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DAS KOMPLOTT (The Shine): dystopischer Thriller
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eBook557 Seiten7 Stunden

DAS KOMPLOTT (The Shine): dystopischer Thriller

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Über dieses E-Book

"Für alle, die auch gerne mal eine Dystopie lesen möchten, die in Russland angesiedelt ist, kann ich dieses Buch nur wärmstens empfehlen. Ein spannendes Buch, welches Lust auf mehr macht." [Lesermeinung]

Inhalt:

Russland 2071.
Nach einem verheerenden Atomkrieg in den 2020er Jahren liegt über der Welt noch immer ein Schatten der Verwüstung. Eine amerikanische Privatarmee fällt in andere Länder ein und betreibt Ressourcenraub. Doch damit dient sie lediglich als Deckmantel einer fundamental-christlichen Organisation, die monströse Experimente am Menschen durchführt, um ein künstliches Paradies zu erschaffen: The Shine.
SpracheDeutsch
HerausgeberLuzifer-Verlag
Erscheinungsdatum2. Juni 2017
ISBN9783958352261
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    Buchvorschau

    DAS KOMPLOTT (The Shine) - Skadi Void

    25

    Kapitel 1


    Russland, 28. August 2071. Stützpunkt Sokolskaja bei Archangelsk.

    Vibrationen schlichen sich in ihr Innenohr. Tarja hielt erschrocken den Atem an. Ist das der Bass oder sind es Schritte? Unauffällig rutschte ihr Daumen zu ihrem MP3-Player, der damals sündhaft teuer gewesen war. Sie stellte auf Pause.

    Ihre Befürchtung bestätigte sich: Irgendwer erdreistete sich, sie an ihrem Lieblingsplatz unter der alten Eiche zu stören! Die traute Zweisamkeit zwischen ihr und ihrem Heavy Metal war in akuter Gefahr. Dem jungen Mädchen dämmerte: Es musste damit zu tun haben, dass heute Freitag war. Freitagabend. Nach einer schweißtreibenden Woche suchten Rekruten wie Offiziere Entspannung. In einem der Schuppen stieg vermutlich eine Party, und der schmale Pfad an ihrer Eiche vorbei war der kürzeste Weg dahin.

    So ein Pech.

    Die Schritte hielten direkt vor ihr.

    »Mach dir keine Gedanken«, sagte eine männliche Stimme. »Es ist nicht verboten, hier zu liegen. Wenn sie eine Erkältung riskieren will, ist das ihr Problem.«

    »Eine Disziplinlosigkeit!«, beschwerte sich schnaubend eine zweite. »Dass sich einige unserer Jungs zum Wochenende einen antrinken wollen, verstehe ich ja. Aber das? Ich frage mich, wie viel Promille man haben muss, um wie ein Hund auf dem Boden zu liegen! Wecken wir sie auf. Wer weiß, ob sie nicht ins Lazarett gehört in ihrem Suff.« Gereizt, aber auch belustigt schlug Tarja die Augen auf. Sie zog die Stöpsel aus den Ohren und stopfte den Player zurück in ihre Jacke. Vor ihr standen zwei Rekruten, kaum älter als sie selbst.

    »Ich fühle mich noch ziemlich fit«, klärte sie die verdutzten Männer auf. »Und geschlafen habe ich auch nicht. Nur fast, aber das ist hier auch nicht verboten, soweit ich mich entsinne!«

    Sie setzte sich auf und griff nach ihrer Wodkaflasche. Vor den Augen der beiden nahm sie zwei große Schlucke.

    »Diese Flasche, meine Herren«, erklärte sie, während sie mit dem fingerlosen Lederhandschuh über ihre Lippen wischte, »enthält Limonade. Ehe das Zeug Umdrehungen kriegt, müsste ich es schon ein paar Wochen auf meiner Fensterbank dümpeln lassen.«

    Sie streckte den Männern die Flasche hin. »Möchten Sie sich vergewissern?«

    Die Rekruten winkten hastig ab und verzichteten auf eine Geschmacksprobe. »Schönen Abend noch«, murmelte einer. Peinlich berührt zogen sie ab.

    Tarja blieb noch einige Augenblicke sitzen und genoss den kleinen Triumph. Schlagfertiges Meistern problematischer Situationen war zu so etwas wie ihrer Spezialität geworden. Es gab Tage, da zog sie fremdes Misstrauen geradezu magisch an. Allerdings gelang es ihr ebenso zuverlässig, solch unangenehmen Momenten wieder zu entschlüpfen.

    Sie kniff die Augen zusammen, als sich ihr Magen unwohl unter der Wärme des Alkohols verkrampfte. Ein Schluck weniger wäre für einen glaubwürdigen Bluff genug gewesen!, tadelte sie ihr Ich von vergangener Minute. Insbesondere mit Rücksicht darauf, dass die 18-jährige Tarja Petrovna Dragunova nur sehr geringe Mengen vertrug, ohne schnell und spürbar einen Schwips zu bekommen.

    Eine Eigenschaft, die sie nicht daran gehindert hatte, diesen Wodka als Geschenk anzunehmen. Ein gut gelaunter Soldat hatte ihr die Flasche vor einer Stunde in die Hand gedrückt. Über diese Nettigkeit hinweg hatte Tarja ihre annähernde Alkoholunverträglichkeit vergessen. Sie war auf einen ihrer infantilsten Charakterzüge hereingefallen: Geschenken konnte sie nicht widerstehen.

    Immerhin habe ich Raketa zugemischt. Das war ein allseits beliebtes, koffeinhaltiges Erfrischungsgetränk.

    Sie stand auf und streckte sich. Der Himmel war den ganzen Tag über klar gewesen. Goldene Sonnenstrahlen bahnten sich hartnäckig ihren Weg durchs Nadelgeäst. Die alten Kasernen zeichneten sich klar vom pastellfarbenen Himmel ab.

    Die Romantik dieses Abends hätte ein würdiges Postkartenmotiv abgegeben. Doch Tarja betrachtete das Himmelsspektakel inzwischen mit einer gewissen Pragmatik.

    Sie diente der Russischen Garde seit einem Jahr. Ebenso lange war sie auf Sokolskaja stationiert, einem landesweit bekannten Stützpunkt. Die Rekrutierung war ein Meilenstein in ihrem Leben gewesen. Gegen den puren Überlebenskampf von damals kam ihre Ausbildung zur Fliegerin heute fast einem Spaziergang gleich.

    Noch immer genoss sie den schieren Luxus, der sie tagtäglich umgab. Manchmal konnte sie ihr Glück kaum fassen: Die Treppen waren heil, die Mauern zwar rissig, aber stabil. Die Dächer hielten dicht, und es gab fließend Wasser. Das sogar gefiltert war.

