. Er schweigt und raschelt mit der Zeitung. Wenn er sich ärgert, wird er laut. Da er schweigt, ist er nicht verärgert. Ob er ihre Amerikapläne einfach nicht ernst nimmt oder sich damit abfindet, kann sie sich aussuchen. Es wird ihm aber gar nichts anderes übrigbleiben, als sie fahren zu lassen. Sie ist entschlossen. Eine Entschlossenheit, von der sie nicht so genau weiß, worauf sie sich gründet.

    Die meisten Entscheidungen der letzten fünfzig Jahre hat sie ihm überlassen. Er ist der Mann, der Hoferbe, der Landwirt, der sich auskennt. Aber es gab auch immer wieder Momente, da hatte sie ihre ganze Autorität als Frau in die Waagschale geworfen, und er hatte keinen Versuch gemacht, sich gegen ihre Entscheidung zu stemmen.

    Henriette, ausgestreckt auf dem dunkelroten Velours-Sofa, das seit gut zwanzig Jahren so schrecklich ist wie am ersten Tag, als Mines Kauf angeliefert wurde, weiß am Abend ihres siebzigsten Geburtstags nicht so recht, ob sie aufs Ganze gesehen Achims Haltung gut oder schlecht finden soll. Die fünf Jahre Altersunterschied haben sich mit den Jahren verflüchtigt. Er kam ihr in seiner Bedachtsamkeit schon mit siebzehn älter vor als sie selber.

    Es war einfach mit ihm. Er entschied, ohne sie zu fragen, und wenn sie sich einmischte, selten genug, ließ er das gelten. Ihre Beweggründe waren ihm gleichgültig. So hatte es angefangen, und so würde es dann auch wohl mit ihnen beiden enden.

    Sie war es, die gesagt hatte, zieh die Hose aus, wir können es doch einmal probieren, und er hatte brav seine Hose ausgezogen. Vielleicht hatte er von ihr als der älteren Frau Anleitung erwartet, aber sie war genauso unwissend und naiv wie er, und von Liebe war sowieso keine Rede. Es war eine armselige Veranstaltung, und sie hatte sich für so viel Hässlichkeit geschämt, für die sie sich mitverantwortlich fühlte. Hässliches schön machen, Kaputtes heil, Dunkles heller, Wildes kultiviert, Ungeschicktes gefällig – das war ihr ein tief eingewurzeltes Bedürfnis. Sie hatte nicht erwartet, dass Sexualität hässlich sein könnte.

    Heute, fünfzig Jahre später mit dem Blick auf den in seine Zeitung versunkenen Achim, dessen blonder Lockenschopf sich in ein graugelbes Gestrüpp verwandelt hat, findet sie es eher komisch, dass er damals ihre Körperöffnungen verwechselt hat. Jedenfalls hatte sie diese abstoßende, erste sexuelle Erfahrung in ihrem Leben irgendwie zu einem guten Ende bringen wollen, und so hatte sie an Achim, den sie ja auch wegen Unzulänglichkeit hätte wegschicken können, festgehalten. Wenn schon keine Liebe, dann konnte doch wenigstens das Handwerkliche stimmen. In ihrem gemeinsamen Bemühen, ihre schlechten Erfahrungen in gute zu verwandeln, kamen sie sich so nahe wie später nie wieder.

    Ob er wohl manchmal noch an diese Zeit denkt, fragt sie sich. Sie würde aus Angst vor einer rüden Abfuhr nicht mehr wagen, ihn darauf anzusprechen. Wer weiß, vielleicht erinnert er sich. Bloß anders als sie.

    Ihr war damals nicht verborgen geblieben: Achim erlebte etwas, wenn sie beisammen waren. Und immer öfter war er es, der Sex wollte und die Treffen vorbereitete. Er ging glatt als Fünfundzwanzigjähriger durch und hatte keine Probleme, ein Zimmer mit Blick auf die Ostsee zu mieten. Wenn er das Bündel mit Scheinen, die er mit einer Klammer zusammenhielt, aus der Hosentasche zerrte, wirkte er in ihren unerfahrenen Augen wie ein Mann von Welt. Dass er der Erbe des größten Hofes in der Gegend war, hatte sie nie sonderlich interessiert, man kannte sich einfach von Kindesbeinen an, aber dass er immer Geld hatte, war schon angenehm. Seine Eltern verwöhnten ihn. Er war der einzige von vier Söhnen, ein Nachkömmling, den der Krieg nicht gefressen hatte. Auf eine Weise war er selbstsicher wie sonst keiner der Jungs im Dorf. Sie hatte einen Halt an ihm, den sie zu Hause nicht hatte, und gegen die Anmache von Herrn Senkstake war er in seiner sittlichen Entrüstung geradezu ein Bollwerk.

    Bis sie schwanger wurde! Da übernahm wieder sie die Führung. Nach dem ersten Schock, dem Entsetzen in den Mienen von Oma, Mutter, Kathrin und Tante Irmi, die mit natürlicher Gewissheit davon ausgingen, dass Achim sie sitzenlassen würde, weil sie doch nur die uneheliche Enkelin des Kolonialwarenhändlers war, nach drei durchheulten Nächten hatte sie eine Eingebung.

    Warum nicht aus etwas, das alle für ein Unglück halten, einen Erfolg machen.

    Ich bin schwanger, du musst mich heiraten, sagte sie zu Achim. So einfach war das.

    Gut, hatte er geantwortet, dann heiraten wir eben.

