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Der Tausch: Geschichte einer jüdischen Familie
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eBook641 Seiten9 Stunden

Der Tausch: Geschichte einer jüdischen Familie

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Über dieses E-Book

Deutschland, Anfang der 1930er-Jahre: Herbert Kalmann, Sohn einer jüdischen Kaufmanns- und Unternehmerfamilie in Sachsen, erlebt als Kind, wie sich der Alltag mit dem Vordringen des Nationalsozialismus Schritt für Schritt verändert. Ähnliche Erfahrungen macht auch Ursula Borchardt in Berlin und Heidelberg; sie ist die Tochter des prominenten jüdischen Schriftstellers Georg Hermann (1871–1943). Beide Familien wählen das Exil in den Niederlanden, das nach dem Überfall der Wehrmacht im Mai 1940 aber keinen Schutz mehr bietet. Wie diese Familien zusammenkommen, wie die einen inhaftiert und schließlich deportiert werden und wie die anderen auf abenteuerliche Weise Frankreich und die rettende Schweiz erreichen und wie ein "Tausch" den Weg aus dem Lager nach Palästina weist – davon erzählt diese Chronik. – Der Niederländer Menno Kalmann ist der Sohn Herbert Kalmanns. Er hat die abenteuerliche Geschichte der eigenen Familie anhand von persönlichen Erinnerungen, Gesprächen und umfangreichen Quellenstudien rekonstruiert.
SpracheDeutsch
HerausgeberElsinor Verlag
Erscheinungsdatum15. Aug. 2023
ISBN9783939483755
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    Buchvorschau

    Der Tausch - Menno Kalmann

    TEIL 1

    WEISSENFELS 1926

    «Bertl, wo bischt’n du?»

    Dann strenger: «Her-bert Kal-mann, sofort! Jetzt!»

    Mutti läuft durch den Flur zur Hintertür. Lieschen, das Kindermädchen, tritt aus der Küche in den Flur, sieht Mutti mit großen Schritten auf sich zukommen und flüchtet ins Bügelzimmer. Wenn Lina Kalmann wütend ist, sollte man ihr besser nicht in die Quere kommen. Lieschen hat von dem Rindvieh-Vorfall gehört. Alle im Haushalt haben davon gehört, und inzwischen werden es wohl auch die Nachbarn wissen. Es ist ja auch höchst amüsant.

    Mutti betritt den Garten durch die Hintertür: «Bertl!», schnauzt sie in Richtung Spielplatz, wo Herbert und seine Freunde um diese Zeit herum meist Fußball spielen. Lina Kalmann ist gerade ziemlich dünnhäutig, am Morgen ist die Diskussion vom vorherigen Abend wieder aufgeflammt: Mutti und Lieschen über das Essen von gestern. Es war viel übrig geblieben, was aber nicht an der Menge lag, sondern daran, dass nicht alle vom Sauerbraten mit Klößen gleichermaßen begeistert waren. Die beiden Jungen, Heinz und Herbert, hatten vor allem die Klöße gegessen, die weißen Kugeln aus Kartoffelmehl, getränkt in Bratensaft, den Braten selbst aßen sie erst nach einigem Druck und der Androhung disziplinarischer Maßnahmen, grollend und mit Widerwillen. Fleisch verkörperte das, was die Familie im Leben erreicht hatte, ein gewisses Maß an Wohlstand durch harte, unablässige Arbeit. Sauerbraten war ein Sonntagsgericht – für die, die es sich leisten konnten. Doch die Jungen zogen angewiderte Grimassen, und vor allem Heinz veranstaltete ein großes Theater, um seiner Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen.

    Die Diskussion vom Vorabend hatte mit dem Zimt begonnen.

    «Zimt … Bist du des Wahnsinns?», rief Mutti. «Da gehört doch kein Zimt rein! Stattdessen hätte mehr Paniermehl reingemusst. Ist überhaupt welches drin? Oder hast du das etwa vergessen?»

    «Meine Familie macht den Sauerbraten schon seit Generationen mit Zimt, nicht zu viel, aber in Sachsen gehört nun einmal ein wenig Zimt dazu!», antwortete Lieschen.

    «Nein doch! Ein guter Schuss Wein, der kommt zuerst, oder hat Lieschen den Wein nachträglich drangegeben? Hat sie den auch vergessen?» Mutti war fassungslos. «Dann lässt der Braten sich sowieso nicht mehr retten … den Wein nachträglich, schon der Gedanke!»

    Lieschen kommt an diesem Morgen darauf zurück, als sie den Frühstückstisch abräumt. «Ihr seid doch Juden? Ich dachte, die mögen sowieso kein Schweinefleisch?»

    «Quatsch, das hat nichts mit mögen zu tun, sondern mit einer unsinnigen Vorschrift, die Gott Moses diktiert hat, die wir hier im Hause Kalmann aber nicht befolgen. Sonst würden wir freitagabends ja auch ein Sabbatmahl halten, aber wie dir vielleicht aufgefallen ist, fällt der Sonntag bei uns einfach auf den Sonntag. Und wenn hier einer diktiert, was gemocht werden soll und was nicht, dann bin ich das!»

    Nach dieser Entgegnung legt Mutti die Hand auf die Teekanne. «Lass den Tee ruhig noch stehen. Ja, ich weiß, dass er schon fast kalt ist.» Und in einem Ton, der versucht, die Diskussion zu beenden: «Es gibt Juden, die diesen Unsinn mitmachen, und es gibt Juden wie uns, die einfach Deutsche sind.» Sie lehnt sich in ihrem Stuhl ein wenig vor, um ihren Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen. «Sachsen sind wir, genau wie du.»

    Aber der Streit ist noch längst nicht vorbei. Immer wieder kommt es in diesen Tagen zu denselben Diskussionen über Paniermehl, das Einkochen von Wein, Lorbeer, Zimt und die echte sächsische Küche, eine Debatte, die von beiden Parteien unerbittlich geführt wird. Lieschen kann sich noch nachts im Bett darüber aufregen: Als wüsste sie nicht, wie man Sauerbraten macht! Im Kopf geht sie das Rezept wieder und wieder durch. Aber natürlich, mit Zimt!

    Mutti muss kurz nach Luft schnappen. Lieschen kennt Lina lange genug, um zu wissen, dass es nun Zeit wird, den Rückzug anzutreten. Denn die Stimmung kann jetzt plötzlich umschlagen: von einer Böe über ein Gewitter bis zum Unwetter, und dann trifft es jeden.

    «Du weißt doch wohl allmählich, dass ich kalten Tee mag», ruft sie Lieschen hinterher. «Und nächsten Sonntag gibt es Kalbszunge!»

    Lieschen gehört zum Personal, ist aber nach all den Jahren auch zu einer der besten Freundinnen Linas geworden. Doch manchmal geht etwas schief, und dann kommt es zu diesem Hin und Her, das nach ein paar Tagen einer verkrampften Freundlichkeit Platz macht, bis sich die Wogen wieder geglättet haben. Wahrscheinlich so wie in den meisten Freundschaften und Ehen.

    «Mein Gott», murmelt Lina, trinkt nachdenklich ihren kalten Tee und macht sich anschließend fertig, um zu ihrem Geschäft in der Großen Burgstraße zu gehen.

    Weißenfels, am baumbestandenen Ufer der Saale gelegen, ist ein malerisches Städtchen mit alten Kirchen, Klöstern und mittelalterlich anmutenden Gassen. Am Stadtrand stehen die schmucken Villen der örtlichen Großindustriellen, vor allem Schuhfabrikanten. Die Häuser im Arbeiterviertel Georgenberg sehen dagegen billig und baufällig aus. Schimmel an den Fassaden und verrottetes Holz an Türen und Fenstern. Vor den Häusern stehen tagsüber tratschende Frauen unterschiedlichen Alters. Sie tragen alle ohne Ausnahme einen Säugling auf dem Arm, den sie mit kurzen, ruckenden Bewegungen ruhig zu halten versuchen, während sie sich den neuesten Klatsch erzählen. Die Babys sind in Tücher gehüllt, die auch den Oberkörper der plappernden Mütter umschließen und aussehen wie ein gemeinsam getragenes Kleidungsstück.

