Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Narziss - Geburtsrecht: Narziss GEBURTSRECHT
Narziss - Geburtsrecht: Narziss GEBURTSRECHT
Narziss - Geburtsrecht: Narziss GEBURTSRECHT
eBook365 Seiten4 Stunden

Narziss - Geburtsrecht: Narziss GEBURTSRECHT

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Als Lothars Bruder David spurlos verschwindet, verfällt seine Mutter dem Wahnsinn. Obwohl als Junge vergessen und misshandelt, wird Lothar ein angesehener Chefarzt, aber die Dämonen aus der Kindheit suchen ihn weiterhin heim: Einsamkeit, Hass, Wertlosigkeit, überdeckt durch grandiose Selbsterhöhung. Frauen, die es wagen, ihn zu verletzten, droht die Höchststrafe, perfekt getarnt als Selbstmord.
Verhängnisvoll, auch für die attraktive Valerie: Sie interessiert sich mehr für den in ihrer Kindheit verschollenen David als für seinen perfiden Bruder.
In Todespanik zwingt sie sich, sich auf das Selbstporträt ihres Entführers zu konzentrieren. Das Kunstwerk zeigt einen beeindruckenden, charismatischen Mann - außergewöhnlich, dem jedoch zur Schönheit etwas Entscheidendes fehlt: menschliche Züge.

Darf man, nur weil man auf diesem Planeten geboren wird, einfordern, geliebt zu werden? Umsorgt und beschützt von den Menschen, denen man täglich auf dem Flur begegnet?
Ist es das Geburtsrecht eines jeden Menschen, gesehen und wahrgenommen zu werden?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum27. Juni 2022
ISBN9783756281763
Narziss - Geburtsrecht: Narziss GEBURTSRECHT
Autor

Susanne Grußler

Was gibt es Schöneres, als seine Zeit mit Menschen, an Orten, mit Tätigkeiten zu verbringen, die man liebt? Susanne Grußler lebt in Augsburg, hat eine große Familie und begleitet seit Jahren intensiv als Sozialpädagogin Menschen durch schwierige Situationen. Die Zeit, die sie mit Schreiben verbringt, gehört zu ihren besten Glücksmomenten.

Ähnlich wie Narziss - Geburtsrecht

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Narziss - Geburtsrecht

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Narziss - Geburtsrecht - Susanne Grußler

    Oktober 1996 – Vor 23 Jahren

    1

    Bester Freund

    Der Bus pendelte nach Valeries Ansicht viel zu langsam in Richtung Autobahnraststätte. Dann endlich, nach stundenlanger Fahrt: Türen auf, nichts wie raus, einmal durchschnaufen, pinkeln. Nur ein kurzer Spaziergang in den angrenzenden Wald, so entschied die Lehrerin, Frau Dittrich. Immerhin hatten sie noch den einen oder anderen nervenaufreibenden Kilometer an Heimfahrt auf der viel befahrenen A8 vor sich.

    Gut gelaunt ging Valerie mit ihrem Freund David an der Seite durch den bunten Herbstwald. Die Blätter wirbelten umher wie ungeduldige Vorboten des Winters, die in den vereinzelten Sonnenstrahlen ihren letzten Tanz veranstalteten.

    Die achtjährige Valerie freute sich über die unerwartete Wanderung. So ein Schulausflug war sowieso eine wunderbare Sache! Heute war die ganze Klasse 2b nach Geislingen an der Steige gefahren und hatte die alte Stadt sowie den Ödenturm und die Burgruine Helfenstein besichtigt.

    Das Tollste an so einem Tag war: Sie konnte viel Zeit mit David verbringen. Wenn sie mit ihm spielte, verging jede Stunde wie im Flug.

    David von Kronfeld kam aus einer privilegierten Augsburger Familie, doch für sie war er nur eines: ihr bester Freund, zum Pferde stehlen und stets zu einem Spaß bereit.

    Sie beobachtete im Augenwinkel, wie David neben ihr lief. Dabei stellte sie fest, dass er ein bisschen kleiner war wie sie.

    Egal, ich find ihn süß!, dachte Valerie.

    Spontan fielen ihr einige schöne Urlaubstage am Meer ein.

    Er hat Augen, blau wie das weite Meer, mit einem winzigen goldenen Schimmer um die Pupille.

    Verschämt bemerkte sie, dass sie David nun schon eine ganze Weile angestarrt hatte. Eine zarte Röte erschien auf ihren Wangen, als er sie ansah. Doch er grinste nur.

    Ich mag ihn so schrecklich gern.

    Verwirrt schob sie diesen Gedanken beiseite.

    David und Valerie schlenderten entspannt durchs knöchelhohe Gras und Valerie erzählte David begeistert von ihrer Patentante Nanina, bei der sie lebte.

