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Tiefweiß und Blütenschwarz
Tiefweiß und Blütenschwarz
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eBook357 Seiten4 Stunden

Tiefweiß und Blütenschwarz

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Über dieses E-Book

Helen, die gerade ihr Studium begonnen hat, versucht jeglichen Kontakt zu anderen Menschen zu vermeiden, denn sobald sie mit jemandem spricht, durchfährt sie ein eisiger Schmerz. Dass ihr Leiden eine ganz spezielle Gabe ist, ahnt sie nicht. Doch dann lernt sie die lebenslustige Amber kennen. Und Ethan, der Helen sofort in ihren Bann zieht. Mithilfe der beiden findet Helen den Schlüssel zu sich selbst, gerät damit aber auch immer tiefer in den Strudel aus Geheimnissen, die Ethan umgeben. Und schließlich muss sie kämpfen - um Ethan und um sich selbst.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum24. Dez. 2021
ISBN9783347368620
Tiefweiß und Blütenschwarz
Autor

Dithia Fering

Dithia Fering wurde 1995 in München geboren und lebt mit ihrem amerikanischen Mann in der Schweiz. Sie studierte Physiotherapie, fand während der Corona-Pandemie aber Zeit und Muße ihre Leidenschaft für das Schreiben zu verwirklichen - und so verfasste sie ihren ersten Roman und gründete eine Bildungswebsite rund um physiotherapeutische Themen. In ihrer Freizeit liest sie mit großer Leidenschaft nahezu alles von Kochrezepten und DIY-Anleitungen über Romane der unterschiedlichsten Genres bis hin zu wissenschaftlichen Studien. Wenn sie nicht gerade liest, findet man sie im Fitnessstudio oder beim Fotografieren in der Natur.

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    Buchvorschau

    Tiefweiß und Blütenschwarz - Dithia Fering

    Kapitel 1

    Es regnet. Ich lasse meinen Kopf gegen die harte Lehne des Bussitzes fallen und blicke auf die vorbeifliegenden Häuser, die allerdings wegen der bereits hereingebrochenen Dunkelheit und des schlechten Wetters kaum zu erkennen sind. Nur die Geschäfte und einige Büros, in denen noch gearbeitet wird, sind beleuchtet und man kann die darin beschäftigten Menschen erkennen. Es ist keine besonders schöne Stadt: viele Straßen, Autos, Hochhäuser und Menschen. Aber wahrscheinlich trifft das auf alle größeren Städte zu, ich weiß es nicht.

    Die hinter mir liegenden Vorlesungstage waren erträglich gewesen. Die hohe Anzahl an Mitstudenten und die großen Vorlesungssäle erleichtern es unbeachtet zu bleiben. Trotzdem bin ich erschöpft, wie immer nach einem Tag den ich in der Öffentlichkeit verbringen muss. Ich freue mich auf zu Hause und muss lächeln, als ich an meine Wohnung denke. Sie ist das Beste an diesem neuen Leben in der noch so fremden Stadt. Sie befindet sich im Dachgeschoss eines fünfstöckigen Altbaus und ist so klein, dass ich mich gefragt hatte, ob es überhaupt rechtmäßig sei solch eine Wohnung zu vermieten. Den obersten Stock des Hauses erreicht man im letzten Abschnitt durch ein Gebilde, das eher einer Leiter gleicht als einer Treppe und seine besten Jahre bereits hinter sich hat. Die Tür zur Wohnung öffnet – zum Glück – nach außen, denn wäre dies nicht der Fall, hätte mein Bett nicht hineingepasst. Betritt man die Wohnung, befindet sich auf der rechten Seite ein winziger Kühlschrank, auf dem ein portabler Herd inklusive Backofen und zwei Kochplatten steht. Dass es der einwandfreien Funktionsfähigkeit des Kühlschranks zuträglich ist einen Herd darauf zu platzieren, wage ich zu bezweifeln. Allerdings ist es tatsächlich der einzig mögliche Platz dafür, denn der Rest des Raumes wird vollständig von meinem Bett ausgefüllt. Das Kopfteil stößt an die linke Wand des Raumes, das Fußteil an die rechte Wand, und der Raum endet mit der Längsseite des Bettes. Das Bad liegt auf der linken Seite des Zimmers, die Tür kann nicht ganz geöffnet werden, da sie bei einem Winkel von etwa 45 Grad an die Wanne der Dusche stößt, sodass man, sobald man sich zwischen Türrahmen und Tür hindurchgequetscht hat, zunächst in der Dusche befindet, von der man das Waschbecken und die Toilette - in Armlänge - erreichen kann. Die Toilette ist so nah am Waschbecken angebracht, dass jeder Toilettengang zu einer Beweglichkeitsübung wird.