    Der Tratsch kann dabei ganz und gar um sich selbst kreisen, wobei die jeweils abwesenden Frauen im Mittelpunkt stehen. Alle reden über etwas, das nicht laut gesagt werden darf, sodass es schon bald im Flüsterton heißt, dass Die-und-die die Geschichte völlig verdreht in Umlauf gesetzt habe, während sie im Übrigen selbst … Woraufhin jene Die-und-die bei einer anderen Gelegenheit mit hoher, entrüsteter Stimme zu erzählen weiß, dass Die-aus-dem-Haus-Nummer-neun mal ein bisschen besser aufpassen sollte, was ihr Mann nach der Arbeit so treibt.

    So enden Geschichten immer wieder in Verleumdungen, bei denen man sich gegenseitig mit Dreck bewirft. Doch die Koalitionen wechseln von Runde zu Runde, und aus Gegnerinnen werden Verbündete: Die-und-die und Die-aus-dem-Haus-Nummer-neun stehen plötzlich schwesterlich beieinander, ihre Säuglinge wiegend, während sie Gift und Galle über die Arbeitsbedingungen in der Schuhfabrik und die Ausbeutung ihrer Männer spucken, die trotz der langen Arbeitstage jedes Mal zu wenig Geld nach Hause bringen.

    Die Kleine Burgstraße 1 in Weißenfels liegt in einem etwas besseren Viertel. Familie Kalmann bewohnt dort ein Fünf-Zimmer-Apartment im Erdgeschoss, über dem Souterrain. Je weiter unten man wohnt, desto höher der Stand. In den Stockwerken über ihnen wohnen Näherinnen, Verkäuferinnen und Tagelöhner.

    Die Wohnung der Kalmanns ist großzügig geschnitten und gemütlich eingerichtet. Heinz und Herbert teilen sich ein Zimmer, jeder von ihnen hat ein eigenes Bett, einen kleinen Schreibtisch unter dem großen Fenster und ein kleines Blechregal für Bücher über dem Bett, denn es muss gelesen werden. Im Wohnzimmer steht eine bequeme Couch mit dazugehörigen Sesseln. Wenn Adolf und Lina nicht da sind, macht Heinz sich nach der Schule manchmal großspurig auf der Couch breit. Kommt Lieschen dann nach Haus, bleibt er liegen, fordert sie auf, sich dazuzusetzen, macht Scherze und äfft Vatel nach, wie er immer ein wenig streng «Heinz!» ruft. Lieschen lässt ihn gewähren, und Herbert bewundert seinen großen Bruder. Heinz, dreizehn Jahre alt, ist ein Charmeur, wie er im Buche steht. Wenn er abends nach dem Essen erzählt, was er tagsüber erlebt hat, hängen Lieschen und Mutti an seinen Lippen. Dann spielt er beispielsweise nach, wie er in der Schule von Herrn Professor Möglitz einen Tadel bekommen hat, wobei er abwechselnd den Professor und sich selbst nachäfft. Herbert strotzt vor Stolz, wenn die gesamte Familie in Lachen ausbricht, obwohl der Anlass für diesen Einakter doch eigentlich eine Ungezogenheit während des Unterrichts und die dazugehörige Bestrafung ist. Mutti setzt anschließend Heinz’ Vorstellung fort und beginnt selbst, mit vielen merkwürdigen Stimmen und Grimassen einen Vorfall aus dem Geschäft nachzuspielen. Vatel sitzt zufrieden daneben und schüttelt mild lächelnd den Kopf.

    Lieschens Domäne ist die Küche. Sie sorgt für die Einkäufe und meist auch für das Essen. Gegessen wird in der Küche, außer wenn Besuch kommt und am Sonntag, dem christlichen Ruhetag, der auch im Hause Kalmann in Ehren gehalten wird – dann speist man im Wohnzimmer. Der Tisch dort lässt sich durch ein ingeniöses System verlängern. Wenn es ans Ausziehen geht, nimmt Lieschen die Tischdecke herunter, zieht die beiden Tischplatten auseinander, holt weitere Platten hervor, die, wenn sie nicht gebraucht werden, wieder unter dem Tisch verschwinden, legt sie ein, klappt Scharniere auf, und plötzlich ist der Tisch doppelt so lang und auch nicht mehr rund, sondern oval. Ein Zaubertrick, der Herbert ein wenig an die Kiste im Zirkus erinnert, in die eine Dame steigt, um zersägt zu werden, während sie dabei fröhlich lacht und mit den Zehen wackelt.

    Mutti ist während der Woche fast den ganzen Tag über im Geschäft, und das ist wichtig, weil viele Kunden speziell von Frau Kalmann bedient werden wollen. Wahrscheinlich, weil sie so überzeugend auftritt. Wenn Lina Kalmann sagt, dass ein Kleid schlank macht, muss es wohl stimmen. Vatel ist viel unterwegs, oft hat er geschäftlich in Leipzig zu tun. Dort besucht er Lieferanten, ordert Ware, verhandelt und versucht hin und wieder, eine exklusive Vertretung für eine elegante ausländische Marke an Land zu ziehen. Lieschen kümmert sich, neben der Hausarbeit, um die Jungen, die sie zur Schule bringt und hinterher wieder abholt. Sie gibt ihnen Tee mit einem Keks, hört sich ihre Geschichten über die Schule an und beantwortet auch Herberts unangenehme Fragen.

    Warum muss er morgens sein Gesicht waschen? Wenn sein Gesicht schon mal schmutzig werde, dann vor allem beim Fußballspiel, findet er. Wenn er grätscht, zum Ball hechtet oder einen verdreckten Ball köpft. Doch ihm scheint, dass der Kopf nirgendwo so sauber bleibt wie nachts im Bett. Was also machen die Leute im Bett, dass sie morgens als Erstes gründlich ihr Gesicht waschen müssen? Vatel seift sein Gesicht sogar ein. Zuerst reibt er die Seife zwischen den Händen, bis sie schäumt, dann verteilt er sie mit beiden Händen über das ganze Gesicht, die Wangen und die Stirn und dreht anschließend noch seine eingeseiften Zeigefinger ein paarmal in den Ohren herum. Wie kann ein Gesicht im Bett so schmutzig werden?

    Lieschen kann es schlecht erklären. «Das ist persönliche Hygiene, ganz wichtig», windet sie sich heraus.

    Heinz drückt sich gern mit einer Ausrede vor dem Waschen, wirft sich mit den zu einer Schüssel geformten Händen ein wenig Wasser ins Gesicht und behauptet: «So machen wir Juden das.» Heinz ist Anarchist, doch Herbert traut sich nicht, so lässig zu sein wie der Bruder, und seift sein blütenreines Gesicht daher jeden Morgen ebenfalls gründlich ein.

    Heute Nachmittag ist Mutti schon um halb sechs zu Hause, die Stimmung wird von dem «Rindvieh-Vorfall» beherrscht. Solange Vatel noch nicht da ist und die Jungen irgendwo draußen spielen, weiß Lieschen, dass sie die einzige Zielscheibe für stichelnde Bemerkungen abgeben wird: Fünkchen, klein, aber brandgefährlich, die eine heftig aufflammende Diskussion zur Folge haben können. Mutti gewinnt immer, weil sie Lina Kalmann ist, geborene Gerson, und zwar aus dem intellektuellen und kreativen Zweig der Gersons, und weil sie das schwarze Band im Diskutieren trägt. Aber auch einfach deshalb, weil sie die Herrin des Hauses ist.

    Lieschen kommt kurz in die Küche, wo Mutti am Fenster steht und nach draußen schaut. «Ich muss noch rasch was einkaufen», dann verschwindet Lieschen, ohne eine Antwort abzuwarten.

