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Lavendel ist blau
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eBook325 Seiten4 Stunden

Lavendel ist blau

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Über dieses E-Book

Lavendel ist blau ist nicht nur der Entwicklungsroman eines musikalisch hochbegabten Mädchens, sondern auch die Geschichte vom hässlichen Entlein, das sich nirgendwo zugehörig fühlt. Erst nachdem Ricarda gelernt hat, zu sich und zu ihrer Begabung zu stehen, kann sie sich in einen Schwan verwandeln. Sie nimmt an der Musikhochschule ein Studium auf und findet dort in anderen Studenten, mit denen sie zusammen musiziert, ihre Wahlverwandtschaft. Mit der Liebe zu dem jungen polnischen Geiger Filip wird sie endgültig erwachsen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum26. Sept. 2016
ISBN9783734554797
Lavendel ist blau
Autor

Brigitte Halenta

Brigitte Halenta hat bis 2010 als Psychotherapeutin in eigener Praxis gearbeitet. 2000 erhielt sie für das Drehbuch „Lavendel ist blau“ den Förderpreis der Gesellschaft zur Förderung audiovisueller Werke Schleswig-Holstein. Im März 2007 erschien ihr Roman "DIE BREITE DER ZEIT" stark gekürzt im Orlanda Verlag, Berlin. Seitdem veröffentlichte sie Kurzprosa in Literaturzeitschriften. Die 1. Neuauflage des Romans "DIE BREITE DER ZEIT" erschien 2015 in ungekürzter Form als E-Book . 2016 folgten die Romane "DAS LETZTE WORT HAT DOROTHEE", "LAVENDEL IST BLAU" und "DER EINE". Alle Romane sind inzwischen nicht nur als E-Book, sondern auch als Taschenbuch und Hardcover erhältlich. Anfang 2017 erschien der Roman "EMILIA SCHLIEßT EINE TÜR" und die 2. Neuauflage der Romane "DAS LETZTE WORT HAT DOROTHEE" und "DIE BREITE DER ZEIT" ungekürzt als Taschenbuch, Hardcover und E-Book.

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    Buchvorschau

    Lavendel ist blau - Brigitte Halenta

    1. Kapitel

    „Ordnung ist das halbe Leben", dröhnt die Stimme von Opa Hähnchen von dem Tisch der Großen zu ihr herüber, und die Befriedigung in seinem Ton ist so dick wie fette gelbe Vanillesoße.

    Ist dann das ganze Leben Unordnung?, fragt sich Ricarda und gibt diesen komplizierten Gedanken gleich wieder auf. Das ist zu schwierig für heute. Heute versteht sie gar nichts. Rein gar nichts. Nicht, warum sie ausgerechnet heute solche Halsschmerzen hat und ihr dabei so schrecklich duselig im Kopf ist; nicht, warum Ute auf dem Schoß von dem neuen Opa sitzen darf und sie hier alleine auf der Couch liegen muss; und auch nicht, warum sie ab heute zu Ha-Pe Papa sagen soll, wenn sie ihn doch gar nicht leiden kann. Oder hat sie das auch nur geträumt. So wie sie eben geträumt hat, dass die Farben alle wieder da sind und dass Omas Vorhänge am Fenster wieder so blau leuchten und klingen wie immer. Blau ist überhaupt ihr Lieblingston. Aber als sie die Augen wieder aufgemacht hat, weil Opa so laut „Ordnung ist das halbe Leben" gerufen hat, waren die Farben noch immer weg. Heute findet sie sich gar nicht zurecht.

    Alles ist heute anders als sonst. Einfach nur grau. Opa Hähnchen, das ist doch zum Lachen. Hähnchen. Ein Opa hat wirklich gereicht. Sowieso, was soll man mit einem Opa anfangen, der immer Schmerzen hat und sich nicht bücken kann. Und einen neuen Papa braucht sie auch nicht, sie hat doch schon einen.