    Doch der Grund, warum ich diese Wohnung so liebe, ist die Dachgaube im Schrägdach, unter der sich ein Vorsprung befindet, groß genug, um dort sitzen zu können. Ich hatte mich sofort in diesen Platz unter dem Fenster verliebt und ihn mit Kissen und Decken zu einem Ort gemacht, an dem ich mich trotz der Fremde behaglich fühle. Vom Fenster aus kann ich auf die Straße unter mir blicken und somit auf alle Menschen, die sie von A nach B führt. Seitdem ich hier wohne, habe ich bereits Stunden damit verbracht diese Menschen zu beobachten und mir ihre Lebensgeschichten auszumalen. Von diesem wunderbaren Ort aus - und ohne die Gefahr selbst entdeckt zu werden.

    Ein starkes Ruckeln des Busses weckt mich aus meinen Tagträumen und ich fahre nach oben, um einen Blick auf die Haltestellenanzeige zu werfen. Noch zwei Stationen, ich bin glücklicherweise nicht zu weit gefahren. Ich falle wieder in mich zusammen, um weiter die dunklen Straßen und Häuser zu beobachten. Doch etwas in meinem Augenwinkel erweckt meine Aufmerksamkeit und lässt mich inne halten. Ich sehe auf. Und fahre zusammen.

    Eine Frau steht direkt vor mir. Sie ist zugegebenermaßen nicht besonders furchteinflößend, etwa Mitte sechzig, so groß wie ich und hat einen knochigen Körper. Bestimmt hatte sie einmal tiefschwarzes Haar gehabt, welches inzwischen allerdings mit zahlreichen grauen Strähnen durchsetzt ist und in einem Dutt zusammengehalten wird, aus dem sich einige lockige Strähnen gelöst haben. Augen, umgeben von Tausenden von Lachfalten sehen mich an.

    Trotzdem steigt blanke Angst in mir hoch. Mein Herz rast. Ich blicke mich um, vielleicht hat sie mich verwechselt. Erst jetzt bemerke ich, dass die meisten Fahrgäste bereits ausgestiegen sind. Diejenigen, die noch im Bus sitzen, scheinen vom plötzlichen Erscheinen der Frau vor mir keinerlei Notiz genommen zu haben. In meiner Verzweiflung beschließe ich so zu tun, als hätte ich sie nicht gesehen und versuche mich betont unbekümmert zum Fenster zu drehen.

    „Helen."

    Ich erstarre mitten in der Bewegung und Gänsehaut überzieht meinen Körper. Woher weiß sie meinen Namen?! Mich überkommt eine leichte Übelkeit. Ich drehe mich langsam wieder zu ihr und versuche mich zu wappnen für das, was unvermeidlich kommen wird.

    „Helen. Du weißt, es gibt Gut und Böse. Inzwischen gibt es mehr Böses als Gutes. Helen, bitte gehe nicht unter."

    Der Bus stoppt, die Frau dreht sich um und geht. Ich schnappe nach Luft und sehe auf meine Hände, die meinen Rucksack so fest umklammert halten, dass die Knöchel weiß hervortreten. Mir ist schwindelig, da ich offensichtlich die Luft angehalten habe. Aber ansonsten spüre ich nichts. Gar nichts. Ich bin so verwirrt, dass ich nur unter größter Anstrengung bei der nächsten Haltestelle aus dem Bus stolpere und meinen Weg nach Hause finde.