    Vater kehrt kurze Zeit später nach Hause zurück. Das Geschäft hat noch geöffnet, und er geht nach dem Essen noch einmal hin, um nach dem Rechten zu sehen: ob die Mädchen auch abgeschlossen haben, die Kasse im Tresor liegt und ob nicht während seiner Abwesenheit doch noch ein Kunde gekommen ist, der an diesem Montag den halben Laden leer gekauft oder doch zumindest den Tagesumsatz gerettet hat. Oder mehr noch, vielleicht den Umsatz für die gesamte Woche. Jemand, der auf Reisen ist und neben Proviant auch Kissen, einen Koffer und vielleicht ein Kleid oder einen Anzug für sich oder als Geschenk für jemanden zu Hause gekauft hat. Oder der Schneider Jens aus Bad Dürrenberg, der unerwartet eine ganze Hochzeitsgesellschaft einkleiden muss: Anzüge für die Männer, zur Gelegenheit passende Kleider für die Damen. Luxuriöse Stoffe, die Kalmann bei der Agentur einer französischen Firma in Leipzig einkauft. Innenfutter, Käsetücher, Knöpfe, Reißverschlüsse. Adolf glaubt, dass die Erfindung des Reißverschlusses von größerer Bedeutung für die Menschheit war als die Entdeckungen dieses Albert Einsteins, die ohnehin keiner begreift. Auch Schuhe bekommt man bei ihm. Kaufhaus Kalmann hat alles im Sortiment.

    Und natürlich auch eine Auswahl an Ess- und Genusswaren. Es gibt ein reiches Angebot an allem, was der gewerbliche Mittelstand am Ort nicht verkauft: Schokolade und Süßholz, exklusive Tabakwaren, Bohnen und Nüsse sowie ein Regal voller Konservendosen mit Kompott, pasteurisierter Milch und seit Kurzem auch Kutteln, eine Delikatesse aus eingemachtem, in dünne Streifen geschnittenem Rindermagen. Keine unmittelbare Konkurrenz für den Bäcker, den Fleischer und den Müller, das würde der Harmonie in der Stadt nicht guttun. Und die Harmonie ist in diesen Tagen gerade ein Punkt, dem besondere Aufmerksamkeit gilt.

    Ein geniales Konzept, alle Einkäufe in einem einzigen Geschäft erledigen zu können! Aber wegen des breiten Warensortiments gibt es auch viele Lieferanten, die ihre Rechnungen fristgerecht bezahlt haben wollen. Also ist das Kaufhaus Kalmann ein stetiger Quell der Sorge. Schreibt man diese Woche unter dem Strich schwarze oder rote Zahlen? Die Gebäudemiete, das Gehalt für die drei Verkäuferinnen, die Gemeindesteuern und die Versicherungen: alles feste Kosten, während der Zulauf von Kunden vom Zufall und vom Schicksal abzuhängen scheint. Heute kommen sie nicht – wundert einen das bei diesem schönen Wetter? Oder andersherum: Man selbst würde bei diesem Regen auch nicht aus dem Haus gehen.

    Der wichtigste Augernblick des Tages ist da, wenn der Kassensturz gemacht wird und der Umsatz feststeht. Der ist entweder beruhigend und ermutigend, oder er ähnelt einem unbarmherzigen Fluch über die Firma und den Unternehmer.

    Adolf Kalmann kann nach drei Tagen enttäuschender Umsätze in Folge in große Schweigsamkeit verfallen und blickt dann der unabwendbaren Katastrophe, dem Bankrott des Geschäfts und dem Untergang seiner Familie entgegen, verbunden mit der Schande und dem gesellschaftlichen Ansehensverlust. Aber er denkt auch an die Konsequenzen für seine Brüder, die, so wie er, unternehmerisch tätig sind und ständig nur grübeln und klagen. Als ältester Sohn nimmt er selbstverständlich die Verantwortung für ihr Wohl und Wehe auf sich. Des Öfteren fährt er in trübsinniger Stimmung nach Leipzig, um wieder einmal einem Bruder beizustehen, der ihm die Nachricht hat überbringen lassen, er stehe am Rand des Abgrunds, wolle aber, bevor er springe, den Rat der Familie, sprich: seines ältesten Bruders, einholen. Vatel unterstützt die Angehörigen gelegentlich finanziell, während Mutti dann, wenn sie davon erfährt, hyperventilierend auf der Couch liegt.

    «Was habe ich dir gesagt, bevor du gefahren bist? Wir haben doch darüber gesprochen! Und was tust du? Wie viel ist es diesmal? Wir müssen doch sowohl Stahlberg als auch Meyer & Meyer nächste Woche bezahlen! Und nie auch nur einen Pfennig Reserve. Und erst heute hat Frau Gumpel ihr Kleid zurückgebracht und wollte das Geld dafür wiederhaben!»

    «Das rote Kleid?», ruft Adolf, auch ein Versuch, die Aufmerksamkeit ein wenig von seinen Geschäften in Leipzig abzulenken.

    «Ja, das knallrote.» Mutti schluchzt dramatisch bei knallrote. Sie liegt lang ausgestreckt auf der Couch, eine Hand auf der Stirn, der andere Arm baumelt willenlos herab. Es war ein teures Kleid, fast ein Viertel vom Tagesumsatz.

    «Und weißt du, was sie gesagt hat?» Mutti richtet sich auf, stützt sich mit dem Ellbogen ab und sieht Vatel durchdringend an, um seine Aufmerksamkeit zu bannen. «Sie hatte ein blaues Auge und jammerte: ‹Wenn isch misch ma hübsch mache will, wird mee Mann immer gleich eifersischtik!› Er kann sich einfach nicht vorstellen, dass sie sich mal herausputzt, ohne gleich an einen Seitensprung zu denken.»

    Normalerweise nutzt Mutti diese Art Vorfälle dazu, die Familie damit zu unterhalten. Sie spielt eben gern komische Szenen im Geschäft nach und imitiert schwierige Kunden, mit dem dazugehörigen Tonfall und dummen Gesichtsausdrücken. Heinz hat es also von ihr. Nach dem Abendessen formt sie beispielsweise aus einer Apfelsinenschale eine Art Kunstgebiss, das sie ganz furchtbar aussehen lässt, und äfft Frau Gumpel nach: «Hoi, Frau Kalmann, was gibt’s Neues?»

    Mutti hat zwei Seiten, zwei entgegengesetzte Stimmungen. Normalerweise würde sie diese Gumpel-Anekdote ausführlich nachspielen und ausschmücken, doch wenn Vatel wieder einmal mit ihrem sauer verdienten Geld den Weihnachtsmann gespielt hat, verursachen Angst und Unsicherheit ihr körperliche und seelische Qualen: Hyperventilation, Migräne und Panikattacken. Und dann wird nicht über das blaue Auge von Frau Gumpel gelacht, das ihr ein eifersüchtiger Ehemann besorgt hat, sondern ausschließlich um die beunruhigenden Verkaufsergebnisse getrauert.

    Vatel und Mutti haben einen Geheimcode entwickelt, um miteinander über den Tagesumsatz zu kommunizieren. Alle anderen im Haus kennen diesen Code inzwischen auch, doch der Tagesumsatz interessiert sie eigentlich nicht. Meist fragt Mutti gleich, wenn er zur Tür hereinkommt: «Na, und?» Worauf er dann ein paar Worte sagt, bei denen der erste Buchstabe mit einer Zahl korrespondiert. «Feige Flaschen brechen», sagt er beispielsweise, und auch Lieschen weiß dann, dass es 662 bedeutet, aber nicht, ob nun 6,62 Mark oder 66,20 Mark umgesetzt worden sind. Ersteres scheint wenig für einen ganzen Tag, das Zweite wäre gar nicht schlecht, zumal wenn jeder der sechs Wochentage so endete.

