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Claire
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eBook360 Seiten5 Stunden

Claire

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Über dieses E-Book

Claire, 1939 geboren, überlebt Krieg und Nachkriegszeit bei liebevollen Tanten im Elsass. Als der Vater 1949 aus Russland heimkehrt, holt die Mutter, Sängerin am Stadttheater Oberhausen, das Kind ins Ruhrgebiet zurück. Claire fühlt sich fremd in der Enge der Adenauerzeit und zwischen den sich bekämpfenden Eltern. Als Jugendliche wird sie schwanger und fliegt zuhause raus. In Köln lernt sie 1964 bei einem Chansonauftritt in einer Kneipe ihren späteren Mann Theo kennen. Zwei Kinder werden geboren, doch dann politisiert sich Claire und zieht in eine Kommune.

1975 lernt sie in Freiburg die sechzehnjährige Pilar kennen, Kind von spanischen Gastarbeitern, die in der Kindergruppe einer selbstverwalteten Kulturfabrik unbezahlt aushilft. Was Claire in Rage bringt. Zwischen den beiden Frauen beginnt eine zwiespältige Freundschaft, die Pilar bis zu Claires Tod 2007 in Atem hält.

Ulrike Halbe-Bauer, bekannt durch ihre einfühlsamen Biografien bedeutender Frauen der Geschichte, gelingt es einmal mehr, anhand der Lebenslinien ihrer Protagonistinnen das Lebensgefühl einer Epoche mit all ihren Sehnsüchten, Wirrungen und Brüchen heraufzubeschwören.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum24. Sept. 2019
ISBN9783954287963
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    Buchvorschau

    Claire - Ulrike Halbe-Bauer

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    1

    Oberhausen, Ruhrgebiet, 1944

    Ein fernes Sirren, sie spürte es im Bauch. Die Nachtvögel kamen, das schrille Heulen der Sirene konnte sie nicht verscheuchen, auch nicht das Gebell der Flak. Am Anfang hatte sie es versucht und tief unter der Decke versteckt dreimal ihren Zauberspruch geflüstert: Zicklein meck, Tischlein weg. Weg, Weg, dreht euch um, geht anders herum, weg, weg, in den Wald mit euch, zu dem bösen Riesen mit dem großen Ohr.

    Die Mutter zog die Decke weg und schimpfte: Hör auf mit dem Unsinn, beeil dich, wir sind spät dran. Klara zitterte, blieb stocksteif liegen, bis die Mutter sie an den Händen hochzog. Sie hielt ihr die Winterhose hin, denn im Keller war es kalt. Tonlos flüsterte Klara weiter ihre Zaubersprüche, während sie in die Beine der langen Hose stieg, die Arme hochstreckte, damit die Mutter ihr den dicken Pullover über das Nachthemd streifen konnte, den Mantel, die Stiefel. Alles lag auf dem Stuhl vor dem Bett bereit. Schließlich suchte das Kind nach Lotte, die neben dem Kopfkissen schlief.

    An Lottes Schultern hatte die Mutter ein breites Band festgenäht, damit Klara die Puppe um ihren Hals hängen und mit in den Keller nehmen konnte, denn Klara musste auch den Rucksack schleppen und die beiden Decken, die zusammengerollt am Bettende lagen. Wegen Lotte hatte es Streit gegeben, weil Klara sich weigerte, ohne sie in den Keller hinunterzusteigen. Lotte war alt und hässlich und die Mutter mochte nur schöne Dinge wie das hellblaue Kleid mit dem Plisseerock, das sie für Klara aus dem alten Sommerkleid von sich genäht und, wie sie sagte, mit Liebe für Klara vorn mit einem Streifen Smokstickerei geschmückt hatte.

    Das Sirren schwoll an, die Mutter drängelte, jetzt pfiff und zischte es, Krachen, nicht weit weg. Mutter und Kind stolperten die Treppe hinunter, Klara flüsterte Lotte ins Ohr: Hab keine Angst, es ist gleich vorbei, die Nachtvögel fliegen wieder fort und im Keller hinter der Stahltür kann uns nichts passieren.

    Der Hauswart, Herr Tilkowski, drängte zur Eile, die Tür fiel hinter ihnen zu und Klara rollte sich unten in ihrem Doppelstockbett ein, Lotte im Arm. Klaras Körper zuckte bei jeder Detonation im Schlaf, aber sie blieb in sich eingerollt und hielt die Augen geschlossen. Vor ihr am Bettrand saß die Mutter.