    Kapitel 2

    Gemessen an der Pfütze, die sich inzwischen unter meinen Füßen befindet, stehe ich bestimmt seit fünf Minuten wie festgewachsen in meiner Wohnung, doch meine durchnässte Kleidung und die damit verbundene Kälte, die langsam in meinen Körper dringt, lassen mich meine rasenden Gedanken beiseiteschieben und zwingen mich zur Bewegung. Ich zerre mir die an meiner Haut klebenden Klamotten herunter und zwänge mich in die Dusche.

    Das Wasser das über meinen Körper rinnt, ist – wie immer trotz voll aufgedrehten Warmwassers – eiskalt und lässt mich noch mehr frieren, als ich es sowieso schon tue. Resigniert drehe ich das Wasser ab und steige aus der Dusche und damit in eine den gesamten Badboden bedeckende, einen Zentimeter hohe Pfütze. Ich seufze, nehme mein Handtuch vom Haken an der Tür, trockne mich flüchtig ab und lege es auf den Boden, was zur Folge hat, dass das Handtuch mit Wasser vollgesogen und der Boden dennoch überschwemmt ist. Ich bin zu erschöpft dem Wasserdesaster weitere Beachtung zu schenken und zwänge mich durch Dusche und Tür hindurch zurück ins Zimmer. Ich schlüpfe in Jogginghosen sowie den wärmsten Pullover den ich besitze und krabbele über mein Bett zu meiner Lieblingsnische unter dem Fenster. Und hoffe inständig, dass sich dort, in meiner Oase und meinem Sicherheitsbunker, die Welt endlich nicht mehr zweihundertfach zu schnell dreht.

    Ich lasse mich in die Kissen sinken, schließe die Augen und versuche das erste Mal, seitdem ich die Frau im Bus gesehen habe, wieder bewusst zu atmen. Ich lege meine Hände auf meinen Bauch und atme tief durch die Nase ein. Als meine Lungen aufgefüllt sind, halte ich die Luft kurz an, dann atme ich aus, fünf Sekunden lang. Und automatisch höre ich Eleonores weiche Stimme, als würde sie neben mir sitzen.

    „Tief durch die Nase einatmen bis nichts mehr hineinpasst, kurze Pause und ausatmen, eins, zwei, drei, vier, fünf, kurze Pause und von vorne. Tiiief durch die Nase einatmen …"

    Und wie immer wenn ich ihre Stimme höre, werde ich ruhig, mein Herzschlag beruhigt sich endlich und das erste Mal an diesem Tag ist mir nicht mehr unangenehm kalt. Ich seufze und öffne die Augen. Eleonore. Meine einzige Freundin. Der einzige Mensch mit dem ich sprechen kann, der mich kennt, dem ich alles anvertraut habe. Von dem ich mich akzeptiert und geliebt fühle. Den ich selbst liebe. Wie gerne würde ich mich jetzt in den gemütlichen Ohrensessel in ihrem Büro einkuscheln, zusammen mit ihr einen ihrer exotischen Tees trinken und ihr von allem erzählen. Von meiner neuen Wohnung, dem neuen Leben. Und von der seltsamen Frau und ihren noch seltsameren Worten.

    Ein dicker Kloß breitet sich in meinem Hals aus, als ich Eleonore und den Moment unserer Verabschiedung wieder vor Augen habe. Ihre etwas fülligere Gestalt, aufrecht, voller Grazie. Die grauen Haare, wie immer streng nach hinten gekämmt, zusammengehalten in einem Dutt. Ihr Gesicht, in dem viele viele Jahre an Lebenserfahrung zu erkennen sind und welches doch, durch jedes einzelne Zeichen des Alters, zu einem noch schöneren geworden ist, als es in jungen Jahren sicherlich einmal gewesen war. Doch nun wirkt es eingefallen. Sie sieht mich an, mit ihren graublauen Augen hinter der Brille mit den dicken Gläsern und ich habe das Gefühl, sie blickt direkt in meine Seele. Dann zieht sie mich in ihre Arme.