    Tarja seufzte. Und nun? Es war noch nicht mal halb neun. Auf Party hatte sie keine Lust, und beim Flugplatz gab es keine Aufgaben, die es wert waren, gegen Freizeit getauscht zu werden. Obgleich sie momentan in einer üblen Blockade steckte, beschloss Tarja, in ihr Zimmer in Baracke 4 zurückzukehren und an ihrem improvisierten Schreibtisch ein bisschen Malerei zu betreiben.

    Die Leinwände und Farben hatten ihr halbes Vermögen aufgefressen und waren viel zu lange vernachlässigt worden. Zwar produzierte sie in der Zwischenzeit zur Kompensation Unmengen von Skizzen und Bleistiftzeichnungen, doch es gab ein Problem: Kameraden und direkte Vorgesetzte reagierten nicht gerade geschmeichelt auf die karikativen Schnellporträts. Auch, wenn sie ihre Zeichnungen nicht offen herumzeigte – es gab immer jemanden, der einen Zettel stibitzte und durch die Runde gehen ließ. Und so hofften die meisten Beteiligten, dass sich Tarja endlich wieder aufs Malen konzentrieren würde.

    Sie schlenderte über den moosigen Trampelpfad. Dass sich unter dem natürlichen Teppich eine dicke Schicht Beton verbarg, ließ sich kaum noch erahnen. Die Verwaltung verschwendete keine Mühe darauf, den Bewuchs hier aufzuhalten. Warum auch – es ließ sich sogar besonders angenehm darauf laufen. Auf dem großen Platz vor der mächtigen Offizierskaserne hingegen war der Beton weitgehend nackt. Das geringe Budget, das Sokolskaja zur Verfügung stand, wurde effizient genutzt, nur die wichtigen Anlagen wurden so gut wie möglich instand gehalten. Und das zahlte sich aus. Die Kasernen von Sokolskaja waren, verglichen mit dem Rest des gezeichneten Landes, echte Schmuckstücke.

    Tarja hatte sich nie schwer damit getan, bescheidene Verhältnisse zu akzeptieren. Für sie waren die ›besseren Zeiten‹ von früher nichts als Bilder, die ihre Fantasie aus den nostalgischen Geschichten anderer geformt hatte, erlebt hatte sie sie nicht.

    Die Älteren konnten die Umstände der Gegenwart nicht so leicht hinnehmen. Sie träumten oft von der alten Zeit, in der es überall warmes Wasser gab und Strom im Überfluss aus jeder Steckdose. Heute war ein Dorf mit Stromgenerator ein gesegnetes. Holzsammeln gehörte zum Alltag.

    Doch es gab auch Ältere, die der heutigen Zeit Gutes abgewinnen konnten. Tatsächlich lag auch eine gewisse Idylle darin, in einer Welt zu leben, die aus den Überresten vergangener Generationen bestand.

    Sie schlenderte entspannt über den Hauptplatz. Mehrere bekannte Gesichter kamen ihr entgegen und liefen scherzend und lachend an ihr vorbei. Tarja gönnte ihren Kameraden den ausklingenden Feierabend in geselliger Runde. Doch sie empfand auch eine Spur von Bitterkeit. Obwohl sie seit einem Jahr auf Sokolskaja lebte, war nicht zu leugnen, dass es noch immer an den sozialen Bindungen haperte. Sie verstand sich lose mit den Leuten, doch für tiefere Freundschaften reichten die Bekanntschaften nicht aus.

    Als Eigenbrötler hat man es nun mal ein bisschen schwerer, hatte sie sich anfangs getröstet. Doch im Laufe der Ausbildung war auch bei wohlwollender Betrachtung nicht zu übersehen gewesen, dass ein zusätzlicher Faktor mitspielte, der mit ihrem Wesen nichts zu tun hatte.

    Vorgesetzte lobten sie häufig. Ihre Flugstunden überragten die Flugstunden der meisten Kameraden. Ihre Leistungen waren mehrfach als beträchtlich eingestuft worden. Tarja gab eine talentierte, junge Fliegeranwärterin ab – ein Lob, das nicht allen 32 Schülern des Kampfgeschwaders zuteilwurde. Aber selbst vor den Soldaten der legendären Russischen Garde machte der niedere menschliche Hang zum Neid keinen Halt, und Tarja gehörte mit ihren 18 Jahren der Minderheit der Jüngsten und der Minderheit der Frauen an. Da schmeckte es dem ein oder anderen jungen Mann wenig, von einer doppelten Randfigur in seinem Können überragt zu werden. Denn auf dieses Können war man im Kampfgeschwader stolz – so unscheinbar man als Teil des Ganzen auch sein mochte.

    »Dragunova!«

    Eine bekannte Stimme schreckte sie auf. Tarja blickte in das Gesicht von Gregor Kuzmin und stöhnte innerlich. Gregor war ein besonders aufdringliches Exemplar von Kamerad und ließ keine Gelegenheit aus, bevorzugt Tarja auf die Nerven zu gehen. Er war in Begleitung zweier breiterer Jungs aufgekreuzt und grinste Tarja provozierend an.

    Tarja verfiel sofort in ihr altes Muster. Sie setzte eine gelangweilte Miene auf und hob ungeduldig eine Augenbraue. Doch immerhin wusste sie, dass sie von Kuzmin nichts zu befürchten hatte, das unter die Gürtellinie ging. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass seine Sticheleien harmlos waren. Trotzdem konnte Tarja auf Gregors Gesellschaft eher verzichten.

    Das Grinsen hielt sich hartnäckig in seinem Gesicht. »Oh Wunder! Tarja, du bist ja ohne dein kleines Anhängsel unterwegs!«

    »Wir sind nicht zusammengewachsen«, gab Tarja kühl zurück. »Anders als du muss ich nicht ständig Leute um mich scharen, um mich psychisch stabil zu fühlen.«

    Kuzmin, obwohl er die Schlagfertigkeit Tarjas bereits kennengelernt hatte, gab ein überraschtes Prusten von sich. »Die zwei sind ganz freiwillig hier! Stimmt's?« Nacheinander sah er zu seinen Kumpels und erntete folgsames Nicken. »Weil ich eben ein cooler Typ bin.«

    »Klar«, entgegnete Tarja emotionslos und lief weiter.

    Manchmal war sie nicht ganz sicher, wie viel Selbstironie eigentlich in Kuzmins Äußerungen lag. Das hätte ihn in ihrem Kurs steigen lassen. Aber solange sie sich dessen noch nicht sicher war, bekam er auch keine Sympathiepunkte dafür. Am ehesten hielt sie für wahrscheinlich, dass Gregor seine Selbstironie nur vortäuschte, um lässiger dazustehen.