    Heute allerdings hat Vatel sein finanzielles Kryptogramm umsonst vorbereitet. Denn sobald Mutti ihm in die Augen sieht, wirft sie die Hände verzweifelt in die Höhe, schnappt ein paarmal nach Luft und sagt langsam und scheinbar erschöpft: «Bertl muss auf der Stelle nach Hause kommen, er ist verrückt geworden. Ich weiß nicht, wo dein Sohn solche Sachen lernt!»

    Adolf Kalmann, kein Mann vieler Worte, kennt seine Lina gut genug, um jetzt zu schweigen: Alles, was er nun sagen würde, könnte und würde gegen ihn verwendet werden. Und es ist auch kein gutes Zeichen, dass Herbert jetzt plötzlich sein und nicht mehr ihrer beider Sohn ist.

    Er schaut in den Garten, will den Mund öffnen, um Herbert zu rufen, aber Mutti kommt ihm zuvor. «Würde er im Garten sein, wäre er dort schon nicht mehr.» Es stört sie nicht, dass das ziemlich unlogisch klingt, aber jetzt ist nicht die Zeit für Haarspalterei.

    Vatel schlendert zum Fußballplatz und sieht dort Herbert, Heinz und ein paar Kinder aus dem Viertel spielen. Herbert ist einer der Kleinsten, will aber vorzugsweise im Tor stehen. Ein Schuss, ein Sprung, mit ausgestreckten Armen den Ball in der Luft fangen, das Fliegen, schwerelos schwebend, dann langsam zu Boden sinken und währenddessen den Ball an den Körper ziehen und ihn fest gegen den Bauch drücken, wenn man die Erde berührt. Gehalten! Das passiert nicht so oft, aber den Film einer solch seltenen, aber fantastischen Rettungsaktion spult er nachts regelmäßig ab.

    «Bertl, hierher, sofort!», ruft Vatel mit einer Kopfbewegung Richtung Haus. «Deine Mutter schäumt vor Wut. Was hast du ausgefressen?» Er spürt, dass er etwas zu freundlich ist, als würde er sich bereits im Vorhinein auf die Seite Bertls schlagen. Damit muss er vorsichtig sein, um nicht selbst auf der Anklagebank zu landen.

    Bertl zuckt mit einem bedauernden Lächeln die Achseln. «Weiß nicht.» Er hat vielleicht eine Vermutung.

    Bertl ist im Hause Kalmann gewiss nicht derjenige, an den man als Ersten denkt, wenn es um Dummejungenstreiche geht. Eigentlich ist er mit seinen fünf Jahren ein ziemlich ernster und zurückhaltender Junge. Er ist auch der Einzige, der den Ernst der Lage beim Tagesumsatz mitempfindet, sich Sorgen macht, wenn die Bilanz die falsche Richtung nimmt, und über alles lange schweigend nachdenkt. Ein Kind seines Vaters.

    Die Renitenz seines Bruders Heinz macht ihn furchtbar unsicher. Er bewundert Heinz, aber Mutti und Lieschen sind erwachsen und somit die oberste Autorität. Wenn Heinz etwas tut, das ausdrücklich verboten ist – «Vor dem Essen wird nicht von den Kirschen gegessen, die sind für den Nachtisch», Heinz aber trotzdem nachmittags Kerne spuckend in den Garten spaziert –, ruft Herbert entsetzt: «Was hat denn Mutti gesa-g-t?!» Vor allem die beiden mit besonderer Betonung ausgesprochenen Konsonanten machen Heinz rasend. Er tut dann so, als wolle er seinem Bruder einen Klaps geben, lässt seine geöffnete Hand jedoch knapp über seinem Kopf vorbeisausen. Herbert zuckt zusammen. Er möchte Heinz nicht verraten, aber auch nicht der bravste Junge aus der Klasse sein. Er möchte einfach, dass alles in Ordnung und im Gleichgewicht ist, und dafür müssen sich alle an die Regeln halten.

    Aber jetzt hat er selbst dagegen verstoßen. Nicht aus Ungehorsam, sondern aus Neugier und dem Wunsch, schneller erwachsen zu werden. Oder zumindest, um zu den Großen zu gehören.

    «Na, was haste denn g’macht?», dringt Vatel, der schon eine Vorahnung hat, in ihn. Sicher hat er nicht nur ein Bonbon geklaut, dann wäre seine Mutter nicht so aufgebracht.

    «Ich habe Tante Gussi ‹ein Rindvieh› genannt.» Herbert blickt dabei ein wenig zweifelnd drein, als würde er es selbst nicht so recht glauben. Herbert, das brave, verantwortungsbewusste, erwachsene Kind.

    «Was?!» Vatel schreit fast, doch eher aus Verwunderung denn aus Wut. Doch da sind sie schon im Garten angelangt, wo Lina Kalmann sie erwartet, die Hände in die Hüften gestemmt wie die Persiflage auf eine wütende Mutter, die im Begriff steht, ihr Kind zusammenzustauchen.

    Bertl hängt sehr an seiner Tante Gussi. Sie ist die jüngere Schwester von Mutti und wohnt bei ihnen im Haus, auf der zweiten Etage. Gussi Gerson ist eine außerordentlich hübsche und intelligente junge Frau. Sie hat so viele Verehrer, dass sie beschlossen hat, ihren Jungesellinnenstatus vorläufig beizubehalten, um ihr buntes und aufregendes Leben noch eine Weile weiterführen zu können, sich nicht binden zu müssen und, vor allem, die schwierige Entscheidung für den einzig Wahren so lange wie möglich hinauszuschieben. Auswahl an Männern gibt es genug, sie hat an jedem Finger wohl fünf, wenn man sich die vielen Kärtchen mit Einladungen und Gedichten ansieht, die in großer Zahl für sie abgegeben werden. Wer hat da schon Eile?

    Bertl mag seine Tante sehr, und das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit. Nach der Schule schaut er fast immer erst bei Tante Gussi vorbei, hält ein kurzes Schwätzchen mit ihr, bekommt meist ein Bonbon und einen Kuss oben auf den Scheitel, bevor er zufrieden wieder in die elterliche Wohnung hinuntersteigt. Aber heute ist es anders gelaufen, heute hat er zu ihr gesagt: «Du bist ein Rindvieh!»

    Erwachsene hat er das Wort schon so oft sagen hören, entweder zu- oder übereinander. Etwa Mutti im Geschäft über Herrn Jens, selbstverständlich außer Hörweite, wenn dieser wieder einmal alle Stoffe vom Ballen gewickelt mit nach draußen ans Licht nehmen will und schließlich doch nichts kauft. Während der Schneider das Geschäft verlässt, murmelt Mutti ihm ein «Rindvieh!» hinterher. Und sie sagt es, wenngleich sehr selten, auch zu Vatel, wenn die Verzweiflung über die geschäftliche Situation wieder einmal einen Höhepunkt erreicht und Vatel auf nichts mehr reagiert.

    Herbert weiß, dass es schlimm und verboten ist, jemanden ein «Rindvieh» zu nennen, dass man es aber ab einem bestimmten Alter durchaus sagen kann und darf. Heinz und seine Freunde reden sich unablässig mit «Rindvieh» an, und darauf wird dann meist mit Knüffen und Gelächter reagiert. «Rindvieh» ist doch eigentlich nichts anderes als eine Kuh, und er begreift nicht, warum es tabu sein soll, das Wort zu benutzen. Darf man, wenn man jünger als zehn ist, auch niemanden eine Kuh nennen? Darf man überhaupt eine Kuh eine Kuh nennen, wenn man ein Kind ist?

    Werner, sein bester Freund, sagte neulich auf dem Fußballplatz zu Herbert: «Du bist ein Hund.» Dabei sah er ihn herausfordernd und ein wenig sensationslüstern an. Herbert wusste nicht genau, was von ihm nun erwartet wurde. War dies der Moment, um mit Werner kämpfen oder ihm zumindest einen Klaps geben zu müssen, oder sollten sie jetzt beide in Lachen ausbrechen? «Ihr seid Juden, und Juden sind Hunde.» Werner schaute dabei ein bisschen betrübt drein. «Das sagt mein Vater.» Dieser Zusatz sollte einerseits den Wahrheitsgehalt der Aussage unterstreichen und Werner andererseits der Verantwortung für seine Bemerkung entheben.