    Und zu diesem Wort hatte er gestanden wie ein Mann. Seine Eltern standen Kopf, das ganze Dorf stand Kopf, aber Achim wankte nicht. Mochten sie sie auch alle für eine gerissene Verführerin halten, die den reichsten Hoferben weit und breit mit einem Kind erpresste, er war an ihrer Seite. Es war schwer, die Häme auszuhalten, aber den Freundinnen troff bei ihren bösen Kommentaren der Neid aus allen Poren, das tröstete. Schlimmer war, dass Achims Eltern nicht mit ihr redeten, als sie endlich auf dem Hof einziehen durfte. Doch damals erschien ihr dieses feindselige Schweigen erträglicher, als eine sitzengelassene Mutter mit einem unehelichen Kind zu sein.

    Heiners Geburt schuf dann einfach Fakten, die Hand und Fuß hatten und die keiner mehr sich traute, in Frage zu stellen. Der Schwiegervater zeigte, wenn sie alleine waren, ein verstecktes Wohlwollen für sie, und selbst wenn Mine sie nur böse anstarrte und ihr Fallen stellte, wo sie nur konnte, vor dem kindlichen Liebreiz des kleinen Heiner kapitulierte sie. Die Freude an seinem problemlosen Gedeihen hatte das Schweigen zwischen ihr und den Schwiegereltern ganz allmählich aufgebrochen. Sie hatte sich so sehr weitere Kinder gewünscht, so als könnte jedes neue Kind Mines Feindseligkeit, die sich nun auch in Sätzen ausdrückte, noch ein bisschen mehr besänftigen. Aber es war bei Heiner geblieben. Die vier anderen hatten einfach nicht zu ihr in ihre eingeschränkte Welt kommen wollen. Sie hatten sich anders entschieden. So jedenfalls legte sie es sich zurecht, bis sie Jahre später von ihrem negativen Rhesusfaktor erfuhr. Aber da war es schon viel zu spät. Nach der vierten Fehlgeburt, an der sie fast verblutet wäre, hatte ein mitleidiger Arzt ihr eine Ligatur gemacht. Davon wusste Achim nichts.

    Ich will keinen Sex mehr, es reicht, hatte sie gesagt, und er respektierte nach dieser fast achtjährigen Leidensgeschichte ihre rigorose Entscheidung. Wie hätte er wissen können, dass es auf der ganzen Welt keinen Grund mehr gab, mit ihm zu schlafen, wenn sie keine Kinder mehr bekommen konnte.

    Komm, wir machen Sex. Lass das, ich will keinen Sex mehr.

    Die wichtigsten Weichen in dieser Ehe hatte sie gestellt. Sie war es, die sagte, mit Heiner stimmt etwas nicht, er muss zum Arzt. So war sie gewissermaßen schuld an der Diagnose, die das Leben auf dem Hof veränderte.

    Sie hatte die Familie vor vollendete Tatsachen gestellt: Donnerstagnachmittags fuhr sie nach Schönkirchen, jede Woche, obwohl das bedeutete, dass Achim mit dem abendlichen Melken alleine zurechtkommen musste. Ihr Donnerstagnachmittag wurde über zwanzig Jahre eine Einrichtung, deren Einstellung mit mehr Interesse aufgenommen wurde als die regelmäßige Einhaltung. Niemand fragte. Es war einmal festgestellt worden, dass sie ein Leberleiden hatte und dafür einmal die Woche Kurzwellenbestrahlung benötigte, und so blieb es.

    Jetzt will sie nach Amerika. Wer will sich ihr da in den Weg stellen? Wobei Amerika, mein Gott, es hätte auch Norwegen oder der Senegal sein können, wenn Maren dort gewohnt hätte. Nun heißt das Abenteuer, das ihr müdes Herz zum Laufen bringen soll, Amerika. Sie hat sich das nicht ausgesucht.

    Die Dinge entscheiden sich immer hinter dem Spiegel. Wenn sie sichtbar werden, kann man nichts mehr verändern. Man folgt einer winzigen, bedeutungslosen Laune aus purer Neugier auf das Leben, und später stellt sich heraus, dass es eine Weiche war. Hätte sie sich an jenem Tag, als ihr Herz so voll war, dass sie damit noch nicht nach Hause gehen konnte, nicht zu Achim an den Tisch gesetzt, weil er das einzige bekannte Gesicht in der Eisdiele war, dann hätte alles doch auch ganz anders kommen können.

    Wenn sie zum Beispiel zusammen mit Maren in die Eisdiele gegangen wäre, dann hätte sie ihr die haarsträubende Geschichte von Herrn Senkstake erzählt, und sie hätte Achim, auch wenn er noch so oft herübergeschaut hätte, gar nicht beachtet. So wurde er unversehens ein Vertrauter in einer peinlichen Angelegenheit. Warum war Maren damals nicht zur Arbeit gekommen? Musste sie wieder einmal ihren kranken kleinen Bruder hüten? Wer weiß. Vielleicht hätte Maren gesagt, der Senkstake ist doch gar nicht so übel, stell dich nicht so an. Da hast du Chancen.

    Ob solche Einsichten den Ekel, den der süßlich schwüle Geruch seines Rasierwassers ausgelöst hatte, vertrieben hätten? Wahrscheinlich nicht. Aber wenn er bei seiner unerwarteten Annäherung angenehmer gerochen hätte, hätte sie nicht so panisch reagiert. Wenn also eine andere Verkäuferin in der Parfümerie Dienst gehabt und ihm zu einem anderen Rasierwasser geraten hätte, zu irgendetwas Frischem, Limonen vielleicht, hätte sie es zugelassen, dass er sie küsste, und mit ihm ein Verhältnis angefangen.