    »Halt, halt, halt!« Kuzmin hüpfte ihr hastig nach. »Willst du gar nicht wissen, wo sich Klein-Yuri heimlich herumtreibt? Ich weiß es!«

    Tarja hielt widerwillig inne. Unschlüssig kehrte sie Kuzmin ihre Seite zu. »Am Ostrand, auf der Eiche? Oder bei den Erdbeerfeldern? Oder auf dem Dach der Kaserne? Alles nichts Neues für mich.«

    Es war nicht schwer, in einem Atemzug Yuris Lieblingsplätze aufzuzählen. Kuzmins sich hämisch verengende Augen kündigten Tarja jedoch unheilvoll an, dass sie falsch geraten hatte.

    »Äh-Äh!« Er schwenkte seinen Zeigefinger und grinste noch breiter. »Tut mir leid, Tarja, aber da liegst du daneben. Yuri wurde in Schuppen 3 gesichtet. Gefangen in den Reihen des halben Panzerbataillons. Soll schon einiges intus haben, sagt man sich!«

    Tarja erstarrte. Um Kuzmin keine Genugtuung zu gönnen, fragte sie mit mühsam zurückgehaltenem Interesse: »Und was sollte Yuri dazu bewegen, in diesen Schuppen zu gehen?«

    »Ist zum Abfüllen abgeschleppt worden.« Er zwinkerte Tarja zu. »Passiert schnell mal mit den Naivchen unter uns.«

    Tarja schluckte ihren Stolz gewaltsam herunter. Sie machte kehrt, rannte den Weg zurück, den sie gekommen war, und erreichte über den Trampelpfad bald die ›Schuppen‹, wie man die drei benachbarten Gerätehallen nannte. Seit der Neusortierung des Stützpunktinventars dienten die Schuppen nur noch rudimentär zur Unterbringung alter Gerätschaften, und so hatte man sie offiziell zu Kneipen umfunktioniert. Doch wie alles im Leben hatte auch diese positive Entwicklung eine Kehrseite: Die Schuppen waren dafür bekannt, dass sich in ihnen ausufernde Alkoholexzesse ereigneten.

    Tarja bekam ein flaues Gefühl im Magen. Yuri vertrug noch weniger Alkohol als sie. Trotzdem war es seit ihrer gemeinsamen Rekrutierung schon acht Mal vorgekommen, dass Yuri auf ›einen‹ Drink eingeladen wurde. Yuri erregte Aufmerksamkeit. Wofür der wichtigste Grund wohl ihr niedriges Alter war – oder das Alter, welches man Yuri bei der ersten Begegnung zuschrieb.

    Außer Atem sah sie sich um. Auf der betonierten Fläche standen Wagen geparkt, die gleich nach den letzten Manövern zielstrebig hier abgestellt worden waren, und wie üblich bezweifelte Tarja, dass irgendjemand vor zehn Uhr morgens fahrtüchtig genug sein würde, um sein Auto hier wieder wegzufahren.

    Die Schuppen lagen ein wenig versetzt voneinander und waren verschieden groß. Während sich Nummer 1 und 2 in Grundfläche, Höhe und Form kaum unterschieden, war Schuppen 3 deutlich kleiner. Dafür war er auch besser ausgebaut und wirkte nicht, als würde er beim nächsten Orkan eventuell auseinanderfallen.

    Mit einem Drücken im Bauch schlängelte sich Tarja durch die Menge vor dem Eingang, und je weiter sie kam, desto mehr Striche und Sterne glänzten ihr auf den Schulterklappen entgegen. Respektvoll wich sie Entgegenkommenden aus. Auf keinen Fall durfte sie jemanden streifen oder anrempeln! Denn Schuppen 3 war, das war ungeschriebenes Gesetz, ausschließlich den Offizieren von Sokolskaja vorbehalten.

    Nervös schob sie sich durch den Eingang. Stimmengewirr, das Klirren von Gläsern und Flaschen und die unverkennbare Geruchsmischung von Zigarrenrauch und Schnaps schlugen ihr entgegen. Tarjas Pupillen mussten sich erst an das Zwielicht anpassen. Letztes Tageslicht, das durch die offene Tür sickerte, sorgte zusammen mit den nackten Glühlampen für eine nur mäßige Beleuchtung. Alte Holztische und rostige Stühle bildeten das spärliche Mobiliar, das nichtsdestotrotz jenes in Schuppen 1 und 2 übertraf: Dort standen ausgediente Tonnen und Baumstümpfe.

    Der Laden war voll. Tarjas Blick huschte unruhig durch die Reihen. Bekannte und unbekannte Gesichter tummelten sich an den Tischen und an der Bar. Angeregt unterhielt man sich, trank Alkohol, maß sich im Armdrücken oder spielte Karten. Die Stimmung war gelöst; ein angenehmer Ausgleich zu der Strenge, mit der die Offiziere das Dienstliche regelten. Tarja holte tief Luft. Sie zog die Pilotka tiefer in die Stirn und marschierte los.

    Was um alles in der Welt konnte Yuri ausgerechnet in den Offiziersschuppen verschlagen haben? Tarjas scharfes Auge scannte die Tische ab, doch Yuri war nirgends auszumachen.

    Hoffentlich komme ich nicht zu spät, betete sie. Ansonsten sah sie das bekannte Unglück nahen: Yuri taumelte irgendwann spätnachts ins Zimmer, kotzte die Toilette voll … und würde die nächsten beiden Tage brauchen, um sich vom Delirium zu erholen. Da außerdem Wochenende war, wollte Tarja ihnen beiden dieses Desaster ersparen.

    Sie drang immer tiefer in den Schuppen ein, der von innen beträchtlich größer wirkte. Hier war sie noch nie gewesen. Zu ihren Seiten spürte sie argwöhnische Blicke oder bildete sie sich ein. Sie hoffte, von niemandem angehalten zu werden. Doch die Offiziere waren zu sehr mit ihren Tischrunden beschäftigt, als dass eine einfache Rekrutin am wohlverdienten Freitagabend ihr Interesse verdiente.

    Am linken Rand ihres Gesichtsfeldes erregte eine bekannte Erscheinung Tarjas Aufmerksamkeit. Eine dunkelblaue Uniform der Fliegerflotte stach verheißungsvoll zwischen schwarz uniformierten Panzergrenadieren hervor. Bevor sie genauer hinsehen konnte, schob sich ihr jemand in den Weg. Sie wollte die nächste Gelegenheit abpassen, sich durch die eng stehenden Tische zu schieben. Dabei sah sie einen Moment zu lange nicht geradeaus, und …

    … stieß mit jemandem zusammen.