    Beneidenswert, wie Kinder schlafen können, hörte Klara weit weg Frau Förster aus dem ersten Stock sagen, die verstehen zum Glück noch nichts.

    Beim Weg hinauf in die Wohnung ließ Klara sich schlaftrunken ziehen. Feuerschein draußen, Glassplitter auf der Treppe, kalte Luft strömte durch die geborstenen Fenster, Schreie, Staubwolken, Husten. Sie durfte für den Rest der Nacht in Mutters Bett, spürte in ihrem Rücken Mutters warme Brüste, die sich ein wenig an ihr rieben. Jetzt kommen sie nicht mehr, flüsterte die Mutter und stupste sie mit der Nase am Ohrläppchen. Heute Nacht nicht mehr, es hat Entwarnung gegeben. Trotzdem legte Klara ihre Hände fest auf die Ohren.

    Am nächsten Tag stolperten Mutter und Tochter durch Trümmer, Steine, bis zum Eckhaus, dessen vordere Wand fehlte. Sie konnten in die Wohnungen hineinsehen. Wie in mein Puppenhaus, dachte Klara, aber das hier ist eine unordentliche Familie. Die haben ja alles durcheinandergeschmissen. Sogar die Schränke. So eine Unordnung. Da muss jemand gründlich aufräumen.

    Auf der Straße schaufelten Nachbarn Schutt weg. Die werden nicht Ruhe geben, solange noch ein Stein auf dem anderen steht, sagte Frau Tilkowski. So viele Industrieanlagen und die Hütte ganz nah. Wir gehen alle drauf.

    Wir müssen hier weg, flüsterte die Mutter.

    Sie hätten ihre Tochter zur Kinderlandverschickung geben sollen.

    Hätte ich sollen. Aber das Kind war zu klein und jetzt ist es zu spät.

    Eines Mittags forderte die Mutter Klara auf, Hose und Stiefel anzuziehen, obwohl es mitten im September draußen noch warm war und kein Nachtvogel surrte. Sie hatte am Morgen Klaras Koffer gepackt, den Inhalt des Rucksacks überprüft, Brote mit Margarine beschmiert und einem Rest Marmelade, Brennnesseltee gekocht und in die Thermoskanne gefüllt. Wir fahren zu Tante Josefine, erklärte die Mutter. Sie hat geschrieben, dass sie dich aufnimmt. Auf dem Land bist du sicher. Es gibt keine Nachtvögel, aber Josefine hat Kaninchen, die sind weich und flauschig. Du darfst bestimmt eines haben.

    Der Oberhausener Bahnhof hatte bereits etliche Treffer abbekommen, doch die Züge fuhren. Sie mussten in weitem Bogen um das kaputte Gebäude herumlaufen, durch Schutthügel hindurch über Pfade voller Steine. Klara wollte sich an Mutter festhalten, wenigstens am Koffer, doch die Mutter schüttelte sie ab: Du musst selbst auf den Weg achten, sonst fällst du. Und wenn du zu heulen anfängst, siehst du nichts mehr.

    Als Klara zum ersten Mal stolperte, schimpfte die Mutter: Pass doch auf und guck nicht in den Himmel, von da oben droht im Augenblick keine Gefahr. Beim Aufstehen verhedderte sich Lottes Band an Klaras Arm. Klara versuchte, die Tränen runterzuschlucken. Sie hatte nicht auf Lotte aufgepasst, fast wäre das Band gerissen. Hinter ihr schimpfte eine fremde Stimme, nun mach schon, wir wollen den Zug nicht deinetwegen verpassen. Sie kämpfte sich frei, wischte die Tränen weg, die weiter die Augen verschmierten, und zog den Rotz hoch. Schließlich weinte Lotte ja auch nicht, obwohl sie eingeklemmt war. Hinkend erreichte Klara den Bahnsteig, der voller Löcher war.

    Sie wurden von den vielen Menschen, die auf den Bahnsteig strömten, weitergeschoben. Klara hielt Lotte jetzt im Arm. Mit der anderen Hand hielt sie sich an der Mutter fest. Einmal schrie Klara, weil die Mutter losgelassen hatte. Sie beruhigte sich erst, nachdem sie Mutters Hand auf ihrer Schulter spürte. Immer wieder wurden sie angerempelt. Klara starrte auf den Boden, wie die Mutter ihr geraten hatte. Um sie herum nur Mäntel und Rucksäcke, die nach Mottenpulver muffelten. Lange mussten sie auf dem Bahnsteig warten, die Mutter blickte immer wieder auf die Uhr.