    Ich kann Ihnen Türen öffnen, hatte er ihr ins Ohr geflüstert. Wenn diese andere Verkäuferin in der Parfümerie gewusst hätte, dass der Kunde nicht aus einer Laune heraus ein neues Wässerchen kauft, sondern damit Weichen stellt unter den Frauen, die ihm nahe kommen, dann wäre sie nicht allein in die Eisdiele gegangen; dann hätte sie Achim nicht getroffen; dann wäre er nicht Schritt für Schritt ein Vertrauter in Fragen der sexuellen Belästigung geworden, was zwangsläufig seine eigene Erotik animieren musste; dann wäre sie bei Heinrich Senkstake geblieben oder bei einem anderen, weil er ihr nicht gleich wie Achim ein Kind gemacht hätte. Dann gäbe es Heiner nicht, stattdessen hätte sie unter der Voraussetzung, dass auch Herr Senkstake einen negativen Rhesusfaktor gehabt hätte, einen Haufen gesunder Kinder.

    Bei der Vorstellung von vielen gesunden Kindern auf einem Haufen, die ja nun inzwischen auch alle erwachsen wären, verheddert sie sich. Dies ist nur ein Faden in dem Gespinst, das ihr Leben darstellt. Sie kann auch einen anderen Faden ziehen, dann liegt alles bei ihr, das heißt bei ihrer Mutter und ihrer engen Erziehung und letztlich am Krieg, aus dem ihr Stiefvater nicht zurückgekommen ist. Sie liebt diese ausschweifenden Gedankenspiele, aber sie führen zu nichts. Am Ende ist es doch immer wieder Achim, der ihr gegenübersitzt.

    Es ist schon komisch, siebzig zu werden, fasst sie laut zusammen, was ihr so durch den Kopf gegangen ist.

    Achim antwortet nicht. Er faltet die Zeitung zusammen.

    Ich geh dann mal zu Bett, sagt er, wuchtet sich aus seinem Sessel und verlässt das Zimmer.

    Sie schaut ihm nach mit einem kleinen feinen Ziehen in der Magengegend. Wenigstens am Abend ihres siebzigsten Geburtstags könnte er aus ihrer eingeschliffenen Alltagsroutine ausbrechen.

    Also erwarte ich noch immer etwas von ihm, sagt sie sich, ich sollte es doch besser wissen. Vielleicht erwartet er auch noch immer etwas von ihr und bekommt es ebenso wenig. Sie sind quitt. Sie hat gar nichts gegen ihn, aber sie hat auch nichts für ihn. Sie haben sich ein Leben eingerichtet, das ein Minimum von Aufmerksamkeit füreinander erfordert. Jeder weiß, was er zu tun hat, und sie kommen sich dabei nicht in die Quere. Zwei Einzelpersonen im Schongang, die nach außen noch immer als Paar auftreten, so wie es sich gehört. Mein Mann, meine Frau – das sagt sich so dahin und kann doch alles bedeuten und auch wieder gar nichts. Er reicht ihr beim sonntäglichen Kirchgang noch immer seinen Arm, und sie legt ihre Hand darauf, so leicht wie eben möglich, damit es bloß nicht zu viel wird für ihn. Diese öffentliche Vertraulichkeit ist das Äußerste an Berührung, die sie miteinander haben. Sie schlafen noch immer nebeneinander in dem großen Ehebett aus gekalkter Eiche, in dem sie vor fünfzig oder vierzig Jahren so vergeblich versucht haben, weitere Kinder zu zeugen. Getrennte Schlafzimmer kann man sich in Bugendorf, will man nicht ins Gerede kommen, nicht leisten. Hilde würde es sofort herumerzählen, und jeder würde sofort wissen, was es bedeutet: Bei den Bosselmeyers hängt der Haussegen schief. Das würde Achim nie dulden.

    Also liegt sie fünfzig Zentimeter von ihm entfernt und dehnt diese Armlänge dem Gefühl nach zu einem Kilometer aus. Achim ist am anderen Ende der Welt und sein ununterbrochenes rhythmisches Schnarchen ist einfach nur ein Geräusch, das seit Jahren zu diesem Raum gehört wie eine gluckernde Heizung. Sie hat mal gelesen, dass ein Müller sich auch nicht durch das Rauschen des Wassers gestört fühlt, sondern im Gegenteil aufwacht, sollte das Mühlenrad stehenbleiben. Wenn Achim nicht schnarcht, kann sie nicht schlafen.

    Die alte Standuhr schlägt elf. Zeit, ins Bett zu gehen. Die halbe Stunde, die sie immer verstreichen lässt, nachdem Achim zu Bett gegangen ist, ist vorüber. Sie wird Achim, der immer auf der Stelle, kaum dass seine Schläfe das Kopfkissen berührt hat, in Schlaf versinkt, schnarchend antreffen. Sie wird sich unter ihrer Decke ausstrecken und diesen Siebzigsten zu den Akten legen. Morgen ist der erste Tag von ihrem einundsiebzigsten Lebensjahr.

    2. Kapitel

    Seit Marens begeisterter Brief, dass sie jederzeit kommen und so lange bleiben kann, wie sie will, auf der Anrichte in der Küche liegt, wo ihn jeder lesen könnte, was aber niemand tut, schwirrt ihr der Kopf von all den Dingen, die noch erledigt werden müssen. Aus einem Plan, der ihr manchmal wie eine von ihren ausgedachten Geschichten vorgekommen ist, ist ein Ticket geworden, auf dem konkrete Daten stehen. Das legt sie besser nicht auf die Anrichte, nachher kommt es noch irgendwie abhanden. Aber die Zahlen setzen sie unter Druck. Der Gang ins Reisebüro hat eine Maschinerie in Gang gesetzt; ein Uhrwerk, das unerbittlich tickt, dem sie sich nur unterwerfen kann, denn Widerstand ist sinnlos. Vergeblich versucht sie, sich eine Freiheit zu verschaffen, die sie gar nicht mehr hat.