    Tarja erstarrte. Sie war selbstverschuldet mit jemandem kollidiert. Ihre Schulter hatte den Brustkorb eines Offiziers gerammt.

    Ihr Herz begann zu rasen. Hitze stieg ihr in den Kopf. Jetzt brauchte sie eine gute Entschuldigung.

    Sie zwang sich, zu dem Ranghöheren aufzusehen. Ihre Augen wanderten von den polierten Lederstiefeln empor zum Gesicht des Mannes. Ein heißer Stich durchfuhr sie: Es war kein Fremder, der vor ihr stand und sie mit sachlichem Blick aus weniger als einer Ellenlänge Entfernung musterte. Aus dieser Nähe hatte sie ihn noch nie gesehen: Pavel Anatoljewitsch Kirov, den 30-jährigen Kommandanten der 13. Kompanie. Der Kompanie, zu der auch ihre Fliegerflotte zählte. Seine rote Offiziersmütze mit ledernem Saum war durch den Zusammenprall leicht verrutscht. Sie entblößte seine kurzen, dunklen Haare. Unter seinem doppelreihigen, dunkelgrauen Mantel mit den blutroten Ärmelenden schaute das graue Diensthemd hervor, das am heutigen Abend bereits einen Rotweinfleck abbekommen hatte. Tarja hatte Kirov schon gepflegter erlebt. Dennoch wagte sie kaum zu atmen.

    Die schmalen Augen des Kommandanten betrachteten sie still und skeptisch. Kirovs Mimik hätte auf dem Antlitz eines anderen wohl eher teilnahmslos als streng gewirkt. Doch seine scharfen Züge, die durch seinen getrimmten Spitzbart betont wurden, verliehen seinem Blick Intensität.

    Tarja befreite sich aus ihrer Starre. Sie streckte sich und salutierte. »Bitte verzeihen Sie, Herr Oberleutnant«, presste sie hervor. »Es wird nie wieder vorkommen! Ich weiß, ich gehöre hier nicht her, aber ich suche hier drin jemanden, der …«

    »Keine Panik, Rekrutin Dragunova«, unterbrach sie der Kommandant. Er rückte seine Mütze zurecht und schob sich an Tarja vorbei.

    »Der Mechaniker, den Sie suchen«, fuhr er im Weitergehen fort und zeigte nach links, »sitzt bei den Panzergrenadieren.«

    Tarja brauchte einige Sekunden, um sich aus ihrer Paralyse zu befreien. Dann fand sie eine Lücke und quetschte sich nach links. Dabei kreisten ihre Gedanken nicht um Yuri, sondern waren bei Kirov hängengeblieben. Wäre sie durch ihr Missgeschick nicht ohnehin errötet gewesen, hätten ihre Wangen spätestens jetzt geschmeichelt Farbe angenommen: Eilte ihr Ruf ihr inzwischen so weit voraus, dass der Kommandant der ganzen Kompanie sie mit Rang und Namen kannte?

    Am Tisch des Panzerbataillons fiel Tarja zuerst das Bier auf. Beziehungsweise das, was schon getrunken worden war: Leere Flaschen pflasterten Tisch und Boden. Sechs Männer hatten drei Kisten à 12 Flaschen geleert oder waren noch dabei. Die Trinkmenge ließ Tarja befürchten, dass auch Yuri ins Gelage integriert worden war. Hoffnungsvoll, aber ohne Erwartungen, schwenkte ihr Blick zu der gesuchten Person.

    Yuri saß Schulter an Schulter mit einem Oberfeldwebel und hielt eine Bierflasche in der Hand. Wenigstens nichts Hochprozentiges, versuchte sich Tarja zu trösten. Aber als sich Yuri intuitiv zu ihr umdrehte, wusste sie, dass ihre Hoffnungen vergebens gewesen waren.

    Yuris Augen waren durch die verräucherte Luft gereizt. Sie erkannten Tarja zwar, starrten aber halb ins Leere; etwas schläfrig und ein bisschen hilflos. Yuris unverkennbarer Blick, wenn schon geringe Mengen Alkohol ihre Wirkung getan hatten. Das Gespräch in der Runde war durch den fremden Neuankömmling verstummt. Verdutzte bis genervte Blicke forderten von Tarja Rechenschaft.

    Tarja wandte sich zum Ranghöchsten und salutierte. »Verzeihen Sie die Störung, Herr Oberfeldwebel«, erklärte sie höflich. »Aber bedauerlicherweise muss ich Ihren Gast mitnehmen.«

    Der Oberfeldwebel kniff verständnislos die Augen zusammen. »Was?«

    Tarja unterdrückte ihre beginnende Ungeduld und beugte sich tiefer vor. Sie deutete mit dem Blick auf Yuri. »Es war sicher ein nettes Treffen in Ihrer Runde, aber Yuri und ich müssen jetzt leider gehen.«

    Sie sah zu Yuri und verlieh ihrer Stimme Nachdruck. »Yuri? Du hast genug getrunken. Komm jetzt mit.«

    Ein Raunen ging um den Tisch. Der Oberfeldwebel schien sich nicht sonderlich für den vorzeitigen Aufbruch seines Gastes zu begeistern. Tarja kassierte seine feuchte Aussprache, als er sie unwirsch anfuhr: »Wer sind Sie? Die Freundin? Ziehen Sie entweder Leine, oder setzen Sie sich meinetwegen her. Aber lassen Sie Ihren Kumpel hier. Er ähnelt meinem Sohn. Redet kaum, trinkt aber wie ein Fass, der Kleine!«

    Tarja verkniff sich ein Stöhnen. Sie musste aber feststellen, dass die Szene auch etwas Amüsantes hatte. Zum abertausendsten Mal musterte sie die vertraute Erscheinung Yuris.

    Yuri steckte in einer ähnlichen Uniform wie sie. Die Dienstkleidung der niederen Ränge der Luftflotte war von dunkelblauer Farbe, die, wenn man genau hinsah, einen Schimmer ins Türkis erkennen ließ.

    Die Uniform setzte sich zusammen aus einer Jacke oder, in Yuris Fall, einer Weste und einer Cargohose mit praktischen Taschen. Das einheitliche Erscheinungsbild der Luftflotte wurde durch einen Ledergürtel mit messingfarbener Schnalle geprägt, in die das Wappenzeichen der Fliegerflotte eingestanzt war: Die beiden sich überschneidenden kyrillischen Buchstaben, das runde F für Flot und das spitz geschriebene L für Ljotschiki, die zusammen ein Dreieck bildeten. Aus diesem Dreieck ragten zwei abstrahierte Flügel.

    Am Gürtel ließen sich Taschen für Munition oder sonstigen Kleinkram anbringen. Yuri befüllte sie mit Vorliebe mit Süßigkeiten – von denen Tarja bis heute nicht genau wusste, wo Yuri sie ständig hernahm.