    Mein Gesicht ist nass von den Tränen, die ich offensichtlich vergossen habe. Es ist das erste Mal seit ungefähr 15 Jahren, dass ich weine. Es tut erstaunlich gut.

    Der Klang meines eigenen Seufzens durchbricht die Stille. Ich kippe das Fenster, um die kalte Nachtluft hineinzulassen, in der Hoffnung, dass der zusätzliche Sauerstoff das Engegefühl in meiner Brust etwas lindern kann. Es regnet noch immer. Der Wind bläst mir eine schwarze Locke ins Gesicht, ich streiche sie entnervt hinter mein Ohr. Ich ziehe meine Knie zur Brust, lege mein Kinn auf meine Unterarme und starre auf meine Füße. Dabei fällt mein Blick auf ein kleines Päckchen, das neben meinen Füßen steht. Es ist das Abschiedsgeschenk von Eleonore. Ich hatte mir vorgenommen es erst zu öffnen, wenn ich Eleonore vermissen würde. Denn ich wusste, dass dieser Zeitpunkt kommen würde.

    Ich nehme das Geschenk in die Hand und betrachte es. Eine kleine schwarze Schachtel mit einer gelben Schleife. Gelb, meine Lieblingsfarbe. Ich muss lächeln. Ich ziehe an der Schleife und öffne die Box. Als mein Blick auf den Inhalt fällt, füllen sich meine Augen wieder mit Tränen.

    Es ist ein dicker, gelber Stift. Genau der dicke, gelbe Stift, der die Ursache war für meinen Beschluss, dass Weinen sinnlos sei und keine Schmerzen lindern könne. Der dicke, gelbe Stift, der mich an den Tag erinnert, an dem mir meine Schmerzen das erste Mal so bewusst waren, dass er sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Der dicke, gelbe Stift, über den ich mich zuerst so gefreut hatte, der dann zu meinem einzigen Halt wurde und den ich schließlich wieder verlor.

    Ich nehme den Stift heraus und umklammere ihn so fest wie damals. Durch einen Schleier aus Tränen erkenne ich verschwommen einige Worte auf dem Boden der Schachtel. Ich wische mir die Tränen aus den Augen.

    Du bist stark, egal wie klein du dich fühlst. E.

    Die Tränen fließen mir nun wie ein Wasserfall über die Wangen. Ich wusste nicht, dass man so viel Flüssigkeit im Körper hat, die man in Form von Tränen vergießen kann.

    „Danke, Eleonore. Danke", flüstere ich.

    Kapitel 3

    Ein unangenehmes Schrillen dringt in mein Bewusstsein und scheint sich direkt in mein Hirn zu bohren. Ich versuche meine Augen zu öffnen, was sich aufgrund der Helligkeit äußerst schwierig gestaltet. Als ich diese Hürde endlich überwunden und meine Orientierung wiedergefunden habe, stelle ich fest, dass ich gestern auf der Fensterbank eingeschlafen bin. Den Stift halte ich noch immer in der Hand. Lächelnd lege ich ihn in seine Schachtel zurück.

    Es ist nun höchste Zeit dieses sicherlich gesundheitsgefährdende laute Klingeln meines Weckers abzuschalten, also rolle ich mich von der Fensterbank. Ich lande auf meinem Bett und strecke mich so weit ich kann, bis ich endlich das schrillende Etwas erreiche, das am Boden neben meinem Bett steht.

    Die darauf einsetzende Stille würdige ich mit einem tiefen Atemzug bei geschlossenen Augen, bevor ich schließlich aufstehe. Meine Klamotten von gestern liegen noch immer zusammengeknüllt auf dem Boden, sind feucht und fangen bereits an zu müffeln. Also spanne ich meine Wäscheleine von der Türklinke der Wohnungstür zur Türklinke der Badtür. Das Resultat sind ganze eineinhalb Meter Wäscheleine, über die ich meine Kleidung, teilweise übereinander, hänge. Ich lasse mich auf die Knie fallen, um frische Kleidung aus den Kisten unter meinem Bett zu holen, krieche unter der Wäscheleine hindurch und zwänge mich ins Bad. Mir entfährt ein resignierter Laut als ich bemerke, dass der Boden nach wie vor überschwemmt ist und mein Handtuch klitschnass. Ich hebe es vom Boden auf, wringe es in der Dusche aus und hänge es wieder an die Tür. Nachdem auch mein zweites Handtuch mit Wasser vollgesogen ist, verwende ich eine ganze Rolle Klopapier um den Boden zumindest einigermaßen zu trocknen. Ich muss meine Duschzeit wohl noch weiter reduzieren, um Wasserschäden zu vermeiden.