    Ich muss da nicht hinfliegen, sagt sie sich jedes Mal, wenn ihr die Panik wieder in den Hals steigen will, ich kann einfach nicht zum Flughafen fahren, den Flug verpassen, hierbleiben, wo ich mich auskenne. Das kostet nur Geld, weiter nichts. Geld hab ich.

    Aus Versicherungsgründen musste Achim ihr Lohn zahlen, unter Tarif, aber es hat sich in den Jahren angesammelt. Sie kann es sich leisten, ein ungebrauchtes Flugticket von Hamburg nach Denver und zurück in ihrer Schublade vermodern zu lassen. Für ihre Freiheit wäre das nicht zu viel bezahlt, findet sie. Unter solchen Gedanken, die unablässig die Konzentration von ihren Tagesgeschäften abziehen, schafft sie es aber trotzdem, die abendliche Versorgung von Mine zu organisieren, die beiden großen Kühltruhen bis zum Rand mit tiefgefrorenen Mahlzeiten zu füllen und für ihre Pflanzen auf den Fensterbänken Bewässerungssysteme anzulegen. Einmal im Monat Wasser nachzufüllen, das ist Achim ja wohl zuzumuten; zusätzlich hat sie auch Hilde gebeten, beim Putzen ein Auge auf den Zustand ihrer Pflanzen zu haben. Doppelt genäht, hält besser. An ihren Pflanzen hängt sie, es sind alles ihre Kinder. Um ihre Rosenzucht im Garten muss sie sich, Gott sei Dank, nicht auch noch kümmern. Die Rosen halten Winterschlaf, und wenn sie aufwachen, ist sie schon wieder da, um sie zurückzuschneiden und zu düngen. Täglich kann sie einen oder mehrere Posten auf ihrer Liste als erledigt durchstreichen. Das macht sie sicher, dass sie trotz ihrer zersetzenden Gedanken fahren wird, denn schon immer hat sie Taten ernster genommen als Worte. Und das bedeutet dann wohl, dass da irgendetwas in Sichtweite kommt, mit dem sie gar nicht mehr gerechnet hat.

    Hörst du, mein Herz, wir gehen einfach auf eine Reise, und du findest bitte zu deinem alten Takt zurück, und wenn wir wiederkommen, ist vielleicht alles anders als jetzt.

    Heute hat sie einen Termin in Schönkirchen. Sie hasst es, nach Schönkirchen fahren zu müssen. Sie hasst die Straße, die dorthin führt, den Parkplatz am Rande der Stadt, der seit zwanzig Jahren an derselben Stelle ist, sie hasst jedes Haus, jedenfalls alle alten Häuser, die so aussehen, wie sie schon ausgesehen haben, als Schönkirchen noch Bernhard bedeutete und nichts weiter als Bernhard einen ganzen Donnerstagnachmittag lang und einen frühen Abend. Wenn es noch eine Steigerung gibt, dann hasst sie es noch mehr, Bernhards Haus zu betreten, das eigentlich dem alten Dr. Wendland gehört, aber für sie bis in alle Ewigkeit Bernhards Haus bleiben wird.

    Zu dem alten Dr. Wendland gehen war immer noch ein wenig, wie Bernhard nahe sein. Er war der Einzige, der Bescheid wusste. Dieser einzige Mitwisser ist jetzt leider nicht mehr zu sprechen, er genießt seinen Ruhestand weit weg auf Teneriffa. Oder war es Mallorca? Sein Sohn hat alle Karteiblätter geerbt, aber darin steht nichts davon, dass sie Bernhard geliebt hat, und also weiß er nichts über sie, das wirklich wichtig wäre. Der alte Doktor schaute einem in die Augen und wusste, was los war; der junge schaut in seinen Computer und auf die Blätter, die seine Maschinen ausspucken. Immerhin, die Empfehlung einer Grenzüberschreitung war klug von ihm, vielleicht hat er doch noch mehr als Krankenakten von seinem Vater geerbt.

    Heute will sie die Reise mit ihm besprechen, damit sie für alle Eventualitäten die richtigen Medikamente dabeihat. Ob sie ihn auch auf das dauernde Ziehen im rechten Bein anspricht?

    Wie lange hat sie das? Eine Woche bald. Lieber nicht, sonst schickt er sie womöglich noch zu einem anderen Doktor, weil er doch nur für Inneres zuständig ist. Das Ziehen wird vergehen wie andere Zipperlein auch. Mit siebzig muss man das nicht so ernst nehmen. Irgendwo zieht es doch immer.

    Sie erreicht den bekannten Parkplatz, auf dem jetzt überall Parkuhren stehen, die zwei Mark schlucken für die Gnade, eine Stunde dort stehen zu dürfen. Dafür ist der Platz jetzt asphaltiert, so dass man sich garantiert nicht die Schuhe beschmutzt. Damals konnte man sein Auto hinstellen, wo man wollte, und hier war das Parken immer noch frei, als in der Stadt eine Stunde schon zehn Pfennig kostete. Nach Regenfällen war der Platz tagelang ein Sumpf.