    Doch zwischen den Uniformen von Tarja und Yuri gab es auch deutliche Unterschiede. Während Tarja angehende Pilotin war, gehörte Yuri zu den Flottenmechanikern. Diese zeichneten sich durch einen dunkelgrauen Pullover aus robustem Baumwollstoff aus, der unter der Weste getragen wurde. Yuris Pullover sahen aus, als wären sie allesamt zu heiß gewaschen worden. Auch die Kopfbedeckung war unterschiedlich. Auf Tarjas Haupt saß das dunkelblaue Schiffchen, Pilotka genannt. Yuri trug, wenn überhaupt, eine alte Panzerfahrerhaube. Manchmal beneidete Tarja Yuri, da ihr die Pilotka oft verrutschte. Was nicht zur Uniform gehörte, aber auch ein fester Bestandteil von Yuris Aufmachung war, war ein rotes Halstuch.

    Yuris schlanker Körper maß 1,64 Meter. Das rosige Gesicht mit dem vollen Mund, einer Stupsnase und Sommersprossen wirkte reichlich kindlich. Ein dunkler, struppiger, lange nicht mehr geschnittener Pony, unter dem zwei große, bernsteinfarbene Augen hervorschauten, fiel in Yuris Stirn. Kaum einer bemerkte zunächst, dass sich in Yuris Nacken, unter dem zerzausten Deckhaar, noch ein geflochtener Zopf verbarg. Und fast niemand sah auf Anhieb, dass hinter der Erscheinung eines zwölfjährigen Jungen ein sechzehnjähriges Mädchen steckte.

    »Wieso zum Teufel heißt denn ein Mädchen Yuri?«, fragten sich die Leute.

    Die Antwort kannte selbst Yuri nicht so genau. Tarja wusste nur, dass Yuri in Russland zwar ein Männername, in anderen Sprachen jedoch durchaus als Frauenname geläufig war.

    Tarja erwartete ein kleines bisschen schadenfroh, wie sich die Reaktion des Oberfeldwebels gestalten würde.

    »Ach, tatsächlich?« Der Anflug eines Lächelns schlich sich auf ihre Lippen. »Der Kleine trinkt also viel, der Kleine erinnert Sie an Ihren Sohn und spricht wenig. Und was erzählt er so?«

    Der verwirrte Oberfeldwebel hatte keinen Schimmer. »Ich musste ihm erst alles aus der Nase ziehen. Ist ein Mechaniker, der Kleine …«, murmelte er stirnrunzelnd. »Werkelt an den Maschinen der Flotte herum. Ganz schön jung für seinen Job, kann man sagen. Er isst gern Obst und Süßigkeiten. Da dachte ich, es ist Zeit, ihn langsam zum Mann zu machen. Er hat eine Schwester, mit der er sich ein Zimmer teilt, und …«

    Er stutzte und sah Tarja mit zusammengekniffenen Augen an. »Das bist du, richtig?«

    Eine lobenswert schnelle Schlussfolgerung, dachte Tarja missfällig. Sie war nicht an einem längeren Gespräch mit dem erkenntnisträgen Panzeroffizier interessiert. Sie ging einen letzten Schritt in die Offensive, indem sie Yuris Handgelenk griff und mit sanftem Nachdruck daran zog.

    Yuri reagierte auf den Reiz wie eine Marionette. Sie erhob sich und stellte das halb getrunkene Bier auf den alten Holztisch.

    »Ich verstehe Ihre Enttäuschung«, bedauerte Tarja halbherzig. »Danke für die spendierten Getränke. Leider verträgt Yuri wenig. Es wird wirklich Zeit, dass ich sie nach Hause bringe.«

    Der Oberfeldwebel öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Seine Zigarette verabschiedete sich gen Boden. Tarja fror den ulkigen Anblick in ihr Gedächtnis ein, ehe sie zum Abschied salutierte.

    »Wie bitte?«, rief ihnen der Offizier hinterher, als er seine Stimme wiedergefunden hatte. »Ich hab ein Mädchen abgefüllt?!«

    Da hatte Gregor Kuzmin ausnahmsweise mal die Wahrheit gesagt. Obwohl sie es ungern zugab, war Tarja dem nervenden Kameraden für seine wichtige Information dankbar.

    Yuri lag in ihrer gefütterten Decke, die eher für Herbst- und Winternächte gemacht war. Schon nach einer Minute schlummerte sie wie ein sibirischer Bär. Einschlafen, das beherrschte Yuri gut. Egal, was am nächsten Morgen anstand, egal, wie aufreibend ein Tag gewesen war: Yuri schlief so sorglos wie ein Baby.

    Sie ist ein kleiner Buddha.

    Yuris weiche Züge wirkten entspannt. Wahrscheinlich würde sie sich nicht übergeben, und mit etwas Glück wachte sie morgen sogar ohne Kater auf. Trotzdem hielt es Tarja für ihre Pflicht, noch mindestens zehn Minuten an Yuris Seite zu wachen.

    Dabei stand sie auf der Leiter von Yuris Hochbett. Der Versuch, Yuri dazu zu überreden, entweder auf der unteren Matratze oder in Tarjas Bett gegenüber zu schlafen, war fehlgeschlagen. Auch wenn sie betrunken und im Halbschlaf war, war nicht mit Yuri zu diskutieren. Sie bevorzugte hohe Orte. Tarja hatte nachgegeben und sicherheitshalber den Notfalleimer ans Leiterende gehängt. Sie vertraute darauf, dass Yuri ihn im Ernstfall nicht verfehlen würde.

    Darüber, dass Tarja das Hochbett instinktiv ebenfalls mehr behagt hätte, hatte sie beim Einzug gnädig hinweggesehen, denn auch ein niedriges, rostiges Bettgestell war immerhin besser, als auf Kartons oder Stroh zu schlafen, so wie früher.

    Nicht alle Rekruten genossen das Privileg, ihre Unterkunft bloß zu zweit zu bewohnen. In diesem Fall zahlte es sich einmal aus, einer geschlechtlichen Minderheit anzugehören. Zusätzlich hatten die Schwestern bei der Raumverteilung einfach Glück gehabt. Ein Bett war zwar noch frei, doch das kleine Zimmer reichte gerade für zwei. Zu dritt würde man sich nur auf die Füße treten.

    Vor dem Fenster, gegenüber von der Tür, stand ein schmaler Schreibtisch. Tarja hatte ihn aus weggeworfenen Holzplatten zusammengezimmert. Den Plastikstuhl hatte sie aus der Kantine abgestaubt. Es blieb zu hoffen, dass das keiner herausbekam. Aber Zimmervisiten gab es auf Sokolskaja nicht, also standen ihre Chancen gut.