    Ich schlüpfe in meine Klamotten und werfe einen Blick in den Spiegel. Ich sehe in schwarze, große Augen, die im Moment, ähnlich wie bei einer allergischen Reaktion, geschwollen und rot umrandet sind. Die schwarzen Locken kleben teilweise am Gesicht oder in dicken Strähnen zusammen - wohl den salzigen Tränen der letzten Nacht geschuldet. Alle restlichen Haare stehen in undefinierbaren Wellen und Locken in alle möglichen Richtungen. Sie umrahmen ein helles Gesicht, dessen Hautfarbe wohl auch als bleich bezeichnet werden könnte. Ich versuche mit Hilfe meiner Bürste des Haarchaos´ Herr zu werden und das Nest auf meinem Kopf in einem Zopf zusammenzubinden. Die Folge sind mehrere ausgerissene Haarbüschel und ein Ergebnis, von dem ich nicht sicher bin, ob es eine Verbesserung zum vorherigen Zustand ist. Ich kann keinen neuen Versuch starten, wenn ich pünktlich zur ersten Vorlesung kommen möchte. Ich quetsche mich also aus dem Bad und unter der Wäscheleine hindurch, schnappe mir meinen Rucksack und mache mich auf den Weg zur Bushaltestelle.

    Mit etwa 10 Minuten Verspätung erreiche ich schnaufend die Universität. Zum Glück befinden sich die Türen zum Vorlesungssaal hinten, sodass ich mich unauffällig hineinschleichen kann und alleine in der letzten Reihe Platz nehme.

    Kapitel 4

    So sehr ich es auch versuche - ich kann mich heute nicht darauf konzentrieren, was der Professor Wichtiges zu erzählen hat. Immer wieder kehren meine Gedanken zu der Frau aus dem Bus zurück. Die innere Unruhe lässt mich auf meinem Stuhl nervös hin- und herrutschen. Ich bin zutiefst irritiert und kann schlichtweg keine Erklärung für das Geschehene finden. Woher sie meinen Namen kannte. Was sie mit ihren Worten meinte. Und warum ich nichts fühlte, als sie mit mir sprach. Vielleicht habe ich mir alles nur eingebildet? Erst als meine Mitstudenten aus dem Vorlesungssaal strömen, wird mir bewusst, dass es bereits Mittagszeit ist. Und dass ich nichts von der Vorlesung mitbekommen habe. Hoffentlich wird alles Wichtige in den Unterlagen stehen.

    Mittagszeit bedeutet Mensazeit und meine Herzfrequenz steigt augenblicklich. Die Gefahr angesprochen zu werden ist in einer überfüllten Mensa - ohne Chance auf einen freien Tisch - sehr viel höher als während einer Vorlesung. Ich beschließe deswegen, den größten Ansturm zu umgehen und zwanzig Minuten draußen Luft zu schnappen. Auch wenn bis dahin sicherlich der essbare Teil des Mensafraßes bereits weg ist und ich nur noch 25 Minuten zum Essen habe. Aber die Entscheidung zwischen widerlichem Essen oder Schmerzen fällt für mich eindeutig zugunsten des widerlichen Essens aus. Ich ziehe meine Jacke bis oben hin zu und wickle mir meinen Schal zweimal um den Hals, sodass mein halbes Gesicht unter ihm verschwindet.