    Sie kramt nach Münzen in ihrer Tasche. Wie viel braucht sie? Sie ist für ihren Termin eine Stunde zu früh dran. Weiß sie etwa nicht mehr, wie viel Zeit es von Bugendorf nach Schönkirchen braucht? Obwohl der Verkehr so unglaublich zugenommen hat, ist man heutzutage durch die neue Straße, auf der man bequem überholen kann, schneller am Ziel. Sei’s drum. Sie hat auch noch Besorgungen auf ihrem Zettel. Eine neue Windjacke für Amerika ist dringend notwendig. Sie geht schnellen Schrittes an den Ladenfronten entlang. Auf dem Weg zu ihrem Lieblingsladen ist sie nicht interessiert an den Auslagen der anderen, aber sie registriert ihre eigene Silhouette im Spiegel der Schaufenster: Eine ältere Frau, oder soll sie schon sagen, eine alte Frau, in einem verblichenen Regenmantel, der viel zu lang ist und unförmig wirkt, weil sie darunter eine dicke Wolljacke trägt. Die flachen, allerdings sehr bequemen Schuhe sind mindestens zehn Jahre alt und heutzutage durch kein ähnliches Modell mehr ersetzbar. Zum Sich-Wundern unmodern. Was sie am meisten an dieser Figur, die sie selbst sein soll, stört und was sie nicht gewusst hat, ist, wie sehr sie beim Gehen den Kopf nach vorne streckt. Der Kopf geht vor, und der Körper muss hinterher, ob er will oder nicht. Das sieht unmöglich aus. Der Kopf ist in den letzten Jahren richtig grau geworden, und in dieser diskriminierenden Farbe findet sie ihr straff nach hinten gekämmtes und hochgestecktes Haar kein bisschen mehr so apart, wie ihr das einmal vorgekommen ist, als ihre Haare noch dunkelbraun waren mit roten Lichtern darin. Die Bilder in den Scheiben sind so undeutlich, dass man die Knitterfalten in den Wangen, deren Entstehung sie die letzten Monate morgens im Badezimmerspiegel nicht umhinkonnte zu bemerken, nicht erkennen kann, aber ihr Adlerprofil ist, Gott sei Dank, noch unangetastet. Wenn das denn ein Trost sein kann.

    Bei Claussen & Markgraf blättert sie lustlos durch die Reihen der Jacken, und die nette Frau Kramer, die sie immer bedient, ist auch nicht da. Nein, ihr ist überhaupt nicht danach, etwas Neues zu kaufen. Es ist kein Nachmittag für Entscheidungen. Und noch immer sind es vierzig Minuten bis zu ihrem Termin. Es ist sinnlos, früher zu kommen, der junge Doktor hat alles auf die Minute genau im Griff.

    Sie setzt sich in der Miniaturanlage aus drei Beeten und zwei Bäumen auf die einzige Bank. Wenn sie sich vorbeugt, kann sie Bernhards Haus sehen. Es ist milde für Ende Februar. Die Rosen in den Beeten sind genauso ordentlich angehäufelt wie ihre zu Hause, so können sie auch eine strengere Witterung überleben. Vielleicht kommt ja auch kein Frost mehr. Aber das kann ihr egal sein, sie friert dann in Amerika. Das Frühjahr ist so nahe an den Rockies noch kühl, hat Maren geschrieben. Sie sollte vielleicht lieber im Sommer kommen, aber das geht nicht. Sie muss diese Reise jetzt machen oder nie. Vielleicht ist sie im Sommer schon tot. Ihr langsames Herz wird einfach immer langsamer und bleibt schließlich ganz stehen.

    Diese Vorstellung geht ihr so gegen den Strich, dass ihr erschrecktes Herz gleich ein paar Schläge extra einlegt. Was will sie denn noch? War es nicht gut, wie es war, ihr Leben?

    Nein, sagt sie laut zu den schlafenden Rosen und den beiden entlaubten Bäumen, es war nicht gut! Und hätte es Bernhard nicht gegeben, wäre es ein Fehlschlag.

    Es war Mühsal und Plage, so sagen sie doch immer, und es war Schmerz und Ungenügen und irgendwie falsch. Richtig war es außer mit dem kleinen Heiner, als sie noch nicht wusste, dass ein halbes Mädchen aus ihm werden würde, nur mit Bernhard. Er war der Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens. Eine Liebe ohne Ende und die Lust bis zur Neige. Solange er donnerstags seine Hände auf ihre Brüste gelegt hatte, war ihr Leben im Lot gewesen. Die Gewissheit ihrer Gefühle füreinander hatte sie durch die Jahre getragen, und jeder Tag hatte sein besonderes Gewicht.

    Danach kamen nur noch Tage ohne Gewicht. Austauschbar. Ob sie die Kirche zum Erntedank schmückte oder Kuchen für den Basar des Kindergartens backte, es war einerlei. Achtzehn Jahre waren darüber vorbeigegangen. Vertane Zeit, sagt sie heute, die sie nicht wieder einholen kann.

    Es ist diese nagende Unzufriedenheit in ihr, von der sie nicht weiß, was die eigentlich will. Es gab in ihrem Leben so viel, das sie gerne gemacht hätte, aber zu dem sie nicht gekommen war, weil Heiner gerade so schwierig war, Achim Sorgen hatte oder Mine besonders gemein war. Die Erfüllung jedes einzelnen Wunsches, wenn sie es recht bedenkt, wie zum Beispiel ein lächerlicher Aquarellkurs an der Volkshochschule, hätte doch wohl nicht hingereicht, diese Unzufriedenheit zu besänftigen. Aber vielleicht doch alle zusammen.

    Wird Amerika sie ruhiger machen? Und wenn ja, dann könnte sie doch einfach dableiben und nicht wiederkommen. Das ist eine ziemlich abstrakte Vorstellung und so weitläufig, dass die widerstrebendsten Gefühle darin Platz haben.

    Dir ist alles zuzutrauen, hat Ilse, die Freundin von der Grundschule, gesagt, als sie ihr noch vor ihrer Familie von ihren Amerikaplänen erzählt hat, und missbilligend den Kopf geschüttelt.

    Warum glaubst du das von mir, hat sie zurückgefragt.

    Ilse, die mit Worten nicht so gut umgehen kann, weil sie, wie sie von sich selbst sagt, eine praktische Begabung ist, hat lange nachgedacht und dann gesagt: Weil du, entschuldige bitte, irgendwie schillernd bist.

    Schillernd ist in der Welt, die sie mit Ilse teilt, unzweifelhaft etwas Schlimmes, in ihrer versteckten inneren Welt ist es etwas Uneindeutiges, das darauf drängt, eindeutig zu werden. Also gibt sie sich mit dieser Antwort, die im Grunde ja nicht falsch ist, zufrieden.