    Wo der jetzt wohl ist. Immer wenn sie nach ihm fragt, tut die Mama so, als hätte sie überhaupt nichts gehört. Es ist eine Frage aus Luft. Keiner hört sie. Sie wüsste aber wirklich gerne, wo er jetzt ist und ob er vielleicht mal wiederkommt.

    Sie erinnert sich noch schwach an den Geruch an seinem Hals, wenn sie mit ihm gekuschelt hat. So riecht sonst niemand, den sie kennt, auch nicht Opa Pross, wenn er sie und Ute auf den Schoß nimmt und ihnen vorliest. Mama nimmt sie überhaupt nicht mehr auf den Schoß, sie sitzt jetzt selber bei Ha-Pe auf dem Schoß.

    „Es gibt dann also nach der Vorspeise Fasanensuppe, wann isst man schon einmal so etwas, sagt die Mama von Ha-Pe, die sie jetzt „Oma Hähnchen nennen soll, und die Vanillesoße in ihrer Stimme ist so, als hätte Mama noch ein paar Eidotter extra darunter gerührt, so gelb.

    Gott sei Dank, wenigstens kann sie die Farben noch hören, wenn sie sie auch heute einfach nicht sehen kann. Das kommt bestimmt vom Fieber. Gut, dann macht sie eben die Augen zu und hört nur noch auf die Stimmen. Nur noch auf die Stimmen.

    „Zwei Jahre Gefängnis ohne Bewährung", flüstert Mama, und da sind schon wieder die Tränen in ihrer Stimme.

    „Genug davon, dröhnt Opa Pross dazwischen, „erfreulichere Zeiten sind angesagt, nun ist ja alles in schönster Ordnung. Auf unser Brautpaar!

    Die immer mit ihrer Ordnung. Wenn man die wenigstens essen könnte oder damit spielen, aber es ist bloß was Schmutzig-Rot-Braunes, das wahrscheinlich auch noch klebrig ist. Das Wort ist mit Ha-Pe gekommen. Vorher gab es das gar nicht. Es gehört zu dem neuen Leben, das jetzt anfängt. Zu dem neuen Papa, den sie nicht braucht, zu der neuen Oma und dem neuen Opa, zu der neuen Wohnung, auf die sie sich nicht freut, obwohl sie sich freuen sollte, sagen alle, aber bei der alten Oma und dem alten Opa ist es einfach schön. Warum dann eine neue Wohnung. Wer passt dann auf sie auf, wenn Mama Schwesternhelferin wird? Etwa Ha-Pe? Opa hat immer so lange Geschichten vorgelesen, bis sie eingeschlafen sind. Ob der das auch macht?

    „Die guckt mich immer so an mit ihren großen braunen Augen, sagt Ha-Pe. „Ich weiß nicht, was das Kind von mir will? Ist das Kind schwierig?

    „Du wirst das schon machen, sagt Opa Pross ganz ohne Vanillesoße, „es müssen sich alle erst aneinander gewöhnen.

    Ricarda ist ein bisschen erschrocken. Ha-Pe hat von ihr geredet. Kommt das daher, dass sie gerade an ihn gedacht hat? Sie wird einfach nicht mehr an ihn denken. Sie wird an Mama denken, vielleicht kommt Mama dann zu ihr. So einfach geht das aber nicht. Es wird jetzt bloß von Mama geredet.

    „Elfi hat die Gardinen selbst genäht und aufgehängt, sagt Oma Pross, „das hat sie doch wirklich schön gemacht. Und Geld hat das auch gespart.

    „Für das, was das Hochzeitskleid gekostet hat, antwortet Ha-Pe, „hätten wir manches in der Wohnung auch machen lassen können, aber ihr wolltet das ja so.

    „Einmal im Leben eine richtige Hochzeit", flüstert Mama, und Ricarda kann schon wieder Tränen hören.