    Schließlich kam der Zug, stampfte am Gleis entlang, quietschte, kreischte und stieß Rauchwolken aus, der Bruder der Nachtvögel. Die Menschen schoben, drängelten, stießen sie weiter. Klara begann zu zittern, doch die Mutter nahm sie und hob das Kind samt Puppe die Treppe hoch in einen Wagen, dort packte sie jemand, der nach Zwiebeln und Tabak stank und sie im Gang abstellte. Klara und Lotte, schreckensstarr, wurden ins Abteil geschoben, die Mutter schleppte den Koffer hinterher und stemmte ihn hoch in ein Gestell, setzte sich schließlich mit dem widerstrebenden Kind auf die Holzbank. Ein ohrenbetäubendes Pfeifen, Klara zog die Beine auf die Bank und umklammerte ihre Knie. Wir haben Glück gehabt, erklärte die Mutter, dass überhaupt ein Zug fährt und wir Sitzplätze gefunden haben. Die Fahrt wird lang werden, aber die Züge fahren immer noch. Warum schaust du nicht aus dem Fenster, du hast so lange keine Wiesen und Kühe gesehen.

    Klara wollte nichts sehen, sie flüsterte mit Lotte, erzählte ihr von dem Kaninchen, das auf sie warte, und schlief schließlich ein. Bis der Zug kreischend hielt. Alle Lichter gingen aus. Die Menschen tuschelten aufgeregt, manche beteten, Klara flüsterte Lotte ihre Zaubersprüche zu. Leise kletterten alle aus den Wagen und rannten über die Wiese in das Wäldchen hinein. Im Wald tun sie uns nichts, die Flugzeuge suchen eine Stadt; hier wollen sie höchstens die Lok kaputtmachen, sagte die Mutter.

    Mutter wusste nicht, dass Klara die Nachtvögel in den großen Wald geschickt hatte. Eng an die Mutter geschmiegt, hörte Klara sie heransurren, hielt den Atem an, als sie lauter wurden. Ich will nicht hier sein, ich will woanders sein, dachte sie verzweifelt. Ihr fiel kein Ort ein. Dann waren die Nachtvögel vorbei, wurden leiser, verstummten. Die Menschen, die sich auf dem Waldboden aneinanderdrängten, atmeten auf. Ein großer Junge, der den Nachthimmel beobachtete, stand neben ihnen. Klara sah nur seine Hosenbeine. Keine Orgeln, nur Christbäume und auch die nur über Frankfurt, erklärte er wichtigtuerisch, als der Zug pfeifend Entwarnung gab.

    Rein in den Zug, raus aus dem Zug, auf einem Bahnsteig unter dunklem Himmel warten, ein neuer Zug, schließlich am Morgen eine Bahnhofshalle, deren Dach ein riesiges gezacktes Loch aufwies, durch das Klara blauen Himmel sah. Der Teller Suppe von einer auf Klara herablächelnden Frau mit einer Binde am Arm, wieder einsteigen ins zischende Ungetüm. Alarm, Feuer und Rauch weit weg und in der Nähe, den Rucksack aufsetzen, Lotte umhängen, rennen, rennen, hinfallen, hochgerissen werden, unter einem Busch ausruhen. Das Pfeifen, diesmal überlaut. Mach den Mund auf, sonst gehen die Ohren kaputt, schrie die Mutter, da knallte es bereits und eine Flamme zischte über der Lokomotive. Die Mutter stand auf, schüttelte Klara. Hörst du mich? Der Zug kann nicht mehr fahren. Mit den anderen Reisenden zusammen liefen sie in die Richtung, aus der sie gekommen waren, bis zum nächsten Dorf. Die Nacht verbrachten sie in einer Scheune.