    Bertl hat schon häufiger Bemerkungen über Juden gehört, doch der Vergleich mit einem Hund überzeugt ihn nicht und scheint ihm, falls er als Beleidigung gedacht ist, auch nicht besonders gut gewählt zu sein. Frau Gumpel hat beispielsweise ein junges Hündchen, das sehr nett und lustig ist. Bertl spielt immer mit ihm, wenn Frau Gumpel Kleider und Schuhe anprobiert. Also hat er es diesmal dabei bewenden lassen, und Werner scheint erleichtert gewesen zu sein, dass die Angelegenheit keine Folgen für ihr Fußballspiel hatte.

    Ein anderes altersgebundenes Tabu ist das Abbrennen von Streichhölzern. Das ist ihm, Bertl, unter Androhung schwerster Strafen bei Missachtung, ausdrücklich verboten worden. Aber jeder brennt Streichhölzer ab. Sogar Heinz zündet damit im Wohnzimmer die Kerzen an. Also hat Bertl mal eine Schachtel Streichhölzer mit auf den Spielplatz genommen und dort eines angezündet. Und wenn es erst einmal brennt, weiß er auch, dass er aufpassen muss, sich nicht die Finger zu verbrennen. Lieschen schüttelt immer die Hand mit dem Streichholz kräftig hin und her, wenn die Flamme fast ihre Finger erreicht hat, während Vatel das Streichholz früh genug zum Mund führt und die Flamme ausbläst. Heinz lässt das Streichholz draufgängerisch etwas zu weit herunterbrennen und wirft es dann – noch brennend – in einem riskanten Bogen in den Aschenbecher. «Heinz!», sagt Vatel dann nur ermahnend. Doch obwohl Bertl wegen seines Alters noch keine Streichhölzer anzünden darf, klappt es auf dem Fußballplatz ohne Komplikationen. Er lässt das fast abgebrannte Zündholz einfach auf den Boden fallen und stellt den Fuß darauf.

    Nach der Schule geht er zuerst bei Tante Gussi vorbei, berichtet pflichtgemäß, was er heute gelernt hat, ist aber nicht ganz bei der Sache, weil er sich vorgenommen hat, den nächsten Schritt hin zum Erwachsenwerden zu setzen. Tante Gussi merkt ihm etwas an. «Was ist los, Bertl, wo bist du nur mit deinen Gedanken?»

    Er blickt ihr fest in die Augen und sagt: «Tante Gussi, du bist ein Rindvieh!»

    Gussi sieht ihn einen Moment fassungslos an, macht einen Schritt rückwärts und ruft: «Bertl!»

    Herbert spürt sofort, dass sein Ausspruch nicht gut ankommt, flüchtet aus dem Haus und rennt zum Fußballplatz, wo Werner mit einem Grinsen auf ihn wartet. «Heute sind wir zwei gegen zwei, Juul und Marit kommen auch!» Marit ist ein neunjähriges, für ihr Alter schon ziemlich großes Mädchen und die bei Weitem beste Fußballerin der vier.

    Gussi ist erschüttert über den Vorfall und beschließt, ihre Schwester zu informieren. Nicht, um zu petzen, sie nimmt es Bertl auch nicht übel, aber aus pädagogischen Gründen scheint es ihr doch gut, wenn Lina Kenntnis davon hätte. Aber Mutti ist angespannt, nicht nur wegen ihres Zanks mit Lieschen, sondern vor allem wegen des «Getues», wie sie es nennt. Das Getue wird immer bösartiger. Es hat immer schon einen auf den ersten Blick unschuldig wirkenden Antisemitismus in der Gemeinschaft gegeben, einen Antisemitismus, der sich meist in Scherzen und Bemerkungen über ihren vermeintlichen Wohlstand äußert. «Ja, bei euch Juden herrscht natürlich kein Mangel, aber meine Kinder laufen mit Löchern in den Strümpfen herum.»

    In letzter Zeit werden diese Scherze und Bemerkungen allerdings grimmiger. Herr Rupprecht etwa hat neulich beim Bäcker verkündet, dass man nicht mehr bei Juden kaufen solle – Lieschen hat es von einer Bekannten gehört. Obwohl sich Herr Rupprecht seinen Pfeifentabak weiterhin im Kaufhaus Kalmann holt, empfindet Mutti eine verzweifelte Ohnmacht, wenn sie solche Geschichten hört. Ihren Kampf um die wirtschaftliche Existenz und das Überleben ihrer Familie wird sie gewinnen, aber der Kampf gegen das «Getue» hat eine ganz andere Qualität.

    Herbert wird – wie in einer schlechten Komödie – an einem Ohr ins Wohnzimmer gezerrt. Eine große Ausnahme, denn Lina Kalmann erhebt ansonsten nie die Hand gegen ihre Kinder. Aber die Anspannung hat sie an ihre Grenzen gebracht.

    Mit einem vor Schmerz und Verzweiflung verzerrten Gesicht sieht Bertl die Anwesenden an. Ob er denn vollkommen verrückt geworden sei, seine eigene Tante Gussi, was habe ihn nur dazu getrieben? Bertl erkennt, dass es zu weit führen würde, beim Streichholzexperiment oder dem «Juden sind Hunde»-Ausspruch zu beginnen. Er sieht während seiner Befragung auch selbst den Zusammenhang nicht mehr. Auf die Aufforderung hin: «Und, was hast du dazu zu sagen?», beschließt er, es mit Weinen zu probieren, denn das hat ihn schon so manches Mal gerettet.

    «Adolf», schnauzt Mutti, «sag du doch auch mal was!»

    Doch Vatel geht Konfrontationen im Allgemeinen lieber aus dem Weg und entledigt sich der Aufforderung mit einem «Na, Bertl, dass mir das nicht noch mal passiert!» Er versucht, es ein wenig streng klingen zu lassen, was ihm jedoch nicht recht gelingt, setzt sich auf die Couch und greift zur Zeitung.

    Aber Mutti ist noch lange nicht mit Bertl fertig. «Du gehst jetzt nach oben und entschuldigst dich bei deiner Tante. Und dann hoffen wir mal, dass du irgendwann, vielleicht, noch einmal bei ihr zu Besuch kommen darfst.»

    Mit einem «Los jetzt!» und einem Klaps auf den Hintern wird er nach oben gescheucht. Zwei Minuten später kommt er zurück und setzt sich schweigend auf die Armlehne der Couch. Plötzlich geht die Tür auf. Tante Gussi steht im Raum, die Augen geweitet.

    «Na?», fragt Mutti.

    «Er ist gekommen und hat gesagt: ‹Entschuldige, dass du ein Rindvieh bist›!», antwortet ihre Schwester.

    Einen Moment lang herrscht verdutztes Schweigen. Vatel hebt die Zeitung etwas in die Höhe, sodass sein Gesicht dahinter verschwindet. Gussi presst die Lippen aufeinander, die Augen noch immer weit geöffnet, und Mutti verzieht das Gesicht zu einer gequälten Grimasse. «Bertl, raus! Ab in dein Zimmer!», ruft sie mit einer sonderbar hohen Stimme und schlägt die Hände vors Gesicht. Sie knallt die Tür hinter Bertl zu, dreht sich um und lehnt sich mit dem Rücken an die Tür. Dann sinkt sie zu Boden, umfasst mit den Armen ihre Knie, und man hört leise, krächzende Geräusche, bis sie sich nicht mehr beherrschen kann, in schallendes Gelächter ausbricht und durch das Wohnzimmer marschiert. Ihr Oberkörper bewegt sich vor und zurück, das Gesicht dabei zur Zimmerdecke gerichtet. Vatel sitzt noch auf der Couch, die Zeitung vor sich ausgebreitet, und schüttelt sich ebenfalls vor Lachen, die Tränen laufen ihm über die Wangen.