    Deine Mutter hat eben nahe am Wasser gebaut, sagt Opa Pross immer, das musst du nicht so ernst nehmen. Trotzdem tut es ihr jedes Mal innen drin ganz doll weh, wenn sie Mamas Tränen hört. Wenn sie nur wüsste, womit sie Mama zum Lachen bringen könnte. Alles, was ihr bisher eingefallen ist, hat nichts genutzt. Und jetzt weiß sie es plötzlich, dafür ist Ha-Pe gut. Er bringt Mama zum Lachen. Wenn Mama jetzt aufhört zu weinen, dann will sie auch nett sein zu Ha-Pe. Das also ist das neue Leben, von dem sie alle reden. Sofort breitet sich das neue Leben vor ihr aus wie ein schillernder Strom aus Rosa und Gold, und über allem schwirrt das silberne Lachen von Mama, mal hier, mal dort wie ein übermütig hin und her schießender Vogel.

    Jemand streicht ihr über das Gesicht. Sie öffnet die Augen. Es ist Oma Pross mit einer dampfenden Tasse Tee.

    „Trink das, das wird dir guttun!"

    Aber den kann sie gar nicht schlucken, so weh tut das im Hals. Weiß Oma denn nicht, wie weh das tut, wenn man solch heißen Tee schlucken soll.

    „Ich will nichts", krächzt Ricarda und schließt wieder die Augen.

    „Armes Mäuschen", sagt Oma.

    2. Kapitel

    Das ist eine doofe Melodie, findet Ricarda, die mit Oma Pross und Ute eingezwängt im Fond des Wagens sitzt. Oma muss in der Mitte zwischen den Kindern sitzen und auf die Organza-Kleidchen aufpassen, dass sie ja nicht zerknittern. Sie hat den Kindern die Röckchen bis zur Taille hochgeschlagen.

    „Ihr wollt für Mamas Hochzeit doch hübsch sein", sagt sie.

    Ricarda weiß noch nicht genau, ob sie Hochzeit gut finden soll. Oma ist ganz in Rosa. Sogar ihre Schuhe sind rosa. Ute ist weiß. Weiß – Rosa – Weiß. Opa vorne ist schwarz und Onkel Otto daneben auch, aber das ist ein anderes Schwarz. Das blöde neue Kleid zwickt am Hals, und das ist echt eine doofe Melodie. Ricarda summt die Töne: den weißen, den rosanen, den weißen, den schwarzen und den anders schwarzen. Doof. Weiß ist sowieso kein richtiger Ton, so was Ähnliches wie Gelb. Rosa und Schwarz, das klingt gut zusammen, aber das ist ja klar: Oma und Opa gehören zusammen, und bei den anderen muss man springen: Rosa – Weiß – anderes Schwarz – Weiß – Schwarz – anderes Schwarz. Das klingt!

    „In der Kirche, sagt Oma Pross, „hältst du aber den Mund.

    „Das Kleid kratzt", sagt Ricarda.

    Die Fahrt ist endlos. Heiraten ist wahrscheinlich das Letzte. Oma stinkt. Mama stinkt heute auch, aber die ist ja im anderen Auto. Nur Oma Hähnchen riecht heute wie immer.

    „Sind wir bald da?", fragt Ute hoffnungsvoll und stößt mit den Füßen gegen den Vordersitz.

    „Da ist die Kirche, antwortet Oma Pross, „kannst du bitte noch eine Minute stillsitzen.