    Am Morgen schien die Sonne, jemand verteilte Brotstücke an die Reisenden und reichte einen Krug Wasser herum. Bis zum Nachmittag mussten sie warten, dann stand endlich ein anderer Zug auf den Schienen. Wo die kaputte Lok geblieben war, das wusste auch die Mutter nicht. Und den Ort, wohin sie fuhren, benannte die Mutter nicht. Sie sagte nur, dort wartete Tante Josefine. Klara hielt die Augen geschlossen. Die Mutter beschrieb, was draußen zu sehen war, Berge, ein Fluss, Schafe, ein Radfahrer, an dem sie vorbeibrausten, einmal sogar winkende Kinder. Klara blinzelte durch den Spalt zwischen den Augenlidern. Da fuhren sie gerade an einem kaputten Haus vorbei und sie machte die Augen wieder zu.

    Wenn die Rheinbrücke bei Kehl in den letzten Tagen nicht bombardiert worden ist, sind wir bald da, hörte sie die Stimme der Mutter. Als der Zug einige Zeit später im Schritttempo über den Rhein ratterte, sagte der Mann in der Bank hinter ihr: Die Behelfsbrücke ist erst seit ein paar Tagen in Betrieb. Gerade aufgebaut und morgen oder übermorgen mit einem Knall wieder hin. Was für ein Irrsinn.

    Straßburg, rief die Lautsprecherstimme. Endstation. Sie standen in einer Halle ohne Dach. Im Wartesaal saß eine Frau am Tisch. Sie küsste die Mutter, Klara wich zurück, aber die Frau umschlang sie fest mit ihren Armen. Klara stand starr, die Frau roch säuerlich, nicht nach Mutters Parfüm, und war dick. Die drei saßen um den Tisch, tranken aus Gläsern etwas Warmes. Die Frauen hatten sich viel zu erzählen, bis die Lautsprecherdurchsage sie unterbrach.

    Die Mutter stand auf: Du darfst Ferien bei Tante Josefine machen. Ich muss zurück. Hier bist du sicher. In Josefines Dorf gibt es keine Luftangriffe. Ich hole dich ab, wenn alles vorbei ist. Sie küsste Klara auf den Kopf und drückte sie mit den Armen auf den Stuhl zurück. Hinter sich hörte Klara, wie jemand seufzte. Sie drehte sich um; Tante Josefine versuchte ein Lächeln, gegen das sich ihre Mundwinkel stemmten. Klara kannte das.

    Die Schuhe der Mutter klackerten über den Steinboden. Klara behielt das Bild bei sich, eine Silhouette, die blasser wurde. Obendrauf der Hut mit der Schleife an der Seite, die Haartolle darunter, der kurze Mantel, unten der Rock, der über die Knie reichte und die Beine eng umschloss, und die klackernden Schuhe. Zu Lotte sagte Klara: Sie holt uns bald wieder ab.

    2

    Damwiler, Elsass, 1944

    Gleich fährt unser Bus. Zuhause wartet Tante Berta. Klara reagierte nicht. Hatte das Kind sie überhaupt verstanden, fragte sich Josefine. Ihr Hochdeutsch ließ doch nichts zu wünschen übrig. Josefine stand auf. Wir müssen los. Es ist der letzte Bus. Klara ließ sich den Rucksack aufsetzen, stieg in den Bus und starrte verwirrt auf die Dörfer, in denen alle Häuser Dächer und Wände hatten und gerade nebeneinander standen.

    In Damwiler stand Tante Berta an der Bushaltestelle. Auch deren Haus war heil, hatte ein Dach, Fenster aus Glas und nirgendwo Löcher in den Wänden. Berta hatte Brote geschmiert mit einer bräunlichen Masse, die nach Wurst roch, das Glas Milch schmeckte merkwürdig süß. Ziegenmilch, erklärte Tante Berta. Klara kaute und schluckte, kaute und kaute, machte die Augen zu, schluckte. Nach dem Essen ging Tante Josefine mit ihr nach oben. Klara bestand darauf, sich allein auszuziehen. Ordentlich gefaltet hängte sie ihre Sachen auf die Stuhllehne.

    Die beiden Frauen hatten am Fußende des großen Bettes ein schmales aufgestellt. Soll ich bei dir bleiben, bis du eingeschlafen bist? Klara schüttelte den Kopf, Lotte an sich gepresst. Morgen sieht die Welt schon ganz anders aus, versprach Tante Josefine. Dann schauen wir nach den Tieren. Als die Tante dem Mädchen einen Gutenachtkuss geben wollte, wehrte das Kind sie mit dem Arm ab.