    Amerika ist auch so ein schillerndes Phantom, sagt sich Henriette auf ihrer Bank und wickelt sich gegen eine unangenehme Bö, die um die Ecke fegt, fester in ihren Mantel. Ich muss noch irgendetwas finden, sonst kann ich nicht in Frieden sterben. Aber was? Und die Zeit wird knapp.

    Zum wiederholten Mal kalkuliert sie, wie viel Zeit ihr noch bleibt. Bestenfalls! Ihre Mutter ist vierundachtzig geworden. Wenn sie so alt würde wie ihre Mutter, dann hätte sie noch vierzehn Jahre. Ihr wird ganz heiß. Das ist viel zu wenig. Vierzehn Jahre, das ist doch nichts. Vor vierzehn Jahren war Bernhard gerade vier Jahre tot. Das war gestern. Die Menschen werden doch immer älter. Kann sie noch mit zwanzig Jahren rechnen? Eine runde Zahl. Aus ihrer Jugend her klingt „zwanzig Jahre" noch, als wäre das eine lange Zeit. Ist es aber nicht, es ist auch nur wie einmal ein- und ausatmen.

    Vor zwanzig Jahren war sie mit Bernhard im Schwarzwald. Es war fern von Schönkirchen das letzte Treffen mit ihm und das längste. Dr. Wendland, ihr stiller Komplize, hatte ihr alle zwei Jahre bereitwillig eine Kur verschrieben, und jedes Mal hatte Bernhard sie für ein Wochenende besucht. Das waren der Wirklichkeit enthobene Tage! In Erinnerung daran zieht sich in ihr noch immer alles zusammen. Aber im Schwarzwald waren es sechs Wochen. Das hatte der findige Dr. Wendland gut hingekriegt. Bernhard in der Reha-Klinik und sie in der Kur-Klinik gleich nebenan. Morgens konnte sie von ihrem Fenster aus sehen, wie er mit den anderen Infarktpatienten auf dem grünen Rasen Atemübungen machte, aber der Rest des Tages gehörte ihnen, und die meiste Zeit davon verbrachten sie in einer kleinen Pension drei Dörfer weiter. Für die Mitpatienten waren sie nur zwei unzertrennliche Kurschatten, für sich selbst zum ersten Mal ein Paar auch in der Öffentlichkeit. Sie hatte es genossen, und er hatte immer noch Angst, sie könnten auf irgendjemanden stoßen, der sie kannte.

    Wenn der Teufel es will, sagte er, läuft noch in dieser hintersten Ecke des Schwarzwaldes ein Bugendorfer herum. Diese Leute sind unberechenbar.

    Was hast du gegen Bugendorfer, hatte sie ihn geneckt. Ich bin doch auch einer, eine Bugendorferin, eine waschechte sogar und nur aus Versehen in Berlin geboren.

    Aber ihm war es bitterernst. Wenn er Angst hatte, und er hatte immer Angst, die meiste Zeit vor der Aufdeckung ihres Verhältnisses, zuletzt davor, auf dem Gipfel der Lust einen neuerlichen Herzinfarkt zu erleiden, dann gab es kein Wort von ihr, das ihn hätte erreichen können. Aber wenn sie ihn berührte, reagierte er sofort. Gegen die Angst half immer die Lust. Ihre Körper hatten ihre eigene Sprache miteinander und verständigten sich direkt und schamlos, ohne dass ihre Besitzer darauf hätten Einfluss nehmen können. Die Eigenmächtigkeit ihrer Körper war die Grundlage ihrer Beziehung. Die einzige Möglichkeit, sie ruhig zu halten, bestand darin, sie weit genug voneinander entfernt zu halten.

    Das war wie mit Heiners neuem Computer. Der hat eine infrarote Schnittstelle und überträgt seine Impulse drahtlos an ein anderes Gerät, zum Beispiel einen Drucker, vorausgesetzt, der hat auch ein rotes Auge und die beiden stehen so nahe beieinander, dass sie sich ansehen können. Sie hatte sich amüsiert, als Heiner ihr stolz diese neueste technische Errungenschaft erklärte, das kannte sie längst. Hunderte von roten Äuglein gleichmäßig über die Körper verteilt, Schnittstellen der Begierde. Es war egal, wo sie sich nahe genug kamen, die Übertragung funktionierte immer. Das war so vom ersten Tag an. Ein schwüler Nachmittag im September. In der Mosterei war das.

    Den ganzen Sommer war es nicht so heiß gewesen wie in diesem September. Im Norden sind auch die Sommer kühl, und Temperaturen über dreißig Grad sind, weil niemand daran gewöhnt ist, schwer erträglich. Sie war, verschwitzt und erschöpft von der Hitze, so wie sie war, in dreckigem Arbeitszeug, mit den letzten vier Körben ihrer Augustapfelernte zur Mosterei gefahren. Zu was anderem als Saft waren Augustäpfel, wenn sie ihre erste Frische verloren hatten, doch nicht zu gebrauchen. Sie stand in dem mit angelieferten Körben voller Äpfel und fertiggezapften Flaschen mit Apfelsaft vollgestellten kleinen Büro der Mosterei am Tresen und wartete, dass ihre Lieferung registriert würde. Herr Linden war nirgends zu sehen, aber sie konnte aus dem Raum dahinter, wo die Pressen liefen, seine Stimme hören. Sie wechselte das Gewicht von einem Bein auf das andere. Es gab nichts zum Sitzen, sie hätte sich schon auf einen vollen Apfelkorb setzen müssen. Da kam noch jemand herein, und sie rückte, so gut es ging, ein wenig zur Seite. Er grüßte knapp, und sie grüßte genauso knapp zurück. Man kannte sich, aber man hatte nichts miteinander zu tun.