    Als ich nach draußen trete, schlägt mir kalte Novemberluft entgegen. Zum Glück regnet es nicht mehr, aber der Himmel ist grau. Und irgendwie wirkt meine ganze Umwelt grau, als würde man sie durch eine verdunkelte Scheibe sehen. Ich laufe los, die Straße entlang, um den Studentenansammlungen vor der Uni zu entkommen. Ich stelle mir vor, ich hätte meinen gelben Stift bei mir und könnte diesem grauen Wetter ein paar Farbtupfen verpassen. Der Gedanke heitert mich auf und ich biege lächelnd in eine Seitenstraße ab. Sie ist so schmal, dass ein Auto nicht hindurchpassen würde, und der Asphalt wurde offensichtlich seit Jahren nicht erneuert. Die mit Wasser gefüllten Schlaglöcher zwingen mich auf den Boden zu sehen, denn ich habe keine Lust den Rest des Tages mit nassen Füßen zu verbringen.

    Als ich aufschaue um zu sehen wo ich überhaupt hinlaufe, entfährt mir ein leiser Schrei und ich stoppe so abrupt, dass ich fast das Gleichgewicht verliere. Ich sehe in ein Gesicht. Das Gesicht der Frau aus dem Bus. Mein Herz rast und ich habe das Bedürfnis wegzulaufen. Aber meine Füße sind wie angewurzelt. Ich starre ihr ins Gesicht und hebe meine Hände, bereit zur Verteidigung. Sie aber steht nur da und lächelt. Die mehr grauen als schwarzen lockigen Haare sind wie gestern – wenig erfolgreich – in einem Dutt zusammengehalten. Ihre großen schwarzen Augen liegen auf mir, ihr Blick ist sanft. Ich muss mir eingestehen, dass sie wirklich alles andere als bösartig wirkt, und lasse meine Hände wieder sinken.

    „Helen, es gibt Gut und Böse. Gut und Böse sind Eigenschaften, die wir einem Menschen äußerlich nicht ansehen können. Du wurdest als ein ganz besonderer Mensch geboren, denn du siehst nicht nur durch deine Augen." Sie lächelt mich an, dreht sich um und verschwindet um die Ecke.

    Ich weiß nicht wie viele Minuten vergangen sind, als ich aus meiner Erstarrung erwache. Aber es ist sicherlich höchste Zeit sich auf den Rückweg zu machen. Meine Beine scheinen mein Gewicht nicht mehr richtig tragen zu wollen und ich fühle mich so wackelig, dass ich bestimmt wirke, als hätte ich ein Gläschen zu viel gehabt.

    Ich habe so viele Fragen im Kopf, dass er zu bersten scheint. Bin ich endgültig verrückt geworden? Mit Nachdruck lasse ich die Luft, die sich in meinen Lungen angesammelt hat, ausströmen. Es ist nicht so, dass mir die von der Frau angesprochene Thematik vollkommen fremd wäre. Wenn man keine Freunde hat, hat man viel Zeit zum Nachdenken. Und ich bin mir inzwischen sicher, dass ich mich nicht in einem von Karl Mays Winnetou-Geschichten befinde, in denen man klar trennt: Gut und Böse. Schwarz und Weiß. Das Leben hat nun mal Millionen von Grautönen, hellere und dunklere. Wahrscheinlich gibt es nicht mal ein klares Weiß und reines Schwarz. Und ich soll etwas Besonderes sein? Ich sehe nicht nur durch die Augen? Und warum, verdammt nochmal, fühle ich nichts, wenn diese merkwürdige Frau mit mir spricht?

    Inzwischen habe ich die Uni erreicht und bemerke, dass ich noch ganze fünfzehn Minuten habe, bevor die nächste Vorlesung startet. Ich beschleunige meinen Schritt und stelle zufrieden fest, dass mein kleiner Ausflug, wenn auch unerwünscht aufwühlend, doch zumindest seinen Zweck erfüllt hat. Die Mensa leert sich zunehmend. Die Begeisterung darüber legt sich schnell, als ich einen Blick auf die noch vorhandenen Essensreste werfe.