    Im Morgengrauen wurde Josefine wach. Irgendetwas klapperte. Den Fensterladen hatte sie zugemacht, da war sie sich sicher. Schließlich stand sie auf und sah nach Klara. Die lag da wie ein Knäuel und klapperte mit den Zähnen. Kind, was ist denn? Komm zu uns ins Bett. Klara schüttelte den Kopf. Doch Josefine hob sie hoch, trug sie hinüber und fasste nach ihren Füßen. Eiskalt, die rubbele ich jetzt warm.

    Josefines fester Griff gab die Füße nicht frei, rubbelte und streichelte sie, bis Klaras Widerstand schwächer wurde. So, und jetzt schlafen wir alle noch ein Weilchen. Klara war an den Rand des Bettes gerutscht, duldete jedoch, dass Josefine mit ihren Füßen Klaras Sohlen wärmte.

    In der zweiten Nacht flogen Flugzeuge über das Dorf. Beim ersten Brummen fing Klara an zu schreien, sie wollte in den Keller, hinter die Stahltür. Aber Kind, die Flieger tun uns nichts, die fliegen hinüber ins Badische. Hier im Elsass sind wir sicher. Kein Füßerubbeln half. Sie lagen alle drei wach, bis die Flugzeuge zurückkamen.

    Jetzt können sie uns nichts mehr tun. Sie haben keine Bomben mehr. Aber erst als Josefine zum Radio hinunterging und so tat, als hörte sie dort, dass es Entwarnung gegeben habe, die man im Dorf nicht hören könne, ließ sich das Kind beruhigen.

    Zum Frühstück gab es Brei, vor dem Klara mit dem Löffel in der Hand saß und nicht essen wollte. Nur von dem wunderbar duftenden Brot, das die Tanten trotz der Mangelwirtschaft im Krieg backten, mit dem Klacks glänzenden Rübenkrauts darauf aß sie ein Stück. Zu trinken wollte sie nur Wasser. Den Eintopf am Mittag, auf dem sogar Fettaugen schwammen, löffelte sie langsam und widerwillig in sich hinein und spülte nach jedem zweiten Schluck mit klarem Wasser nach.

    Die Frauen zeigten Klara den Hof, den Garten und die Scheune. Vor dem Huhn – es war nur noch dieses übrig – und der Ziege wich das Kind zurück, auch das Kaninchen mochte es nicht in den Arm nehmen, ließ sich jedoch überreden, es zu streicheln. Die Werkstatt der Schneiderinnen begutachtete sie mit fachmännischer Miene – so eine Nähmaschine hat meine Mutter auch, was, so viele Garnrollen und Scheren, wozu braucht man denn so viele? – und schaute den beiden Frauen bei der Arbeit zu, wie sie aus zwei alten Decken einen Mantel schneiderten und eine Hose.

    Einige löchrige gewaschene Pullover lagen herum, die aufgeribbelt und zu einem neuen verstrickt werden sollten. Die Nähte waren bereits aufgetrennt. Nachdem Tante Josefine die Fäden vorsichtig aufgezogen hatte, durfte Klara die abgerissenen Fäden verknoten, und da sie das geschickt machte, die Wolle aufwickeln. Später schnitt sie aus ein paar Stoffschnipseln einen Hund aus, den Berta darauf gemalt hatte. Die zeigte ihr auch, wie sie die Häkelnadel benutzen musste, um für Lotte einen Schal zu häkeln. Das machte sie geschickt und war über Stunden beschäftigt.

    Manchmal arbeiteten alle drei still vor sich hin oder Tante Josefine erzählte etwas. Sie hatte Klaras Mutter in der Nähe von Bonn in einer Hauswirtschaftsschule kennengelernt. Elli und sie selbst hätten gern und viel genäht und wären so Freundinnen geworden. Auch von einer Parisreise vor dem Krieg berichtete sie und einem Opernbesuch. Klara nickte: Meine Mutter arbeitet am Theater. Jetzt ist es geschlossen wegen dem Krieg, aber manchmal proben sie in Sterkrade. Meine Mutter singt dort.

    Die Tanten warfen sich vielsagende Blicke zu. Es ist gut, wenn das Kind im Haus spielt, jedenfalls bis die Franzosen da sind, flüsterte Josefine Berta zu. Die Deutschen müssen nicht wissen, dass wir ein deutsches Kind im Haus haben.

    Klara krümmte sich über ihren Häkelschal. Was war so schlimm an einem deutschen Kind? Waren die Tanten nicht deutsch? Sie redeten genauso wie Klara. Noch einmal wollte sie sich wegträumen. Tante Berta legte die Hand auf ihren Kopf: Was ist, Kind? Du hast doch etwas?