    Onkel Otto fährt einen großen Bogen und hält direkt vor der Kirche. Er springt aus dem Wagen und reißt endlich die Tür auf. Frische Luft. Ricarda hopst erleichtert aus dem Auto. In diesem Augenblick setzen die Glocken ein. Wow! Ricarda bleibt wie vom Donner gerührt stehen. Oben im Turm schwingen vier mächtige Glocken: dunkelgrün - blau - braun und lila. Und zusammen! Zusammen sind sie toll. Wie Omas Nusskuchen mit Himbeersoße, obwohl Mama die Soße erst gar nicht drauftun wollte, aber sie hat keine Ahnung, was schmeckt. Das fühlt sich genauso gut im Bauch an. Genau. Nein. Besser! Anders. Natürlich bekommt sie mit, dass es regnet, dass Oma ihr von hinten mit dem Blumenkörbchen ins Kreuz stößt, sie soll sich in Bewegung setzen, aber das gute Gefühl soll noch ein bisschen dauern. Wenn sie sich bewegt, hört es bestimmt auf.

    Dann kommt Onkel Otto, hebt sie einfach auf und setzt sie unter das Dach des Eingangsportals, damit sie nicht nass wird. Aber die Glocken läuten trotzdem weiter. Auch als Mama kommt, läuten sie noch, aber der ist das ganz egal. Sie zupft nur an ihrem Kleid herum, und Onkel Mathes hält einen komischen Schirm über sie. Wieso ist der viereckig, wenn sie doch sonst immer rund sind. Wieder ist alles nur schwarz und weiß. Mama ist weiß, zehn Meter Seide, hat Oma gesagt, und Ha-Pe, der jetzt Papa heißt, ist schwarz. Nur das Auto ist blau, und Oma Hähnchen ist hellblau. Das ist aber jetzt egal, solange die Glocken läuten, ist das nicht wichtig. Heiraten ist doch nicht so schlecht.

    War das jetzt der letzte Ton? Noch einmal Braun, und dann ist es zu Ende. Ganz still ist es jetzt! Nein.

    Mama sagt: „Muss es unbedingt heute regnen!"

    Und Ute plärrt: „Das kratzt so am Hals."

    Ricarda will sagen, mich auch, da öffnen sich die großen Türen der Kirche und heraus kommt ein Mann in einem schwarzen Kleid mit einem weißen Kragen. Und dann kommt es. Aus der Kirche heraus kommt der Schwall, kommt die Musik.

    Sie hat das ja geübt, das mit dem Blumenwerfen, das kann sie doch, und immer schubst sie jemand in den Rücken: weitergehen. Aber so etwas hat sie noch nie gehört. Ein ganzer Raum voll Musik. Alles ist voller Musik, bis in die allerletzte Ecke, bis unter die Bänke, bis hinter dieses komische Kreuz und hoch hinauf bis an die bunten Fenster. Das wogt und schwillt und nimmt sie mit hinauf ins Gewölbe, als könnte sie fliegen. Wo kommt das her? Sie verdreht den Hals und bekommt wieder einen Stoß in den Rücken, und jemand zischelt: „Blumen!" Das ist ganz anders, denkt Ricarda, total anders, überhaupt anders, riesengroß anders, ganz anders.

    Jemand zieht sie auf eine Bank. Dann ist die Musik einfach weg, und die Kirche ist wieder ganz leer. Der schwarz-weiße Mann im Kleid steht vorne und redet. Ute schlenkert mit den Beinen, und ein schwarzer Lackschuh landet zwei Meter weiter in den Blumen. Mama hat gesagt, da wächst sie rein. Oma Pross guckt drohend. Das ist schon klar, dass man jetzt nicht aufstehen darf, um den Schuh zu holen. Aber gucken, wo sich die Musik versteckt hat, das geht. Sie entdeckt das Radio hinter sich und ist sich ganz sicher: Dieses große Ding macht die Musik. Nur so eine große Maschine kann so viel Musik machen.

    „Gleich, flüstert Oma Pross und drückt ihr das Blumenkörbchen wieder in den Schoß, „aufstehen!