    „Nan hat einen echten Blumengarten auf dem Dach. Da können meine Schwester Fiona und ich im Sommer nachts schlafen und die Sterne beobachten", plapperte sie aufgeregt, ohne Punkt und Komma.

    Eine plötzlich einsetzende, steife Windbrise blies ihr die frechen, braunen Locken wild ins Gesicht. Vor ihnen auf dem Weg flatterten zwei Zitronenfalter in der noch warmen Herbstsonne.

    „Und stell dir vor, bei ihr gibt es ein Zimmer nur für ihre unzähligen Bücher, das geht bis hoch zur Decke!" Fröhlich strahlte Valerie ihren Spielkameraden an.

    „Steck deine Nase nicht so viel in die Bücher. Du hast viel zu wenig Zeit für mich! Du Bücherwurm!", beschwerte sich David augenzwinkernd.

    Glücklich lachte Valerie auf.

    Meistens konnte sie David nur in der Schule treffen. Valerie wusste, seine Mutter war der Ansicht, dass sie nicht der richtige Umgang für ihn sei und so trafen sich die Kinder meist heimlich, wenn Frau von Kronfeld in der Arbeit war. Schließlich wollte sie nicht, dass David Ärger bekam.

    Heute hatten sie viel gemeinsame Zeit und Valerie genoss diesen Tag besonders.

    Da machte David ihr ein besonderes Geschenk.

    „Das ist ein äußerst seltener Stein", prahlte David frech und gluckste.

    Dann betonte er ungewohnt ernsthaft: „Er soll dich beschützen was immer auch geschieht!"

    Als ihr David feierlich das Geschenk überreichte, wäre Valerie ihm am liebsten um den Hals gefallen. Stattdessen hauchte sie ihm schnell einen Kuss auf die Wange. Das hatte sie schon öfters gemacht und sie wusste, dass er sich darüber freute. Eigentlich war es ja nur ein ganz gewöhnlicher Stein, den er am Wegrand gefunden hatte. Mausgrau, mit einem weißen Streifen in der Mitte. Doch für Valerie war er ohne jede Frage kostbar, ja einzigartig, so wie ihre Freundschaft.

    Fröhlich miteinander plappernd liefen sie weiter den schillernden Schmetterlingen nach. Vergeblich versuchte David, einen mit der Hand zu erwischen, doch immer wenn Valerie meinte, er hätte einen gefangen, sah sie den Schmetterling tollkühn vor Davids Nase auf und ab flattern.

    „Bleibt auf dem Weg, mahnte Frau Dittrich die Kinder. Valerie mochte die Lehrerin wegen ihrer schulmeisterlichen Art nicht besonders. „Heute hat sie schlechte Laune, flüsterte sie David zu. Sie erinnerte sich an ein Gespräch der allein erziehenden Lehrerin mit einer Kollegin, das sie in den letzten Tagen zufällig mitbekommen hatte.

    „Sie hat erzählt, ihre Kinder strengen sie an."

    Doch David schien die Ansage der Lehrerin wie so oft nicht weiter zu kümmern. „Jetzt fang ich dir einen!", wisperte er seiner Schulfreundin entschlossen zu, als die Schmetterlinge verspielt auf die letzten noch grünen Sträucher zuflogen.

    Valerie kicherte, wunderte sich aber gleich darauf. War da nicht eine Bewegung hinter den Büschen? Stand dort jemand? Oder spielte ihr der bunte Herbstwald mit seinen tiefen Schatten einen Streich?

    „Valerie!", ertönte Frau Dittrichs schneidende Stimme mehr als deutlich. Kurze Schrecksekunde, dann blieb Valerie stehen. Sie war es gewohnt zu gehorchen.

    Es schien auch nur ein minimaler Augenblick gewesen zu sein. Schon war das weißblonde Haar und Davids helles Lachen hinter den dichten Büschen verschwunden.

    Valerie traute sich nicht, David ins Dickicht zu folgen. Wer weiß, wer oder was dort wartete? Immerhin war sie im Gegensatz zu ihrer Schwester ein braves Mädchen.

    Diesmal ein vielleicht lebensrettender Vorteil.

    Sie überlegte nicht mal drei Sekunden. Sekunden, die alles verändern würden.

    Nur einmal stehen bleiben, folgsam umdrehen.

    Kurz hörte sie etwas – Motorengeräusche.

    Dann war es passiert.

    David war weg. Wie vom Erdboden verschluckt.

    Auch sonst war jetzt alles still.

    Und Valerie spürte es sofort. Ihr zartes Herz pochte wie wild. Es war mehr als ein bedrohliches Gefühl. Trotz der warmen Temperatur wurde ihr kalt, eiskalt.