    Es war Bernhard Jürs, der Bauunternehmer, der mit der Tochter des Bürgermeisters in Bugendorf verheiratet war und den ersten Bungalow im Dorf für sich und seine Familie gebaut hatte. Seine Frau hatte gerade ihr viertes Kind bekommen und war an einer Sepsis fast ums Leben gekommen. Man hatte ihr Hautübertragungen machen müssen, wie bei einem Brandopfer, und nun war ihr Körper angeblich so verschandelt, dass sie an der Schwimmgruppe freitagabends in Schönkirchen nicht mehr teilnehmen wollte. Das ganze Dorf redete über den Fall.

    Bernhard Jürs stand im blütenweißen Oberhemd und feinen Stadthosen gepflegt und kühl neben ihr an dem kleinen Tresen und wartete. So wie er aussah, war er wohl nur von seiner Frau beauftragt worden, auf der Rückfahrt vom Büro ein paar Kisten fertige Flaschen mitzunehmen. Seine Familie war damals mit den Flüchtlingen gekommen. Ein anderer Typus als die Leute aus der Gegend. Größer, breitschultriger, eleganter in seinen Bewegungen mit fast schwarzen Haaren, die er länger trug, als man es im Dorf für männlich hielt, und überraschend hellen grüngrauen Augen.

    Aber sein Aussehen, das fügt ihre Erinnerung jetzt nachträglich dazu, denn sie hat ihn nicht angesehen damals, sie hat ihn nur neben sich gespürt, die Frische, die von ihm ausging, gerochen. Sie stehen nur nebeneinander und warten darauf, dass Herr Linden erscheint und sie bedient. Aber der lässt sich Zeit. Bernhard Jürs kann doch nach draußen gehen und vielleicht inzwischen eine Zigarette rauchen, sie kommt ja sowieso zuerst dran, statt in dem engen, stickigen Büro neben ihr zu stehen und zu warten. Aber das tut er nicht. Er steht weiter neben ihr, und der Abstand zwischen ihnen wird, obgleich sie sich beide nicht rühren, immer geringer.

    Drei Handbreit Abstand zwischen ihnen ist zu wenig. Ihre Körper fangen an, miteinander zu reden. Sie tauschen, während sie und dieser Mann mit unbeteiligten Gesichtern gegen die Regalwände des Büros schauen, die geheimsten Informationen aus. Es fühlt sich an, als entstünde Faden um Faden ein Kokon um sie beide. Fäden wickeln sich um ihre und seine Füße, so dass sie sich nicht mehr von der Stelle bewegen können; Fäden überkreuzen und wickeln sich um ihre Beine, ihre nackten und seine unter dem Hosenstoff; ihre Taille verbinden sie mit seiner, sie ist ja kaum kleiner als er; ihre Arme, seine Arme halten sie an den Körpern fest und umschließen beide, Seite an Seite, mit einem leichten, aber ganz und gar unnachgiebigen Gespinst. Bevor sich die Fäden um ihren Hals zu schlingen beginnen, drehen sie beide gleichzeitig, wie auf eine geheime Absprache ihrer Körper, einander das Gesicht zu. Ihre Augen treffen sich. Eine Sekunde des Zögerns, dann ein äußerstes Sichsammeln vor dem Absprung: Sie sinken einander in die Augen wie Kieselsteine auf den Grund klaren, unbewegten Wassers.

    Wie lange dieses Sinken dauert – sie weiß es nicht. Und wenn es auf dem Zifferblatt einer Uhr gemessen auch nur dreißig Sekunden gewesen sind, es ist eine Ewigkeit. Eine nach allen Seiten hin ausgedehnte Zeitspanne.

    Dann wendet er sich abrupt ab, geht einfach hinaus, lässt sie in einem halben, aufgerissenen Kokon stehen. Sie kann hören, wie er den Wagen anlässt und davonfährt.

    Der Geschmack der Ewigkeit in der Mosterei veränderte ihr Leben mit einem Schlag.

    Das war das erste Mal.

    Das zweite Mal ereignete sich erst gut drei Wochen später an der Tankstelle. Ganz gegen ihre Gewohnheit war sie am Sonnabendmorgen zum Tanken gefahren. Als sie zum Bezahlen hineingehen wollte, nichtsahnend, damals kannte sie seinen Wagen noch nicht, kam ihr Bernhard entgegen. Sie prallten im Eingang fast aufeinander. Sekunden des Erkennens, des Ineinanderversinkens, des Sichtrennens. Noch an der Kasse war sie so verwirrt, dass sie die Scheine nicht auseinanderhalten konnte.

    Von da an richtete sie es so ein, dass sie sonnabends zum Tanken fahren musste. Dieselbe Zeit, derselbe Ort, dieselben Abgründe.

    Er war fast immer da.

    Damals wusste sie noch nicht, dass auch er es so einrichtete und dass er ein Kreuz in sein Notizbuch machte, wenn er sie gesehen hatte, nein, wenn sie die Gelegenheit gefunden hatten, einander auf diese Weise in die Augen zu fallen.

    Sie begegneten sich auch sonst. Das Dorf war nicht groß, und öffentliche Anlässe gab es genug. Bernhard war immer dabei, seiner Frau, der Bürgermeistertochter, zuliebe und auch deshalb, weil Kontakte so gut wie Aufträge waren. Unter Menschen beachtete er sie nicht, ja ging ihr aus dem Weg. Auf dem Feuerwehrball in diesem Jahr einmal mit ihr zu tanzen, wäre leicht und unverfänglich gewesen. Sie wartete darauf, aber als sie merkte, dass er das ganz bestimmt nicht vorhatte, ging auch sie ihm aus dem Weg. Sie tanzte mit nahezu allen Männern des Dorfes und noch mit ein paar anderen von außerhalb, die sie nicht kannte, aber mit dem einen, mit dem allein sie hätte tanzen wollen, nicht.