    Warum darf ich nicht deutsch sein?, flüsterte Klara.

    Oje, da haben wir etwas angerichtet, antwortete Josefine. Wie soll ich es dir erklären? Natürlich darfst du deutsch sein. Mit den Deutschen habe ich die Soldaten gemeint. Die sollen dich nicht mitnehmen, denn das wäre schlimm. Aber sie gehen bald wieder nach Deutschland zurück, dann ist der Krieg zu Ende und so lange bleibst du einfach im Haus oder im Hof.

    Wir sprechen hier Deutsch und Elsässisch. Wir werden dir ein paar Wörter beibringen. Das reicht schon. Im Ruhrgebiet haben die Menschen doch sicher Plattdeutsch gesprochen. Das ist auch kein reines Deutsch.

    Nein, es ist falsch, da sind polnische Wörter dabei und Mutter kann es nicht ausstehen. Ich soll ja nicht damit anfangen.

    Josefine grinste: Na, die Elli, die war schon immer etwas hochgestochen. Hier darfst du ruhig Elsässisch lernen. Das sprechen alle Nachbarn.

    Mit dem Beginn des Winters näherte sich die Front. Beim ersten Donnergrollen in der Nacht kroch Klara im Bett unter ihre Decke und hielt sich die Ohren zu. Josefine holte sie zu sich und nahm sie in die Arme. Aber Klara kämpfte sich frei, würgte und spuckte quer über das Bett. Das tat sie in den nächsten Wochen jede Nacht. Inzwischen stand der Eimer neben dem Bett bereit. Klara würgte so lange, bis der Magen leer war. Dann spuckte sie grünen Schleim. Mit beiden Händen hielt sie den Eimer umklammert, während Stöße ihren Körper schüttelten.

    Plötzlich gab es doch Flugzeuge, die ihre Bomben über den Dörfern des Elsass abwarfen. Das sind französische, die machen das nicht, um uns etwas zu tun, sagte Berta, sondern um die Deutschen zu vertreiben. Uns wollen sie befreien.

    Die Bomben detonierten zum Glück am entgegengesetzten Ende des Dorfes. Doch ließen die Explosionen bei den Frauen die Fenster klirren und Berta rannte los, um beim Löschen der Brände zu helfen.

    Am anderen Morgen blieben die Fensterläden geschlossen. Sie hörten auf der Straße den Marschtritt von Soldaten, vielen Soldaten, dann ganz nah Stimmen, Schreie, ein krachendes Holztor und splitterndes Glas. Die Frauen sprangen auf und hielten sich aneinander fest, Klara in ihrer Mitte.

    Wir müssen ganz leise sein, sonst zünden sie uns das Haus an. Heilige Maria, lass die deutschen Soldaten abziehen. Die wissen doch, dass sie den Krieg verloren haben. Wir haben nichts mehr. Auch das letzte Kaninchen ist im Topf gelandet. Heilige Maria, heiliger Anton, macht, dass die Deutschen nicht das ganze Dorf abfackeln.

    Wörter, Sätze, mit denen sie sich und das Kind beruhigen wollten, jedoch Klara spürte bei den Frauen die Angstschlange heraus, die gleiche, die sich in ihr verbissen hatte. Sie wusste, dass die Frauen das Huhn und die Ziege nicht, wie vorgeschrieben, bei der deutschen Kommandantur abgegeben, sondern hinten in der Scheune im Verschlag versteckt hatten, mit zugebundenem Maul und Schnabel, damit niemand sie hörte.

    Es gab keinen Strom mehr, kein Gas. Schließlich kam auch kein Wasser mehr aus dem Kran. Der Brunnen war vereist, doch Schnee gab es überall; Klara schaufelte die weiße Masse im Hof in den Topf und sah zu, wie sie auf dem Herd schmolz, den sie mit getrockneten Kuhfladen befeuerten, die im Schopf gestapelt waren. Mitte Januar begann der Artilleriebeschuss des Dorfes durch die Franzosen. Das hieß, die Fußtruppen waren jetzt ganz nah. Die Panzer wummerten bei ihrer Arbeit, dann knallte es, zischte und krachte ganz in der Nähe. Das Dach wurde abgedeckt, im Hof lagen Granatsplitter. Die Tanten und Klara trauten sich fast gar nicht mehr raus, nur manchmal huschte Klara durch den Hof, um Wasserschnee zu holen.