    Aber plötzlich ist sie wieder da, diese Musik! Mit dem ersten mächtigen Ton füllt sich die ganze Kirche wieder mit Klängen und Farben, in allen Regenbogentönen wabert es durch den Raum bis hoch zur Decke. Oma zieht sie mit harten Händen hoch, jemand schubst sie in den Gang, und nun sieht sie es genau: Ja, die Musik kommt aus diesem großen silbernen Radio. Und nun? Die Musik stockt – fängt wieder von vorne an. Das Radio hat einen Fehler gemacht und fängt wieder von vorne an. Das ist ja zum Lachen. Ricarda schaut sich um, aber niemand lacht, Mama und Ha-Pe sehen todernst aus. Sie treten ihr fast auf die Hacken der neuen Lackschuhe. Sie soll weitergehen und Blumen werfen. Die große Kirchentür steht weit offen, man kann sehen, wie es regnet. Die Melodie ist richtig schön, und ihre Blumen sind wirklich gleich alle. Ute hat noch welche.

    Was ist denn das jetzt? Nein! Die Musik fängt ja an zu heulen und zu quietschen. Eine neongrüne Wolke kommt aus dem großen Radio direkt auf sie zu. Wenn sie die Augen zu ganz kleinen Schlitzen zusammenzieht, gehen vielleicht auch die Ohren zu. Es klappt aber nicht. Es tut weiter weh in den Ohren, in den Augen, im Bauch, im Kopf, hinten im Rücken. Gruselig. Ricarda lässt das leere Körbchen einfach fallen und saust durch die offene Kirchentür davon in den Regen, und weg ist sie.

    Das Körbchen ist Ha-Pe direkt vor die Füße gefallen. Er hätte darüber stolpern können. Mit einem ärgerlichen Fußtritt befördert er es aus dem Weg. Dieses Kind ist unmöglich. Mit vier Jahren sollte man sich besser benehmen können. Man merkt, dass sie keinen Vater haben. Das wird sich ja nun ändern. Elfi drückt beruhigend seinen Arm. Ein neuer Ärger: Es regnet stärker, am besten man bleibt für die Fotos unter dem Portal stehen. Elfis Kolleginnen, alle mit Schwesternhäubchen auf dem Kopf, das soll wohl was Besonderes sein, was kichern die so? Alberne Gänse. Typisch! Denen fällt auch nichts Besseres ein. Diese verdammten Reiskörner sitzen nachher überall. In den Haaren, zwischen Hemdkragen und Hals, in den Taschen und so weiter.

    „Wo ist Ricarda?", fragt Oma Pross zum dritten Mal.

    Woher soll er das wissen. Diese Abküsserei könnte ja nun auch mal ein Ende nehmen.

    „Schnell in die Autos", ruft Mathes und entfaltet seinen Riesenschirm.

    Auf den kleinen Bruder kann man sich doch immer verlassen. Für den Vater mit seinem Bechterew ist das Herumstehen bei diesem Wetter auch nichts. Wahrscheinlich kann er heute Nacht vor Schmerzen wieder nicht schlafen, und Mama in ihrem neuen Kleid sieht auch ziemlich unglücklich aus. So eine Zeremonie kann man sich wirklich schenken, aber sie wollten es ja alle nicht anders.

    „Ricarda ist noch immer weg, sagt Oma Pross, „das geht doch nicht, ihre wässerigen Augen sind voller Panik, „du bist doch jetzt der Vater."

    Das hat gerade noch gefehlt, dass er am Tage seiner Hochzeit bei strömendem Regen in seinem guten Anzug auf einem gottverlassenen Friedhof herumirrt. Wo hat sich das Gör versteckt? Der kommt es auch nicht in den Sinn, dass sie mit ihrer Wenigkeit die ganze Gesellschaft aufhält. Ach, das da drüben in dem Schuppen, das ist sie doch! Hat sich ein trockenes Plätzchen gesucht, das hätte er sich auch denken können. Und was treibt dieses Kind jetzt wieder? Die merkt gar nicht, dass er kommt, die ist wieder so abgeschottet, dass sie nichts hört und nichts sieht. Klopft mit einem Zweig auf den dort abgestellten Gießkannen herum, als gehörten ihr die. Und ihr teures Kleid ist auch ramponiert, das wird Elfi gar nicht freuen. Na, er wird ihr zeigen, was er von solchen Extratouren hält.