    Lina Kalmann macht plötzlich eine zierliche Verbeugung vor Gussi, ihrer hübschen, jungen Schwester, und sagt – eine Hand auf dem Rücken, die andere auf dem Bauch – mit einem kleinen Knicks in affektiertem Hochdeutsch: «Entschuldige, dass du ein Rindvieh bist.»

    Die Familie Kalmann aus Weißenfels adoptiert dieses geflügelte Wort und fügt es dem bescheidenen Familienkapital hinzu, mit dem sie später durch Europa zieht.

    Und von diesem Augenblick an murmelt Mutti, später auch Vatel und der Rest, allen voran natürlich Heinz, aber auch Lieschen und Gussi, bei schwierigen Kunden und störrischen Beamten, bei Nachbarn, die plötzlich nicht mehr grüßen, aber auch bei den furchteinflößenden jungen Männern in braunen Hemden – später in Uniform, der grünen und blaugrauen, stolze Träger von Totenköpfen, Adlern und Hakenkreuzen an Uniform oder Mütze –, Schwarzhändlern und Profiteuren, mit den Nazis kollaborierenden Polizisten und Lagerwachen: «Entschuldige, dass du ein Rindvieh bist.» Sie alle werden mit dieser Verwünschung bedacht, ob sie es nun hören können oder nicht.

    NECKARGMÜND 1926

    «Mutti?» Ursula Borchardt ist auf dem Weg zum Schlafzimmer ihrer Mutter, wo sie seit Tagen nicht mehr war. Peps hat nämlich gesagt, dass sie Mama in Ruhe lassen muss, wenn sie schläft, aber Peps ist nicht da – er ist fast nie da –, und Uschi muss ihrer Mutter etwas erzählen.

    Eigentlich möchte sie sich ausweinen über das, was heute in der Schule passiert ist. Aber erst will sie alles erzählen, die ganze Geschichte, will sie ihrer Mutter erklären, und erst wenn ihre Mutter dann sagt: «Ach Uschi, Kleines, komm mal zu Mama», wird sie anfangen zu weinen. Sie wird ihre Wange an die Brust ihrer Mutter legen, an die rechte, weil Mutti an der linken oft eine Brosche trägt, einen hübsch geflochtenen Kranz aus Gold, umgeben von kleinen, rot funkelnden spitzen Steinen, die unangenehm kratzen, wenn man die Wange dagegen drückt. An ihrem Nachthemd trägt die Mutter ihre Brosche natürlich nicht, aber Ursula entscheidet sich automatisch immer für die andere Seite, dann kann nichts schiefgehen.

    Lotte Borchardt also wird ihre Tochter sicher gleich an sich drücken, sie sanft wiegen und auf den schwarzen Haarschopf küssen. Sie wird ihren Kopf an den ihrer Tochter schmiegen, die Wange auf die schwarzen Locken legen. Uschi wird weinen, kurz, aber leidenschaftlich. Die Geschichte fällt ihr Stück für Stück aus dem Mund, wie zerbröselte Worte, Fetzen, ein fast gänzlich von Mäusen zerfressener Text. «Ja, ich weiß, Kleines, ich weiß, ich weiß», wird Lotte in singendem Tonfall sagen. Die letzten, schluchzenden Worte sind unter dem Arm ihrer Mutter kaum noch zu verstehen. Lotte wird ihre Tochter an den Schultern fassen, sich sanft von ihr lösen, sie mit schräg gelegtem Kopf ansehen und ihr mit der Außenseite des kleinen Fingers eine Träne abwischen. Uschis liebe, schöne Mutter. Ihre elegante Mutter. Und sie wird sagen: «So, jetzt werden wir die Tränchen trocknen und schauen, was Hedwig sich zum Abendessen überlegt hat.»

    Doch auf dem Weg zum Schlafzimmer begegnet ihr Hedwig, die, als sie Ursula sieht, nur ein abfälliges Schnauben hören lässt. Hedwig lehnt das dekadente und skandalöse Verhalten der jungen Frau des Hauses offen ab. Bis vier Uhr nachmittags im Bett bleiben! Diese verdammte Künstlerfamilie. All die merkwürdigen Schrullen, und was das kleine Mädchen angeht: einfach unverantwortlich. Keinerlei Zucht und Ordnung. Es ist jeden Tag eine Überraschung, wer gerade zu Hause ist, ob der Herr «berühmte Schriftsteller» sich überhaupt noch mal um irgendetwas kümmert und die sehr junge Frau Lotte Borchardt zum Abendessen erscheint. Und dann das Mädchen, von dem keiner mehr weiß, wo es eigentlich zu Hause ist. Mal lebt es bei Mu, der Ex des Herrn in Heidelberg, die es offenbar ohne Groll in ihre Familie aufgenommen hat, dann wieder, wie jetzt, bei Doktor Braunschweig in Schlierbach, wo es am Familienleben teilnimmt, als ob es sein eigenes Kind wäre. Ohne dass man ihr, Hedwig, irgendetwas erzählen, geschweige denn sie nach ihrer Meinung fragen würde. So ist es ihr natürlich unmöglich, auch nur das Geringste zur Erziehung der kleinen Uschi beizutragen, was in den vorigen Haushalten, in denen sie gedient hat, zu einer ihrer wichtigsten Aufgaben, wenn nicht sogar der wichtigsten gehörte. Die Sechsjährige braucht Halt, Ordnung und Disziplin.

    Hedwig geht seufzend und kopfschüttelnd in die Küche, während Uschi die Treppe in den zweiten Stock hinaufsteigt, wo ihre Mutter seit einiger Zeit schläft und einen Großteil ihrer Zeit verbringt.

    Anfang Februar. Eigentlich ist der Tag schon fast wieder vorbei. Die Sonne hat es bis zum Abend nicht geschafft, den nassen, grauen Nebel zu durchbrechen und die frostigen Straßen etwas zu wärmen. Nach dem kalten Vormittag hat sie auch den Nachmittag übersprungen und scheint die Herrschaft nun an die nächste eiskalte Nacht übergeben zu wollen, ohne den durchgefrorenen Fußgängern die Gelegenheit zu geben, sich ein wenig aufzuwärmen. Selbst das Licht tagsüber scheint Kälte auszustrahlen. Die Wintermäntel bleiben fest geschlossen, und die Kragen werden hochgeschlagen, die Kinder ziehen ihre Mützen tief ins Gesicht und wickeln sich ihre dicken Wollschals doppelt um den Hals.

    Nach der Schule geht Uschi nicht zu Doktor Braunschweig, bei dem sie seit einigen Tagen mehr oder weniger wohnt, sondern zu sich nach Hause, weil sie ihre Mutter sehen muss. Sich auszuheulen ist nur bei der eigenen Mutter möglich. Peps zufolge ist ihre Mutter krank und braucht Ruhe. Doch vorgestern, als sie am Fußende des Bettes ihrer Mutter saß, schien diese gar nicht wirklich krank zu sein. Eher sehr, sehr traurig und kleiner als sonst. Sie hustete nicht und hatte auch kein Fieber oder Durchfall.

    Bei den seltenen Gelegenheiten, an denen sie noch zusammen essen, nimmt ihre Mutter fast nichts mehr zu sich. Es scheint ihr nicht zu schmecken. Den Ellbogen auf den Tisch gestützt, lässt sie die Gabel herabbaumeln und zeichnet damit geistesabwesend einen Pfad zwischen dem Blumenkohl und den Kartoffeln. Ihre Bewegungen sind langsamer als sonst, aber weil sie weder Fieber noch Schmerzen zu haben scheint, wagt es Ursula, auch wenn sie damit ein wohltuendes Mittagsschläfchen stört, das Verbot ihres Peps zu ignorieren und das Schlafzimmer ihrer Mutter zu betreten.