    Nach einem der Artillerieangriffe kam sie bleich und zitternd zurück, die Mauer zum Nachbarhaus sei eingestürzt und es lägen überall Steine herum. Sie habe suchen müssen, um einen Fleck mit sauberem Schnee zu finden. Später klopften Seppala und Warla aus dem Nachbarhaus an die Kellertür, kriegten die Worte kaum zusammen: Ob die Frauen etwas gesehen hätten, den Großvater Huber habe es im Hof erwischt, zerrissen, sie könnten ihn nicht finden, nur Stücke von ihm. Klara nicke, da liege etwas im Hof, hinten vor dem Verschlag.

    Die drei Frauen verbrachten die nächsten Tage eng aneinander gerückt bei Kerzenschein im Keller und nähten an der großen blau-weiß-roten Fahne. Klara kannte inzwischen viele elsässische Wörter, die hatte sie von den Tanten übernommen. Jetzt übten sie zusammen französische Sätze und sagten Claire zu Klara.

    Am zweiten Februar begrüßten die Dorfbewohner ihre Mützen schwenkend die Panzer der Befreier, die durchs Dorf rollten. Die Franzosen standen oben im offenen Panzer oder liefen nebenher und winkten zurück. Am Haustor hing die Trikolore.

    Die Tanten waren begeistert: Der Krieg ist vorbei. Uns wird nichts mehr passieren. Kind, komm, hörst du, der Krieg ist vorbei. Aber Klara schüttelte den Kopf, sie blieb drinnen und beobachtete das Schauspiel durch den Spalt in den Fensterläden.

    Der Winter blieb kalt und es gab nicht viel zu essen. Die Hühner, welche die Franzosen versprochen hatten, kamen vorerst nicht – wo sollten auch mitten im Winter Küken herkommen? Ihr eigenes Huhn mickerte vor sich hin, die Tage im Verschlag waren ihm nicht gut bekommen. Aber es gab Carepakete aus Amerika mit Schokolade und Maismehl und die Ziege gab weiter Milch.

    Tante Berta backte aus dem Maismehl Waffeln. Die meisten Dorfbewohner benutzten das Mehl zum Brotbacken, diese Brote schmeckten scheußlich. Tante Berta verrührte das Mehl jedoch mit Ziegenmilch, einem Ei und weiteren, geheimen Zutaten. Diese Mischung wurde in der Pfanne knusprig und schmeckte köstlich. Gerne brachten die Nachbarn den Tanten ihre letzten Eier, die sie zu Beginn des Winters in Kalkbrühe eingelegt hatten. Auch Mehl und hin und wieder einen Zipfel Wurst, wenn Tante Berta dafür Waffeln backte, die jetzt Crêpes hießen.

    Klara war häufig unterwegs mit den großen Nachbarsjungen, dem Warla, der jetzt Édouard hieß, und dem Seppala, dem Joséphe. Deine Ritter, sagt Josefine, wenn sie Klara abholten. Die passen auf dich auf. Die Burschen waren nach der Schule mit den Ziegen unterwegs, die es im Dorf noch gab. Sie ließen sie an den Wegrändern oder Bächen grasen. Die Ziege der beiden Frauen und Klara nahmen sie mit, vielleicht wegen der Waffeln der Tanten oder auch, weil Klara für ein Mädchen nicht zimperlich war, sich nie beschwerte, dass sie erschöpft sei, und fast alles tat, was die Burschen von ihr verlangten. Dazu verfügte sie über Fantasie, was den beiden fehlte. Einen ganzen Zirkus konnte sie ihnen vorführen, den Clown, eine Löwennummer, die Artisten in der Zirkuskuppel, all das mit Klara als einziger Darstellerin. Mit Terrie, dem Hund der beiden, übte sie, über Stöckchen zu springen.

    Im Frühjahr machten die drei Raubzüge zu den Nestern der Vögel, denn sie brauchten dringend Eier. Am Weiher nisteten bereits im März Stockenten, mitten im Buschwerk. Die Jungen hatten Augen dafür, wo sie suchen mussten. Klara stand Schmiere, denn Stockentennester durften nicht geplündert werden. Jedenfalls war das bis jetzt so gewesen. Ebenso die Nester der Drosseln, aber diese waren leicht im dichten Gestrüpp auszumachen.