    Ihre Pläne von vorhin, eine Leinwand zum Leben zu erwecken, hatte Tarja für heute aufgegeben. Lieber wollte sie noch mal nach draußen, frische Luft schnappen.

    Beim Zähneputzen auf der Etagentoilette war sie allein. Das war keine Seltenheit, denn die Mädels der Fliegerflotte waren nur zu viert.

    Sie spuckte den Schaum ins Becken und spülte den Mund mit Wasser aus, das hier immer kühl war. Kühl waren auch die Duschen, aber wenigstens nicht kalt. Die Leitungen liefen vorher durch die Wände der Kantinenküche, um dem Wasser ein paar Grad hinzuzufügen.

    Tarja nahm sich einen Moment Zeit. Sie betrachtete ihr Spiegelbild und staunte einmal mehr darüber, wie lang ihr Haar in einem Jahr geworden war. Inzwischen fiel ihr die blonde Mähne bis zur Brust. Allgemein war Tarja mit ihrem Äußeren recht zufrieden. Ihre mittelgroße Figur war weiblich geformt und sportlich, und männliche Blicke waren ihr nicht unbedingt abgeneigt. Zudem besaß sie ein harmonisches, slawisches Gesicht, in dem kein Merkmal zu auffällig war. Was mitnichten bedeutete, dass es keinen Wiedererkennungswert besaß.

    Die wackligen Strommasten erstreckten sich über das ganze Basisgelände. Sie verbanden die Kasernen mit den alten Stromgeneratoren, die Sokolskaja hütete wie seinen Augapfel. Die gewonnene Energie reichte mit einigen Einsparungen aus, um den Stützpunkt von 2000 Mann zu unterhalten.

    Tarja streckte die Arme aus und berührte aus ihrer Perspektive den milchigen Mond. Genüsslich sog sie die frische Abendluft in ihre Lungen. Kaum etwas liebte sie mehr als ihre nächtlichen Spaziergänge am Waldrand. Das sanfte Rascheln der Blätter im kühlen Wind, den erdigen Boden unter ihren Füßen und die Nähe zur unversehrten Natur: Viel mehr brauchte sie nicht, um sich geborgen und glücklich zu fühlen.

    Die Gefahren von außen erschienen in solchen Momenten endlos weit weg. Unwirklich und fast ein Traum.

    Kapitel 2


    Der Montag war windig und wolkenverhangen. Es hätte nur noch ein Gewitter gefehlt, um die Flugbedingungen noch weiter zu verschlechtern. Tarja durchquerte den Stützpunkt und steuerte den Flugplatz an. Die Hände in den Taschen, den Fliegerhelm auf dem Kopf und ein Kaugummi mit sogenanntem Mango-Geschmack im Mund, das mehr nach Zucker schmeckte, versuchte sie, seit sie losgelaufen war, mit verschiedenen Methoden ihre Aufregung in den Griff zu bekommen.

    Es stand doch nur eine Übung an! Ein kleines Kräftemessen vielleicht, aber ansonsten bloß ein Manöver, das am Mittag wieder vorbei sein würde. Wie konnte man da aufgeregt sein? Tatsächlich aber war sie es. Und das ließ sich momentan leider ebenso wenig leugnen wie wegrationalisieren. Tarja knackte mit den Fingergelenken und produzierte eine misslungene Kaugummiblase.

    Am Maschendrahtzaun vor dem Flugplatz standen sie bereits aufgereiht: die Schüler der Flotte in ihren dunkelblauen Uniformen. Ihre Helme zeigten unmissverständlich, dass heute ein wichtiger Tag bevorstand. Still und aufmerksam lauschten sie den Worten des Ausbilders Koroljov.

    Tarja musste schlucken. Höchstwahrscheinlich war jeder längst angetreten, außer …

    »Tarja Dragunova!«

    Tarja erstarrte zu Eis, als der bullige Koroljov zu ihr herumfuhr. Jetzt hagelte es Ärger! Sie war darauf vorbereitet gewesen, hoffte aber trotzdem, dass die Standpauke so kurz wie möglich sein würde.

    Wie üblich trug Koroljov seine ausgeblichene und für sein kräftiges Haupt viel zu enge Schirmmütze, mit der er vermutlich schon auf die Welt gekommen war. Entweder besaß Koroljov trotz seiner fast 50 Jahre ein bemerkenswert feines Gehör, oder die an ihm vorbeischielenden Blicke der Schüler hatten ihn auf Tarjas Ankunft aufmerksam gemacht. Tarja salutierte und hoffte, durch ihre perfekte Haltung einen Teil seines Ärgers abzuwenden.

    Koroljov stapfte auf sie zu. Tarja brach der Schweiß aus. Drei verdammte Minuten, und schon drehte er am Rad! Dabei hatte sie es einfach nicht lassen können, als morgendliches Nervenfutter an einem solchen Tag ihren Lieblingssong zu hören, und dafür hatte sie das zu späte Erscheinen eben kühn riskiert.

    Koroljov hielt unmittelbar vor der unpünktlichen Schülerin und baute sich drohend vor ihr auf. Seine durchgestreckte Haltung änderte nichts an seiner Körpergröße von 1,70 Meter, aber sie demonstrierte überdeutlich, dass er wütend auf Tarja war. Auch seine Mimik sprach Bände: Seine buschigen Augenbrauen waren eng zusammengezogen, und der zornig verkniffene Mund bog den schwarzen Schnauzer zu einem fast perfekten Halbkreis nach unten. Kleine Augen funkelten Tarja stechend an und verlangten nach einer unverzüglichen Rechtfertigung.

    Tarja hielt seinem wütenden Blick tapfer stand. Nicht rot werden, befahl sie sich, bloß nicht rot werden, und spulte ihre zurechtgelegte Ausrede ab.

    »Einen schönen guten Morgen, Herr Ausbilder Koroljov! Mir ist bewusst, dass es für mein Zuspätkommen an diesem wichtigen Tag keine Entschuldigung gibt. Dennoch bitte ich Sie, sich den Grund für meine kaum verzeihliche Verfehlung anzuhören.«

    Kaum hatte sie den Satz vollendet, schlich ein verhaltenes Kichern durch die Reihen. Tarja war in der Flotte bekannt für ihre extravaganten Ausreden. Da sich jeder der restlichen 31 Schüler mindestens ansatzweise denken konnte, dass lediglich ein Bruchteil von Tarjas Geschichten stimmte, war Koroljovs gutartige Leichtgläubigkeit allen ein Rätsel. Dennoch war Tarja unsicher, ob die anderen Schüler eher mit ihr oder über sie lachten.