    «Peps» ist ihr Vater Georg Borchardt. Als Schriftsteller ist er unter dem Pseudonym Georg Hermann bekannt. Seit dem Riesenerfolg seines Romans Jettchen Gebert aus dem Jahr 1906 gehört er zur Crème de la Crème der literarischen und künstlerischen Kreise Deutschlands. Sein Roman wird ins Englische, Französische, Niederländische, Dänische, Finnische, Schwedische, Russische und Hebräische übersetzt. Die darin geschilderte Familiengeschichte, die im Biedermeier-Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts spielt, hat sich allein in Georg Hermanns Heimat mehr als 275000-mal verkauft, wurde verfilmt und diente als Grundlage für Theaterstücke. In der deutschen Literatur wächst in jenen Jahren eine nostalgische Sehnsucht nach Zeiten, in denen die gesellschaftlichen Verhältnisse noch übersichtlich und solide waren und alteingesessene Familien zu enormem Reichtum und Status gelangen – aber auch zugrunde gehen konnten. Die Biedermeierzeit, die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, bietet dafür ein wunderbares Dekor. Thomas Manns Buddenbrooks sind bereits ein Riesenerfolg, und Jettchen Gebert steht dem in nichts nach.

    Alles womöglich Vorboten einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzung? Wer liest schon gern etwas über eine anarchische Welt voller Unsicherheit? Bevorzugt man nicht Geschichten über eine Welt, in der die Probleme ausschließlich einer kleinen Gruppe vorbehalten sind und das Leben für den Rest der Menschheit noch übersichtlich und wenig bedrohlich wirkt?

    Georg Hermann ist in jenem Jahr fast ununterbrochen unterwegs, um seine Bücher zu bewerben. Er hält unzählige Lesungen aus seinem Werk im In- und Ausland und ist bei großen Literaturveranstaltungen zu Gast. 1909 gründet er mit dem Schutzverband Deutscher Schriftsteller einen Verein, der Rechtsschutz bei staatlichen Eingriffen in das literarische Schaffen bieten soll. Die Einflussnahmen des Staates, die immer offener sichtbar werden, will man mit juristischen Mitteln bekämpfen. Hermanns berühmter Schriftstellerkollege und Freund Thomas Mann wird sofort Ehrenmitglied des Verbands, der dadurch einen seriösen und respektablen Anstrich bekommt.

    Georg Hermann nimmt kein Blatt vor den Mund. Er ist ein bekennender Pazifist und bekundet 1926 öffentlich seine Gegnerschaft zum aufkommenden Nationalsozialismus. Die faschistische Gefahr bekämpft er mit seiner mächtigsten Waffe, der Feder, ein intellektuelles Spiel, das Hermann perfekt beherrscht. In den wichtigsten deutschen Zeitungen veröffentlicht er im Namen des Schutzverbands scharfsinnige Artikel: analytisch, schlagfertig, listig und zudem derart unterhaltsam, dass jedermann auch seine politisch engagierten Beiträge verschlingt. Sein Humor ist nicht zynisch, sondern raffiniert. Er schreibt immer wieder seitenlange Gastbeiträge in der Neuen Zürcher Zeitung und wird in die Schweiz eingeladen, um eine öffentliche Vorlesung an der Universität Basel zu halten. Auch wird er von Radio Beromünster interviewt und liest dort aus seinem Werk. Ähnliches spielt sich in Österreich ab. Hermann kann es nicht übers Herz bringen, auch nur eine einzige Einladung auszuschlagen. Sein Erfolg liegt im Hier und Jetzt, zu Hause herumsitzen und Dahlien züchten kann er immer noch. Er muss seinen Erfolg jetzt nutzen, sowohl finanziell als auch spirituell.

    Auch französische Zeitungen bringen seine Artikel, weil es ihm darin immer wieder gelingt, seine Gedanken umfassend und verständlich darzulegen. So hofft man in Frankreich, die drohenden Entwicklungen in Deutschland besser zu begreifen. In Paris leben inzwischen so viele aus Deutschland emigrierte Schriftsteller und Künstler, dass Hermanns Artikel gelegentlich nicht einmal mehr ins Französische übersetzt werden und in einer Zeitschrift erscheinen, die von diesen intellektuellen Flüchtlingen – und für sie – gegründet worden ist.

    Hermann nimmt den Zug nach Paris, um an einem Diskussionsabend teilzunehmen. Sein Rückweg führt ihn über die Niederlande, wo er seinen Freund und Verleger Emanuel Querido besucht.

    Durch den Erfolg von Jettchen Gebert fangen auch seine älteren Werke an, sich wieder zu verkaufen. Er ist inspiriert und fühlt sich motiviert, jede freie Minute hinter seiner Adler-Schreibmaschine zu sitzen, um an seinem nächsten Buch zu arbeiten. Er nutzt seine Zeit und lässt sich unermüdlich vorwärtstreiben, solange es ihm vergönnt ist, ergreift jede sich bietende Gelegenheit, nicht zuletzt auch, weil er vor seinem Durchbruch in relativer Armut gelebt hat und nun die zusätzlichen Einnahmen nur zu gern hereinströmen sieht – es werden auch wieder andere Zeiten kommen. Sparen, um irgendwann einmal in Ruhe schreiben zu können.

    Er ist kein wirklicher Familienmensch. Wenn er zu Hause ist, schenkt er Uschi seine Aufmerksamkeit, meist spontan und sehr intensiv, doch dann ist es damit ganz plötzlich auch schon wieder vorbei. Wie bei einem Puppenspieler, der die Kinderschar eine Viertelstunde lang vor Vergnügen kreischen lässt. Doch sobald die Geschichte zu Ende ist, zieht sich der kleine Vorhang wieder zu.

    Hermann ist Künstler. Er versucht, das Äußerste aus seinem Talent, seinem Ruhm und nicht zuletzt aus der Anziehungskraft herauszuholen, die er trotz seines Alters noch auf oft sehr viel jüngere Frauen ausübt. Zwar ist er schon fünfundfünfzig, aber sehr charmant, und er sieht trotz leichten Übergewichts stets wie aus dem Ei gepellt aus.

    Er findet, Monogamie sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, auch wenn er das nicht laut sagt. Man lebt nur einmal und das auch viel zu kurz, um nicht hin und wieder den Wein aus einem anderen Schlauch zu kosten, auf dem Weg nach Hause noch irgendwo einen Zwischenstopp einzulegen oder herauszufinden, was eine andere Frau bei ihm auslöst. Er mag Martha sehr, noch immer, ist aber vor sechs Jahren den Reizen der bildschönen Lektorin seines Verlegers Ullstein in Berlin erlegen. Lotte ist fünfundzwanzig Jahre jünger als er, aber sehr klug – und kann Hermann auch sonst das Wasser reichen.

    Gleich bei der ersten Begegnung mit dem berühmten Schriftsteller verliebt sie sich in ihn, und sie braucht nur wenige Signale auszusenden, um Hermann dahinschmelzen zu lassen – er ist sofort hingerissen von dieser eleganten Schönheit. Es schmerzt ihn, seine liebe, treue Martha zu betrügen, die aufopferungsvoll für ihre drei gemeinsamen Töchter sorgt, doch Lotte begleitet ihn immer öfter auf seinen Reisen, und die beiden erleben märchenhafte Nächte in entlegenen Hotels. Die Heimlichkeit seiner Eskapaden macht die Sache für ihn nur noch aufregender. Allerdings ist er auch nicht der Mann, seine große Liebe im Stillen auszuleben: Nach ein paar Monaten beichtet er Martha seine Affäre und lässt sich von ihr scheiden. Er nimmt alle Schuld auf sich – ohne den Nachweis der Schuld einer der beiden Ehegatten kann eine Ehe in Deutschland nicht geschieden werden – und akzeptiert als Ausgleich dafür großherzig, aber vielleicht unbedacht die Zahlung des Unterhalts für die Mädchen. Sieben Monate nach der Eheschließung mit Lotte wird Ursula geboren.