    Sie warteten, bis die Alte aufgeflogen war, dann reichte es, wenn die beiden Klara ihre Hände als Räuberleiter hinhielten. Sie hangelte sich hoch, nahm sich ein paar Eier, ihre kleinen Hände fanden immer den Weg durch die Zweige. Verstaut wurden sie in dem Beutel, der Klara am Hals hing. Durch den oberen Rand hatten Warla und Seppala einen Draht gezogen, damit Klara mit einer Hand die Eier ablegen konnte. Manchmal musste sie die zurückkehrende Vogelmutter mit dem Arm abwehren. Klara war geschickt und schnell. Nie nahm sie alle Eier. Solange noch ein Ei im Nest ist, so hatten Warla und Seppala ihr erklärt, legen die Vogelweibchen neue.

    Bei diesen Ausflügen trug Klara ihre lange Hose aus Stoffresten, einem festen, grünen Gardinenstück. Natürlich kam sie des Öfteren mit Rissen in der Hose heim oder hatte sich die Hände aufgeschürft. Die Tanten schimpften etwas, fragten indes nicht weiter, flickten die Hose und versorgten Klaras Wunden mit Jod, was die mit zusammengebissenen Zähnen über sich ergehen ließ.

    Die Beine der Jungen waren ständig voller Schürfwunden, denn sie trugen kurze Lederhosen. Sie wehrten sich erfolgreich gegen das Jod, da sie ihre Wunden draußen mit dampfenden Kuhfladen behandelt hatten. Getrocknete oder gefrorene Kuhfladen waren einer ihrer Handelsartikel, den sie unterwegs in ihren Sack sammelten. Die Tanten freuten sich darüber und besonders über die Eier. Da durften die jungen Burschen noch auf ein paar Crêpes ins Haus kommen.

    Warla und Seppala trauten sich auch auf die hohen Fichten hinauf. Dann musste Klara mit ihrem Stock an den Stamm schlagen, damit die Elstern oder Krähen aufflogen. Die galten als schädlich und ihre Nester durften immer schon geplündert werden. Was die Franzosen dazu sagten, war nicht bekannt.

    Meist ging alles nach Plan, aber einmal hatten die Krähen Warla angegriffen und er hatte sich in höchster Not an den Zweigen der Fichte hinunterrutschen lassen. Wie ein Eichhörnchen im Sprung hatte das ausgesehen, er fiel, krallte sich an den herabhängenden Zweigen wieder fest, ließ los und schoss weiter nach unten. Er hatte Glück gehabt. Die Vogeleier im Beutel waren alle kaputt, seine Handflächen aufgerissen und er bekam blaue Flecken, an der Innenseite der Oberschenkel auch blutunterlaufene Striemen. Mindestens eine Woche war er breitbeinig herumgehumpelt.

    Sobald die beiden Jäger einen Frosch quaken hörten, waren sie verschwunden, denn Tiere zum Schlachten gab es fast nicht mehr im Dorf und Froschschenkel waren eine Delikatesse. Selbst Klara mochte die zarten, an Hühnerfleisch erinnernden Schlegel, wollte aber nicht zusehen, wenn die Jungen die Frösche erschlugen und die Beine herausrissen.

    Als ihre beiden Helden einige deutsche Stielgranaten fanden und anfingen, die Kappen abzuschrauben, um Sprengstoff für ein Feuerwerk zu bekommen, stand sie schreckensbleich neben ihnen und fing an, wie eine Sirene zu heulen. Sie konnten das Mädchen kaum beruhigen. Klara musste ihnen versprechen, zu Hause nichts zu verraten.

    Alle im Dorf mussten jetzt Französisch sprechen. Claire, wie Klara nun offiziell hieß, hatte nur wenige Monate Zeit, sich in eine Französin zu verwandeln, denn im Sommer 1945 begann die École maternelle, für die Claire fast schon zu alt war. Deutsch oder Elsässisch zu sprechen war verboten. Zum Glück hatten auch die anderen Kinder Schwierigkeiten mit der neuen Sprache.

    Die Sechsjährigen waren zu Beginn des Krieges in einem Elsass geboren, das zum Deutschen Reich gehörte. Da musste Deutsch gesprochen werden oder zumindest Elsässisch. Die Tanten schärften Claire vor dem ersten Schultag ein, sie dürfe niemals sagen, dass sie ein deutsches

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