    „Ricarda!"

    Erschrocken fährt sie hoch.

    „Du tust mir weh!", brüllt sie, aber er packt ihren Arm nur noch fester und zieht sie hinter sich her.

    „Was denkst du dir eigentlich dabei? Alle warten nur auf dich."

    „Es hat doch so gequietscht", plärrt sie.

    Soll sie plärren, geschieht ihr recht. Wenn sie jetzt zu ihrem Fototermin zu spät ins Atelier kommen, hat nur dieses eigensinnige Kind Schuld.

    3. Kapitel

    „Der soll sich mal nicht so haben", sagt Otto zu Ha-Pe und meint den Fotografen, der mit verkniffenem Mund mit seinen Lampen hantiert.

    „Eine Viertelstunde über die Zeit ist eine Viertelstunde zu spät", murmelt Ha-Pe und fühlt sich verantwortlich für den maulenden Fotografen, für die schlechte Stimmung im Atelier, für Elfi, die lieber nur noch sitzen möchte, weil ihre Brautschuhe drücken, für seine Schwiegermutter, die sich ergebnislos abmüht, Ricardas schlappes Organzakleidchen wieder auf Stand zu föhnen, für seinen Vater, dem wieder einmal alles zu lange dauert, weil er Schmerzen hat, die nur auf dem heimischen Sofa vor dem Fernseher auszuhalten sind.

    „Wir sind die Kunden, sagt Otto. „Fotografen gibt es wie Sand am Meer. Wir beehren diesen eingebildeten Herrn nur deshalb, weil er zufällig mitten in der Innenstadt ein paar Parkplätze hinterm Haus hat. Der soll anständige Bilder machen und weiter nichts. Übrigens – deine Elfriede verlangt nach dir.

    Ha-Pe geht hinüber zu Elfi, die sich schon vor der weißen Leinwand fotogen in einem nachgemachten goldenen Empirestuhl aufgebaut hat. Sie zieht seinen widerstrebenden Kopf zu sich hinunter, hängt sich an seinen Hals und flüstert ihm etwas ins Ohr.

    Genau so, denkt Otto! So hat sie sich ihm an den Hals geworfen. Und jetzt verfolgt sie ihn, wohin er auch geht, mit ihren hellblauen Kulleraugen, die immer zu flehen scheinen: Geh nicht fort von mir, lass mich nicht alleine – und die sich so peinlich schnell mit Wasser füllen. Das hätte nun wirklich nicht nötig getan, mein Lieber: dieses naive Blondchen! Und gleich heiraten! Inklusive zwei Kinder. Von denen war allerdings zu Anfang überhaupt nicht die Rede. So gerissen ist sie denn doch. Jetzt macht sie willig die Beine breit. Mein Gott, diesen Typ kennt er. Immer bereit zu Sex, solange sie was erreichen wollen, und wenn sie es haben, dann erpressen sie einen genau damit. Heute Kopfweh und morgen die Tage. Guck an, sie versteht es doch wirklich gut, sich in Szene zu setzen. Der arme Junge dagegen versteht überhaupt nicht, was der Fotograf von ihm will, es ist ihm sowieso alles peinlich, aber sie! Kokettiert da herum, als wäre sie ein Model. Na, so ist es doch gut. Schmachte ihn an, er weiß sowieso nicht, wie ihm geschieht. Armer Ha-Pe, da bist du in etwas hineingeraten und weißt eigentlich gar nicht wie.

    „Mit den beiden Trauzeugen, bitte", ruft der Fotograf.