    Man mietet das Haus in Neckargmünd, wo er mit Lotte und seiner kleinen Tochter einzieht, er selbst ist jedoch häufig auf Reisen. Lotte bekommt eine Haushaltshilfe an die Seite gestellt, die sich auch um Ursula kümmert. Obwohl Lotte eine sehr liebevolle Mutter ist, ist ihr diese Rolle nicht gerade auf den Leib geschrieben, und sie überlässt die Erziehung ihrer Tochter lieber der Hauswirtschafterin, die bei ihnen im Haus wohnt. Lotte ist jung und möchte noch nicht ans Haus gebunden sein, deshalb begleitet sie Hermann in den ersten Jahren ihrer Ehe auch auf vielen seiner Reisen, genießt das Leben im Scheinwerferlicht, die Empfänge und die Diners. Und Hermann genießt die Bewunderung, die man seiner bildschönen jungen Frau entgegenbringt.

    Doch Georg Hermann ist trotzdem nicht monogam und wird es auch niemals sein. Für ihn haben seine kleinen Abenteuer keinerlei Einfluss auf seine bedingungslose Liebe zu Lotte. Für ihn sind es Ausflüge, so wie man gelegentlich in die Kneipe geht, auf einer Rundreise eine Fahrt im Riesenrad unternimmt oder den Zoo oder ein Museum besucht. Diese Ausflüge hält er um des lieben Friedens willen so geheim wie möglich. Denn wem nützt es schon, wenn er alles seiner Frau beichten würde? Die Sache geht auch eine Weile gut, aber irgendwann fährt jedes Schiff, das von einem trunkenen Kapitän gesteuert wird, gegen die Klippen. Notorische Untreue und blindes Vertrauen ins Gelingen, die zunehmende Last, sich all die vielen Lügen merken zu müssen – auf die Dauer verliert Fortuna die Lust, ein solches Gebilde aufrechtzuerhalten.

    Hedwig, die Hauswirtschafterin, wohnt jetzt ein Jahr bei ihnen. Sie tritt ihren Dienst an, nachdem Else, ihre Vorgängerin, infolge eines Skandals entlassen wurde. Bei Fräulein Else handelte es sich um eine blonde, einundzwanzigjährige Frau vom Land, nicht besonders hübsch, aber doch attraktiv genug, um dem Hausherrn aufzufallen.

    Lotte und Hermann schliefen da schon getrennt voneinander, weil Hermann sich im Laufe der Zeit immer mehr in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte. Wenn er zu Hause war, stand er nachts häufig auf, um zu arbeiten, und wollte die Nachtruhe seiner Frau nicht stören. Fräulein Else teilte ihr Zimmer mit der fünfjährigen Ursula, und das führte eines Morgens beim gemeinsamen Frühstück zu einem sehr unerquicklichen Vorfall.

    In Gegenwart aller Beteiligten fragte Uschi, warum Else eigentlich so oft mitten in der Nacht aufstehe, sich die Nase und die Wangen pudere und dann für längere Zeit verschwinde …

    Die Folge war betretenes Schweigen. Hermann schmierte mit langsamen, konzentrierten Bewegungen Butter auf seinen Toast und versuchte so, Zeit für den rettenden Einfall zu gewinnen, etwa in schallendes Gelächter auszubrechen und zu sagen: «Ha ha, es war nur ein Scherz. Kindermund!» Doch als das Kratzen mit dem hübsch gearbeiteten silbernen Buttermesser auf dem Toast aufhörte, blieb es eisig still am Frühstückstisch. Lotte hatte den Blick gesenkt und sah auf ihren Schoß: Jetzt wusste sie, was sie schon immer geahnt hatte. Fräulein Else sah Ursula mit großen Augen an, als wollte sie sagen: Aber du schläfst doch, wenn du schläfst? Vielleicht hoffte sie, dass das Mädchen die Frage zurücknehmen würde. Man konnte ein Kind von fünf Jahren doch nicht ernst nehmen?

    Hermanns Blick ruhte auf seinem Toast, dann sah er sich auf dem Tisch um: Marmelade oder Honig? Der beredsamste Mann Deutschlands war sprachlos. Sein Blick blieb an dem üppig bemalten Porzellanschälchen mit der Orangenmarmelade hängen, selbst gemacht von seiner Ex-Frau Martha mit kleinen Stücken Orangenschale darin, die dem Ganzen die leicht bittere Note als Kontrast zur Süße des Restes gaben. Martha brachte sie noch immer vorbei, weil sie wusste, dass Peps sie liebte. Hermann schien darüber nachzudenken, mit hochgezogenen Augenbrauen und gespitzten Lippen. Er blickte über den Tisch hinweg in den Garten, so als wäre ihm gerade ein Gedanke gekommen, den er unbedingt festhalten müsse – wie ein drittklassiger Schauspieler, der beim Vorspielen gebeten wird, doch einmal sinnend dreinzuschauen.

    Uschi blickt gebannt von einem zum andern, weil sie keine Ahnung hat, weshalb ihre Frage dieses plötzliche Schweigen verursacht und Peps zwar Butter auf seinen Toast geschmiert hatte, ihn dann aber nicht aß. Und warum hatte ihre Mutter bloß den Atem angehalten?

    Die Szenerie war wie eingefroren, und abgesehen vom Ticken der vielen Biedermeieruhren im angrenzenden Wohnzimmer war es still. Das Schweigen hielt an, bis es nicht mehr auszuhalten war und fast schon lächerlich wirkte. Da sprang Lotte plötzlich auf, knallte den Stuhl hinter sich an die Wand, stürzte aus dem Raum und rauschte leichtfüßig die zwei Treppen zu ihrem Zimmer hinauf.

    «Ach ja!», sagte Hermann, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen, das dringend seine Aufmerksamkeit erforderte. Er tupfte sich den Mund mit der Serviette ab, stand auf und verließ mit ruhigen Schritten das Esszimmer.

    Fräulein Else überlegte kurz, ob sie das stumpfe Buttermesser nehmen und Ursula mit ein paar gezielten Stichen die Augen ausstechen oder die Treppe hinaufrennen und die Dame des Hauses erwürgen sollte. Oder gleich das ganze Haus in Brand setzen? Doch stattdessen vergrub sie ihr Gesicht in der Serviette und weinte mit langen Schluchzern. Dabei zuckten ihre Schultern, und ihre voluminösen Brüste wogten ein wenig verzögert mit.

    Über den Vorfall sprach man nicht mehr, und Else wurde auf die Straße gesetzt. Lotte händigte ihr den letzten Wochenlohn aus, nicht brüsk, sondern eher entschuldigend. Else nickte ihrer Arbeitgeberin verständnisvoll und ermunternd zu, als sie das Haus verließ. Beiden war klar, dass sie den Kürzeren gezogen hatten.

    Hermann versuchte danach, sich so zu verhalten, als wäre nichts geschehen. Er war noch immer verrückt nach Lotte, durfte es ihr aber nicht mehr sagen: Sie wurde rasend vor Wut und warf ihn sofort aus dem Zimmer, falls er es dennoch waglte. Er suchte sie zwar noch hin und wieder auf, um seinen ehelichen Pflichten nachzukommen, doch sie fanden beide kein Vergnügen mehr daran. Lotte ließ ihn um des Friedens willen gewähren. Oder vielleicht auch aus Bequemlichkeit, aus Angst vor großen Veränderungen, die für sie und ihre Tochter sicher keine Vorteile bringen würden. Sie ging kaum noch mit ihrem Mann auf Reisen und ließ sich nur noch bei großen Empfängen gemeinsam mit ihm sehen. Und zu Hermanns größtem Verdruss gehörten die romantischen Nächte in entlegenen Hotels und Schlafwagenabteilen der Vergangenheit an.

    Die Tatsache jedoch, dass sie nun zu Hause bleiben und mitansehen musste, wie ihr Mann unvermindert auf Tournee ging, legte sich wie ein dunkler Schleier

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