    Inzwischen dachte sie an fast nichts anderes mehr als an Bernhard Jürs. Ihr Körper war in Aufruhr. Ihre Leberbeschwerden wurden schlimmer. Manchmal, mit der Familie am Tisch, konnte sie fast nichts essen. Sie nahm Medikamente dagegen ein, die ihr Dr. Wendland in Schönkirchen verschrieben hatte. Außerdem hatte er einmal wöchentlich, wenn sie es denn einrichten könnte, Kurzwellenbestrahlung zur Anregung der Leberfunktionen empfohlen. Manchmal fuhr sie hin, manchmal nicht. Es nutzte nicht viel. Fast hätte sie wieder einmal mit Achim geschlafen, nur um zur Ruhe zu kommen. Nach der Selbstbefriedigung musste sie weinen. Sie nahm sich vor, das nächste Mal Widerstand zu leisten, sie wollte nicht länger so außer sich geraten. Einfach an ihm vorbeigehen, ohne ihn anzuschauen. Aber vornehmen konnte sie sich viel, es gelang einfach nicht.

    Wieder und wieder ertrank sie in seinen Augen.

    Ihre Körper mussten über telepathische Fähigkeiten verfügen. Sie wollten sich einfach begegnen, allein und unbeobachtet, denn das war Bernhards Bedingung, wie sie langsam herausgefunden hatte.

    Einmal ging sie vor einem Kirchenkonzert, in dem sie im Sopran mitsang, noch zum Luftschöpfen auf den Friedhof. Ein leiser, fast unsichtbarer Nieselregen ging hernieder, und niemand sonst lief bei diesem Wetter draußen herum. Dann sah sie doch eine einsame Gestalt unter einem Baum, und das war niemand anders als Bernhard. Sie erschrak, als sie ihn erkannte, und verlangsamte den Schritt. Er löste sich von seinem Baum, kam auf sie zu, sie blieben voreinander stehen, fast hätten sie sich berührt. Aber er behielt die Hände in den Taschen, wieder redeten nur ihre Augen miteinander, dann ging er weiter. Später sagte er ihr, dass sei das Schwerste gewesen, auf diesem verlassenen Friedhof weiterzugehen. Aber von der Kirche her, für sie selbst nicht unbedingt bemerkbar, hätte sie ja jemand beobachten können.

    Ein anderes Mal ging sie aus dem Saal, um an den völlig überladenen Garderobenständern im Vorraum nach ihrem Mantel zu suchen, in dessen Taschen sie noch Hustenbonbons gegen ihren Reizhusten vermutete. Am Nachbarständer machte sich Bernhard zu schaffen und hob gerade einen Teil der ihm entgegengefallenen Mäntel wieder von der Erde auf. Ähnlich wie auf dem Friedhof waren alle anderen drinnen, und nur sie beide waren draußen, allein.

    Ihre Augen verflochten sich.

    Sie hätte auf die am Boden liegenden Mäntel sinken können. Aber noch bevor sie die Beherrschung verlor, zog er sich zurück und ging davon. Später, in den kurzen Pausen, die er brauchte, um wieder zu Kräften zu kommen, hatten sie oft über diese Zeit gesprochen. Sie hatte ihm geschildert, wie sie kurz davor gewesen wäre, durchzudrehen, ihn anzuschreien oder Schlimmeres, und er hatte ihr erklärt, mit welchen Schwierigkeiten er zu kämpfen hatte, bis endlich alles eingerichtet war.

    Am 16. April 1966 drückte er ihr, ohne dass er sie angesehen hätte, auf der Tankstelle unauffällig seine Visitenkarte in die Hand. Auf der Rückseite stand ein Satz: Nächsten Dienstag 17 Uhr, Schönkirchen, Breite Straße 26, oberster Stock, Klingel Wendland ???

    Die Adresse war die Adresse ihres Arztes.

    Sie riss die Karte in kleine Stücke und streute sie auf der Fahrt nach Hause in die Büsche. Nächsten Dienstag 17 Uhr. Sie fuhr noch einmal zurück und suchte in den Büschen nach den Schnipseln, fand aber nicht, was sie suchte. Sie hätte sich so gerne doch noch einmal vergewissert, ob er wirklich drei Fragezeichen gesetzt hatte.

    Sie machte einen Arzttermin für fünfzehn Uhr am Dienstag, sie brauchte auch ein Alibi für sich. Noch vor ihrem ersten Treffen spielte sich zu Hause die Rolle der Kranken ein. So schlecht, wie sie aussah, so fahrig, wie sie all ihre Geschäfte erledigte, alle konnten sehen, dass sie krank sein musste. Mine sah sich bestätigt in ihrem Urteil, dass Achim eine unbrauchbare Frau angeschleppt hatte, eine, die ein krankes Kind produziert hatte und selbst zu schwach war, um ordentlich anzupacken. Nur der Schwiegervater, der damals noch lebte, tätschelte ihr verstohlen die Hand und sagte: Das wird schon.

    Das Einzige, was werden musste, war Dienstag. Es waren die längsten drei Tage ihres Lebens, von Sonnabend auf Dienstag. Und dann kam eine Stunde, die war länger als diese drei Tage zusammen. Siebzehn Uhr hatte Bernhard geschrieben, und eine Stunde vorher war sie mit ihrem Arztbesuch fertig. Sie hatte die Zeit reichlich bemessen, zu spät zu kommen, das hätte sie nicht fertiggebracht, aber zu früh zu kommen, ging unter diesen Umständen genauso wenig. Eine

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