    Das war ja vorauszusehen. Jetzt sind er und Mathes dran. Er muss das Spiel mitspielen. Bitte lächeln! Na und ob! Er rempelt Ha-Pe, als er sich neben ihn stellt, freundschaftlich mit der Schulter an. Ist ja gleich überstanden, und dann gibt es hoffentlich bald was Anständiges zu essen. Ha-Pe stöhnt. Armer Kerl, du bist noch lange nicht entlassen. Es geht weiter mit den Eltern der Braut rechts und den Eltern des Bräutigams links. Den Kindern langt es auch langsam. Bei jedem Bild müssen sie vor dem Brautpaar stehen oder sitzen oder sonst was, auf jeden Fall lächeln. Natürlich, die süßen Kleinen mit ihren Blumenkörbchen machen die Show erst perfekt. Erstaunlich, dass sie überhaupt so lange aushalten. Die kleine Ricarda sieht bei näherer Betrachtung allerdings gar nicht süß aus, sondern eher wie eine zerzauste Krähe unter lauter eleganten Haustauben. Klein-Ute fängt jetzt an zu quengeln und wirft die künstlichen Blumen, mit denen der Fotograf die Körbchen wieder gefüllt hat, auf den Fußboden. Ricarda macht ein Gesicht, als wäre sie überhaupt nicht hier. Recht hat sie.

    „Lächelt doch bitte", fleht Oma Pross.

    „Benehmt euch", zischt Ha-Pe.

    „Nur noch fünf Minuten, tröstet Elfi, „dann könnt ihr laufen.

    Fünf Minuten sind ziemlich optimistisch, findet Otto, denn jetzt kommt das Finale, aber gut gemeint: Alle bitte! Das Brautpaar, die jeweiligen Eltern, die Trauzeugen, die lieben Kleinen.

    „Noch einmal bitte, ruft der Fotograf. „Frau Hähnchen, Sie haben gerade nach unten geguckt. Nein, und so geht das auch nicht. So ein Blumenkorb ist doch keine Eisenbahn. Nimm ihn auf den Schoß, ja. Und dann guckt ihr beide zwischen den Lampen durch auf den lustigen bunten Sonnenschirm dort auf der Wand.

    „Der ist überhaupt nicht lustig, sagt Ricarda, „der ist voll doof.

    „Jetzt reicht’s", brüllt Ha-Pe, und alle erschrecken.

    „Ist okay, sagt der Fotograf, „ich habe alles im Kasten.

    Aufatmend löst sich das Gruppenbild in seine Bestandteile auf. Ute fängt an, wie ein kleiner Derwisch durch das Zimmer zu sausen, und bringt dabei eine der großen Lampen ins Schwanken. Der Fotograf fängt sie noch gerade rechtzeitig auf.

    „Das war knapp, sagt er, „da wären mindestens tausend Mark fällig gewesen.

    Ha-Pe reißt den Kopf herum: „Das wollen wir doch erst einmal sehen."

    Otto klopft ihm beruhigend auf die Schulter.

    „Du brauchst eine Haftpflichtversicherung für die Kinder."

    „Das kostet alles Geld", verwahrt sich Ha-Pe.

    „So ist das, mein Lieber. Als Familienvater, der du ja nun unbedingt werden wolltest."

    Aber Ha-Pe bekommt seine Spitze gar nicht mit, Elfriede hat ihn mit Beschlag belegt, er soll ihr helfen, mit ihrer Seidenrobe unbeschadet die enge und steile Altstadttreppe hinunterzukommen.