    »Meine Zimmergenossin Yuri Tereschkova hat die Angewohnheit, ihre 7.62er-Patronen auf unserer Fensterbank zu lagern. Ich will Yuri nicht anprangern, aber es ist schon ein Fakt, dass die Patronen dort regelmäßig herunterrollen und sich im Zimmer verteilen. Daher habe ich Yuri gestern zum wiederholten Mal gebeten, sich endlich einen neuen Aufbewahrungsort für ihre wertvolle Munition zu suchen. Mein energischer Ton zeigte wohl Wirkung – jedoch musste ich vor wenigen Minuten feststellen, dass mein Fliegerhelm fehlte.«

    Sie holte Luft, um Koroljovs Reaktion zu beobachten. Die Zeichen standen auf Grün, denn seine Augenbrauen kehrten langsam in ihre Ausgangsposition zurück.

    »Nun denn«, sagte er, um strengen Ton bemüht. »Wo haben Sie Ihren Fliegerhelm gefunden?«

    »Nach drei Minuten unter Yuris Bett. Hätte Yuri nicht vor mir die Baracke verlassen, hätte ich sie darauf hingewiesen, dass mein Helm als Munitionsdepot noch ungeeigneter ist als eine unebene Fensterbank. Das werde ich heute Abend nachholen.«

    Koroljov nickte ernst. »Dann richten Sie Yuri Tereschkova von mir aus, sie könne sich ja selbst zu den Fliegern melden, wenn sie unbedingt einen Helm braucht, um ihren Kleinkram aufzubewahren. Würde sie unsere Maschinen nicht warten, sondern fliegen, würde sie die Heiligkeit eines solchen Helms besser zu schätzen wissen! Und zu derartigen Späßen nicht mehr aufgelegt sein.«

    Koroljov drehte sich harsch um und ließ mit seinem Blick das Kichern in den Reihen ersterben. »Auf Ihren Posten, Dragunova! Ich kann nicht leugnen, dass Sie zu den Besten dieses Jahrgangs zählen. Deshalb werde ich meine Ansprache ausnahmsweise wiederholen.«

    Tarja tat wie geheißen. Sie reihte sich ans rechte Ende der Aufstellung ein. Verzeih mir, Yuri, bat die Stimme ihres schlechten Gewissens. Zwar stimmte die Helm-Geschichte, hatte sich aber vor mehr als drei Wochen ereignet und ihr auch keine Verspätung eingehandelt. Tarja hatte das Ereignis ihrem Inventar für unverbrauchte Ausreden hinzugefügt, das noch nie zur Neige gegangen war.

    Koroljov hob die Stimme. Da würde es wohl wieder eine seiner berüchtigten Reden geben, aber da der heutige Anlass wichtig war, spitzte ausnahmsweise sogar sie die Ohren.

    »Schüler der Fliegerflotte 13, hört mir gut zu! Heute ist der entscheidende Tag in eurer bisherigen Ausbildung. Dieses Datum werdet ihr nicht vergessen. Die einen unter euch werden den 31. August 2071 als Tag in Erinnerung behalten, den sie lieber aus ihrem Gedächtnis verbannen möchten; die anderen werden mit Freude und Stolz auf ihn zurückblicken.«

    Koroljov ließ seinen Blick prüfend durch die Aufstellung gleiten. Er versuchte vorab, von den Gesichtern abzulesen, wer sich für einen Vertreter welcher Gruppe hielt. Wer war Einzelkämpfer, wer hatte Teamgeist? Tarja schaute mit ernster Miene zurück.

    »Einige von euch haben wohl gedacht, dass dieses Manöver wie jedes wöchentliche ablaufen wird.« Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, begann Koroljov, entlang der Reihe auf und ab zu gehen. »Jeder, das das glaubt, wird gleich eines Besseren belehrt werden! Viele werden sich jetzt fürchten. Doch seid gewiss, dass der Ernst der Realität, die jederzeit, und ich betone, jederzeit über uns hereinbrechen kann, selbst das härteste Manöver in den Schatten stellt. Habt ihr das verstanden?«

    »Verstanden, Herr Ausbilder«, sagte die Gruppe im Chor. Doch der Antwort fehlte es an Elan. Tarja vermutete, dass Koroljov bereits an diesem Punkt seiner Rede gewesen war.

    Die Augen des Ausbilders wurden schmal. »Ich habe euch gefragt, ob ihr das verstanden habt!«

    »VERSTANDEN, HERR AUSBILDER!«

    »Gut …« Koroljovs Blick schwenkte zum großen Materialschuppen. »Bevor ich die Ausrüstung verteile, stelle ich euch nacheinander eine Frage. Ihr werdet nicht nachhaken, sondern einfach antworten!«

    Er zog ein Plastikklemmbrett hervor. »Ich notiere eure Antworten. Sie haben keinen Einfluss auf eure Bewertung. Doch eure Wahl könnte den Ausgang heute Abend beeinflussen.«

    Ein Raunen ging durch die Reihen – hauptsächlich, weil niemand damit gerechnet hatte, dass sich das Manöver bis in die Abendstunden ziehen würde. Das hieß: kein Mittagessen in der Kantine.

    »Scht!« Koroljovs scharfer Laut brachte die Runde zum Schweigen. Seine Wangen nahmen feurige Röte an. »Was bringt man euch hier bei?! Tuscheln wie die Schulmädchen? Zeigt mir eure Disziplin und haltet den Mund, während ich rede!«

    Andrei Popowitsch Koroljov, der für sein hitziges Temperament bekannt war, wirkte auf Tarja anders als sonst. Noch barscher und lauter. Er machte geradezu einen nervösen Eindruck.

    Ob für ihn irgendwas auf dem Spiel steht?

    Zielgerecht visierten Koroljovs Augen den alphabetisch Erstplatzierten an, Jegor Antonov.

    »Antonov! Wie möchten Sie das Manöver bestreiten? Allein? Oder im Team?«

    Antonov brauchte einen Moment, um seine Antwort zu geben. »Im Team.«

    Jegor Antonov war ein netter Kerl. Er stach in der Fliegerflotte durch seine Bescheidenheit und Sorgfalt hervor, die auch von Vorgesetzten gelobt wurde. Wenn sicher wäre, dass ich mit Jegor in einer Gruppe bin, wäre ich vielleicht bereit, im Team anzutreten. Doch ich weiß weder, wie groß die Gruppen sind, noch, wie sie zusammengesetzt werden. Es ist im Zweifelsfall sicherer, allein zu sein.

    Die nächsten zwei wollten ebenfalls im Team antreten. Koroljov kam nun zu Tarja, und sein Gesicht verriet wenig Überraschung, als sie kundgab: »Einzeln.«

    Er nickte und setzte sein Kreuzchen.