    Ich lande schließlich bei verkochten Nudeln mit Salatdressing. Mit dem Tablett und dem sich darauf befindlichen ekelerregenden Essen mache ich mich auf den Weg in Richtung des Tisches, den ich bereits beim Hereinkommen als den perfekten Platz auserkoren hatte. Es ist der einzige Tisch für nur zwei Personen und steht ganz am Ende des Raumes, eingepfercht hinter einer Säule. Durch das große Fenster hat man einen wunderbaren Blick auf den Vorplatz der Universität.

    Plötzlich sehe ich im Augenwinkel eine Person – ebenfalls mit Tablett in der Hand –, die verdächtig lange in die gleiche Richtung läuft wie ich. Ich lege einen Zahn zu. Die Person neben mir scheint dieselbe Idee zu haben. Als ich fast schon außer Atem mein Ziel erreiche, knalle ich mein Tablett auf den Tisch. Exakt im gleichen Moment wird auf der gegenüberliegenden Seite ein Tablett auf den Tisch geknallt.

    Ich seufze. Das war es dann wohl mit dem schönen Platz. Ich mache mit noch immer gesenktem Kopf kehrt – eine Strategie, die ich mir über die Jahre hinweg angeeignet hatte, um möglichst wenig aufzufallen und somit nicht angesprochen zu werden.

    „Warum möchtest du genau an diesem Tisch sitzen?"

    Mein Herz setzt für einen Moment aus, nur um in der nächsten Sekunde in doppelter Geschwindigkeit wieder einzusetzen, als eine tiefe und raue Frauenstimme von der anderen Seite des Tisches zu mir dringt. Ich erstarre mitten in der Bewegung, schließe die Augen und warte. Das Blut rauscht in meinen Ohren und ich habe das Gefühl mein ganzer Körper würde vor Anspannung pulsieren. Ich warte. Und warte. Vergeblich. Stattdessen breitet sich eine fast schon vergessene Wärme in meiner Bauchgegend aus. Mein Herz rast, als wollte es vor Freude Purzelbäume schlagen.

    „Kannst du nicht sprechen?"

    Ich kann das Grinsen in der Stimme hören. Die Wärme durchströmt meinen ganzen Körper. Ein Lächeln so groß, dass es fast schon weh tut, überzieht mein Gesicht und ich wage mich zurückzudrehen, um die Person zu sehen, zu der diese Stimme gehört.

    „Er ist klein, steht abseits und man hat einen schönen Blick nach draußen", antworte ich.

    Ich hebe den Kopf, was fast nicht nötig gewesen wäre, denn die junge Frau mir gegenüber ist etwa eineinhalb Köpfe kleiner als ich. Ich zucke sogar ein wenig zusammen, als ich sie ansehe, da sie irgendetwas an sich hat, das sie leuchten zu lassen scheint. Es beginnt bei ihren zu einem Bob geschnittenen sicherlich gefärbten knallroten Haaren, die ihre grünen, katzenförmigen Augen und die cappuccinofarbene Haut noch mehr strahlen lassen. Sie hat eine markante Nase und ein unfassbar breites Lächeln mit strahlend weißen Zähnen. Ihr Pullover hat exakt die Farbe ihrer Augen und bestimmt zehn filigrane goldfarbene Ketten baumeln um ihren Hals.

    „Diese Antwort ist richtig. Der Preis dafür ist die Erlaubnis mit mir zu speisen."

    Ich grinse und mache einen Knicks. „Sie sind so großzügig. Was für eine unfassbare Ehre."

    Sie lacht ein tiefes, raues, vor allem aber echtes Lachen und wir setzen uns. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich einen weiteren Menschen auf dieser Welt gefunden zu haben scheine, mit dem ich sprechen kann.

    „Und wir scheinen nicht nur unsere Vorliebe für kleine, abgelegene Tische zu teilen, sondern auch einen ähnlichen Geschmack zu haben."

    Sie macht eine wedelnde Handbewegung zwischen unseren Tellern und ein angewiderter Ausdruck huscht über ihr Gesicht. Ich gluckse, als ich die gleiche fragwürdige Kombination aus Nudeln und Salatdressing auf ihrem Teller sehe.

    „Bestätigt mich allerdings in meiner Annahme, dass diese Kombination die noch am wenigsten kriminelle ist. Ich bin übrigens Amber."