    Otto steigt der Wein als Erstem zu Kopf, ein Montrésor, Elfriedes Vater hat sich nicht lumpen lassen. Er hat zu schnell getrunken, nach dem Stress des Morgens brauchte er das. Er ist niemandem Rechenschaft schuldig. Er ist frei und ledig und sein eigner Herr. Die können froh sein, dass er sich hier überhaupt zum Trauzeugen hergibt. Prost! Zum ersten Mal an diesem Tag heute fühlt sich Otto richtig wohl. Fasanensuppe und Cordon bleu erzeugen ein angenehmes Gefühl der Sättigung, und zunehmend gesellt sich Belustigung dazu. Das ist doch ein Witz, dass er hier als Trauzeuge auf der Hochzeit seines Kumpels Ha-Pe sitzt. Vierundzwanzig ist der Junge gerade erst. Das Ganze kommt ihm unwirklich vor. Wie eine Theateraufführung. Eine Ansammlung von Spießern. Genau wie seine eigenen Eltern; die würden hier gut her passen. Aber er wollte immer anders sein, und er hat gedacht, dass auch Ha-Pe anders sein wollte. Nun hat es ihn aber erwischt! Dabei sollte das mit der Anzeige doch nur ein Jux sein. Das ganze Team, alle fünf Jungs hatten denselben albernen Text auf fünf verschiedene Anzeigen in den Lübecker Nachrichten geschrieben. Drei von ihnen bekamen tatsächlich Antwort. Ha-Pe hat sein Schicksal geantwortet, in Gestalt von Elfriede. Junge Frau, nach schwerer Enttäuschung, sucht eine Schulter zum Anlehnen – oder so ähnlich. Sie hat sein Selbstbewusstsein gekitzelt. Sie war ihm ja so dankbar, dass er sich um sie kümmerte. Er war ihr Retter. Wann hat sie angefangen, von den Kindern zu reden? Unter Tränen natürlich. Unter Tränen. Er fühlte sich mal wieder verantwortlich.

    Was hat er sich eigentlich vorgestellt? Mit je einem kleinen putzigen Mädchen an jeder Hand auf den Markt gehen und Kollegen treffen? Oder mal eben tausend Mark hinblättern für einen Scheinwerfer, den die süßen Kleinen umgerannt haben? Er sieht doch sowieso schon immer alles pessimistisch, jetzt wird er ein paar Gründe mehr haben, immer gleich das Schlimmste zu befürchten.

    Die beiden Opas erzählen sich Witze, solche, die man vor Frauen eigentlich nicht erzählen sollte. Die Omas lächeln denn auch nur etwas säuerlich. Wahrscheinlich hätten die beiden alten Hähne gerne noch mal was Junges unter den Krallen gehabt, aber mit diesen Hennen neben sich auf der Stange – no chance. Prost! Die Brautmutter hat rote Flecken auf ihren Fettbäckchen. Was regt die denn so auf? Ihre Schweinsäuglein sind ganz klein unter den herabhängenden Lidern. Da kann man sehen, wie Elfriede einmal in zwanzig Jahren aussehen wird. Schöne Aussichten. Prost Ha-Pe. Da kann man nur für dich hoffen, dass deine Elfi anders ist. Deine Schwiegermutter jedenfalls ist ein General im Kostüm einer betulichen Henne. Macht scheinbar alles in stiller Ergebenheit, hat aber alle fest im Griff. An ihrem dicken Hintern kommt niemand vorbei. Deine Mama dagegen – die regiert durch Leiden. Immer tut ihr irgendwo etwas weh, alles ist eine Zumutung. Man bekommt wahrscheinlich schon ein schlechtes Gewissen, wenn man sie nur um eine Auskunft bittet. Deine Eltern sind sich im gemeinsamen Leiden verbunden, und sie brauchen ihre Krankheiten wie treue Haustiere. Sie jammert für ihn gleich mit. Ach guck, deshalb hat die tränenreiche, vom Schicksal gebeutelte Elfi dich nicht gleich in die Flucht geschlagen: Das kanntest du schon.

    Eigentlich findet er sie hier alle zum Kotzen, die kleine Ricarda ausgenommen, die unverhohlen gelangweilt an den Blättern der Zimmerpalme zupft: die besoffenen, witzelnden Opas, die Omas, die jetzt bei

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