    Die meisten entschieden anders und suchten die Sicherheit in der Gruppe. Nur selten setzte sich der Wunsch nach Unabhängigkeit durch.

    Tarja spitzte die Ohren, als der Name Artjom Koslovski fiel. Unwillkürlich verengten sich ihre Augen zu Schlitzen.

    Artjom! Wenn es jemanden gab, den sie wirklich nicht leiden konnte, dann war er es. Koslovski konnte nichts als prahlen und nerven. Trotzdem stellte er sich sehr geschickt darin an, naivere Kameraden in seinen Bann zu ziehen, in deren Bewunderung er sich sonnen konnte.

    Aber leider musste Tarja zugeben, dass Artjom in der Tat zu den besten Schülern zählte. Es gab Tage, an denen sie sich regelrecht vor seiner Konkurrenz als Flieger fürchtete.

    »Bitte im Team, Herr Ausbilder«, verkündete Koslovski, der darauf konditioniert war, auch die banalsten Dinge voller Überheblichkeit zu sagen. Tarja riss sich zusammen, um nicht auffällig die Augen zu verdrehen.

    Gregor Kuzmin wurde aufgerufen. Tarja grinste herablassend in sich hinein, als er, wie vorausgesehen, »Team« antwortete.

    Gegen Ende kam der 20-jährige Eldar Sokolov dran. Einzeln, dachte Tarja, und »Einzeln«, sagte Sokolovs kühle Stimme. Die Frage war bei Eldar überflüssig gewesen.

    Die hohen Wände des Materialschuppens waren mit Regalen und Spinden zugestellt.

    »Im Team: 22 Leute. Allein: 10«, tat Koroljov kund. »Die Team-Kandidaten dahin – die Einzelkämpfer nach dort.«

    Man gruppierte sich wie angewiesen. Koroljov zog aus seiner Hosentasche ein Skat-Spiel und verteilte die Karten verdeckt. »Da man aus 22 Leuten nicht nur Viererteams bilden kann, wird es zwei Gruppen von drei Personen geben. Der Zufall entscheidet, wer mit wem zusammenkommt.«

    Die Schüler ließen es sich kaum anmerken, doch Tarja spürte, dass die meisten mit dieser Regelung unzufrieden waren. Nicht zu Unrecht, wie sich herausstellte: Viele Gruppen wurden eher suboptimal gebildet.

    Anschließend ging es ans Verteilen der Ausrüstung: ausgeschlachtete Modelle der AK-74 mit modifiziertem Innenleben. Die Waffen verschossen Übungsmunition mit zwei Dutzend Metern effektiver Reichweite. Die Kapseln platzten beim Aufprall und verspritzten eine blutrote Flüssigkeit.

    Jeder erhielt zwei Magazine, eine Schutzbrille und eine großzügige Ration Schokolade.

    »Die Feldflaschen füllt ihr euch dort hinten am Hahn auf. Seid sparsam mit eurem Wasser, ihr werdet es bis zum Abend nicht nachfüllen können. Und achtet auf die Helmpflicht. Sonst schlägt unter Umständen die natürliche Auslese zu.«

    Tarja grinste.

    »Ihr ahnt wohl, dass es heute keinen simulierten Luftkampf gibt.« Damit bestätigte Koroljov die allgemeine Vermutung. »Wir werden uns stattdessen ins Sperrgebiet begeben. Im Großen Vaterländischen Krieg stand dort eine Kaserne. Für heute stellt diese Ruine einen feindlichen Stützpunkt dar.«

    Ins Sperrgebiet? Tarja staunte.

    »Euch stehen folgende Informationen zur Verfügung: Ein gekapertes Transportflugzeug vom Typ Antonov An-24 soll hochgefährliches, feindliches Waffenmaterial befördern. Abends wird die Maschine den feindlichen Stützpunkt überqueren. Davor werden die Amis Flieger hochschicken, um der Antonov Begleitschutz zu liefern. Das müsst ihr verhindern! Ihr steigt stattdessen in die amerikanischen Flugzeuge und vernichtet die Antonov.

    Infiltriert den Stützpunkt und schaltet die Piloten aus. Nicht jeder von euch wird die Möglichkeit bekommen, in die feindlichen Flieger zu steigen. Kämpft euch zum geheimen Zielort durch – wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Der Gesamterfolg dieser Mission hängt von dem Können derjenigen ab, die als erste durchkommen!«

    Schon als Koroljov den letzten Satz zu Ende gesprochen hatte, wusste Tarja, dass die Botschaft eine Sache der Auslegung war. Die Schwierigkeit dieser Prüfung bestand unter anderem darin, die erhaltenen Informationen zu interpretieren. Tarja ahnte, dass es nicht auf das hinauslaufen würde, was sich Koroljov als Idealergebnis wünschte.

    »Nun zu den Regeln. Die Regeln sind leicht: Bei zwei Schüssen an Armen oder Beinen scheidet ihr aus. Wird eurer Kopf oder Rumpf getroffen, genügt ein Schuss. Die Helme schützen euch nur im Sinne der Übung. Wenn ihr die Uniform des Feindes tragen wollt, tragt sie über eurer eigenen. Wir müssen am Ende feststellen können, dass niemand geschummelt hat.«

    Prüfend sah er sich um. »Alles soweit verstanden?«

    »Was ist das für ein ›geheimer Ort‹, zu dem wir finden müssen?«, fragte jemand.

    »Das ist der Vorraum zum Flugplatz. Ihr müsst erst an einigen Amis vorbei, um ihn zu erreichen.«

    »Können sich die Gruppen auflösen und neu zusammenfinden?«, wollte ein anderer Schüler wissen.

    »Nein«, bellte Koroljov streng. »Geht davon aus, dass ihr mit eurer Gruppe ein eingeschworenes Team bildet und euch ansonsten nicht kennt. Kommunizieren dürft ihr untereinander.« Er ließ eine bedeutungsschwere Pause. »Ist nun alles klar, seid ihr bereit?!«

    »Ja, Herr Ausbilder!«, brüllten alle.

    Koroljov führte seine Schüler ans nördlichste Ende des Stützpunkts, das durch einen umgestürzten Stacheldrahtzaun markiert wurde. Tarja war noch nie hier gewesen und war gespannt, was draußen auf sie wartete.

    Routiniert umging Koroljov den Zaun und gab auf einem Trampelpfad den Weg vor. Sie stapften ein Stück durch einen dichten Tannenwald. Hinter einer Lichtung erreichten sie das Sperrgebiet, das Tarjas Erwartungen überstieg: Die verwilderte Wiese war riesig, und riesig war auch der Gebäudekomplex, der sich auf ihr erhob. Er

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