    Sie streckt mir ihre Hand entgegen. Ich schüttele sie. „Ich bin Helen. Ich freue mich wirklich dich kennenzulernen."

    Wenn sie nur wüsste, wie sehr ich den eben gesprochenen Satz auch meine.

    „Gleichfalls."

    Wir lächeln uns an und nehmen unsere Gabeln in die Hand. Der Mut verlässt uns allerdings zur selben Zeit wieder und wir lassen die Gabeln sinken. Wir müssen beide lachen, starten dann aber entschlossen einen neuen Versuch.

    Sämtliche Muskeln in meinem Mund ziehen sich zusammen, als ich in geschmacklose Nudeln mit der Konsistenz einer Qualle beiße, umgeben von Soße, die ausschließlich aus Essigessenz zu bestehen scheint. Ich kneife meine Augen zusammen und versuche den Würgreflex zu ignorieren und das, was sich da gerade in meinem Mund befindet, irgendwie meine Speiseröhre hinab zu befördern. Ich stöhne auf, als ich es endlich halbwegs geschafft habe und kippe den gesamten Inhalt meines Glases Wasser hinterher.

    Umso überraschter bin ich, als ich meine Augen wieder öffne und in Ambers Gesicht sehe. Auch sie hat die Augen geschlossen, aber scheinbar aus anderem Grund als ich. Sie ist die Inkarnation der Zufriedenheit. Ihr Mund ist so voll gestopft, dass sie einem Hamster wirklich ähnlich sieht. Einem Hamster mit roten Haaren.

    „Das ist richtig gut."

    Ihre Worte sind zwischen Kauen und etlichen Hmmms nur mit viel Fantasie zu verstehen. Amber öffnet die Augen und ihre Kaubewegungen stoppen augenblicklich, als sie meine weit aufgerissenen Augen sieht. Sie schluckt die kolossale Menge an Essen, die sich gerade in ihrem Mund befindet, ohne weitere Zerkleinerungsversuche auf einmal herunter. Ich bemerke, wie sich mein Gesicht unwillkürlich verzieht, während ich inständig hoffe, dass ihre Speiseröhre diese Menge an Volumen und Essig unbeschadet übersteht.

    „Findest du nicht?!"

    Ihr scheint es also gut zu gehen.

    Ich schüttele fassungslos den Kopf. „Ich glaube, das ist das Ekligste, was ich je in meinem Leben gegessen habe. Und das will in meinem Fall etwas heißen. Ich bin mir nur noch nicht ganz sicher, ob ich Angst vor dir haben oder dich einfach nur abstoßend finden soll."

    Amber lacht so laut auf, dass sich einige der wenigen Studenten, die sich noch in der Mensa befinden, umdrehen. Sie sieht mir in die Augen. „Ich mag dich, Helen."

    Und schon schiebt sie sich die nächste gewaltige Ladung an ekelerregenden Nudeln in den Mund.

    „Und was studierst du?"

    Sie scheint eine Vorliebe zum Sprechen mit vollem Mund zu haben.

    „BWL im ersten Semester."

    „Oh wow. Du musst intelligent sein. Und warum BWL?"

    „Ich glaube nicht, dass ich besonders intelligent bin. Ich versuche einfach fleißig zu sein. Und BWL deswegen, weil ich ehrlich gesagt nicht wusste, was ich studieren soll. Und keine besonderen Talente habe." Ich zucke mit den Schultern.

    „Ja, das kenne ich. Ich wollte eigentlich eine Gesangsausbildung machen, aber mein Dad meinte es wäre sinnvoller zu studieren. Also habe ich mit Kommunikationswissenschaften angefangen, weil ich gerne rede. Ich bin mir aber nicht mehr ganz sicher, ob diese Argumentationskette so richtig war."

    Ich muss mich konzentrieren ihre Worte, die irgendwo zwischen Massen an quallenartigen Nudeln hervorkommen, zu verstehen.

    „Und bist du neu hier?", fragt sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen - natürlich nicht, bevor sie sich nicht eine weitere Gabel voller

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