    Ihr kleiner Körper begann haltlos zu zittern.

    Vom allerersten Augenblick an wusste sie es – David würde nicht wieder kommen.

    Die anderen Schulkinder wurden bald mit dem Bus nach Hause gebracht. Alle bis auf Valerie.

    Sie wurde befragt. In endlosen Schleifen. Wieder und wieder.

    Von dieser sympathischen Frau mit den kurzen blonden Haaren, die Marlene König hieß. Und da waren laut plappernde und geschäftig umhereilende Männer und Frauen in Uniform oder Zivil. Es waren so viele. Unüberschaubar viele.

    Ich weiß nicht, was passiert ist. Und ich kann nicht mehr!, hörte sie wie in Trance eine Stimme in ihrem Kopf.

    Immer wieder erzählte sie, äußerlich scheinbar geduldig, den Männern und Frauen – vom Wald, von David, von den Zitronenfaltern und von dem merkwürdigen Schatten.

    Dann, nach einer Stunde sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben, was eine Hundertschaft war.

    Ich will nach Hause zu Nan, schrie es tief in ihr. Und ihr fiel ein, dass es vor kurzem einen heftigen Streit gegeben hatte, wie meistens mit Fiona.

    Warum muss ich ausgerechnet daran denken?, fragte sie sich verwundert.

    All das schien im Moment so weit weg.

    Plötzlich fühlte sich Valerie schrecklich krank und schwach. In ihrer linken Seite verspürte sie einen spitz stechenden, pulsierenden Schmerz. Alles an ihrem Körper begann zu rebellieren.

    David ist weg! Wie soll ich ihn nur suchen, wenn ich ausgerechnet jetzt krank werde?

    Die Stimmen in ihrem Kopf plapperten zusammenhanglos und schrill durcheinander. Valerie hatte das Gefühl, durchzudrehen.

    Und wie immer, wenn sie verzweifelt war, wurde sie äußerlich ruhig und noch folgsamer und irgendwann nur noch - stumm.

    2

    Marlene König

    Für die weitere Befragung beschloss die Kommissarin Marlene König, sich auf die Klassleiterin, Frau Dittrich, zu konzentrieren. Sie konnte sich vorstellen, dass die Pädagogin ihren Job meist souverän ausübte.

    Doch davon war im Moment nichts zu merken. Wirr und völlig außer sich starrte Sieglinde Dittrich mit halb offenem Mund in den Wald.

    Marlene verspürte aufrichtiges Mitleid mit ihr.

    Sie fühlt sich schuldig. Schließlich war es ihr Job, auf den Jungen acht zu geben. Doch solche Dinge passieren eben!

    Trotzdem, sie musste in der Befragung vorankommen. Nach einem Entführungsfall waren die ersten Momente oft entscheidend für den Ermittlungserfolg.

    „Frau Dittrich, ich benötige noch eine genauere Beschreibung des Jungen", versuchte Marlene, die Lehrerin anzusprechen.

    Seit dem Eintreffen der Polizei schwankte die Lehrerin zwischen Phasen der morbiden Abwesenheit und einem unkontrollierten Redeschwall. Beides deutliche Anzeichen für einen Schock.

    Irritiert blickte sie Marlene an. „Bitte, bitte, Sie müssen ihn finden, bettelte sie. „David von Kronfeld, er ist ca. 1,40 cm groß, er ist …,

    Frau Dittrich stockte und wirkte auf Marlene, als sei sie plötzlich entsetzt über ihre eigenen Gedanken. Zögerlich ergänzte sie flüsternd:

    „Ein außergewöhnlich - hübscher Junge."

    Marlene wusste sofort, was sie damit andeutete. Fünf Jahre Erfahrung im Morddezernat und sie hatte gelernt, schnell zwischen den Zeilen zu lesen.

    Wer würde ein Kind im Wald abfangen?

    Hoffentlich kein perverser Triebtäter!

    Vielleicht war der Junge aus einer aufmüpfigen Laune heraus tiefer ins Dickicht gesprungen und hatte sich nur verlaufen, versuchte sie sich angestrengt vorzustellen. Doch der kalte Schauer, der ihr über den Rücken lief, ließ sich nicht ignorieren. Ihre untrügliche Intuition hatte ihr im Job schon oft geholfen und ihr die ehrliche Anerkennung ihrer Kollegen gebracht. In Augenblicken wie diesen wollte sie aber lieber nichts davon wissen.

    „Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass der Junge davongelaufen ist?, fragte sie und hoffte inständig, nicht zu pessimistisch zu klingen. „Schulische Probleme, Auseinandersetzungen mit Freunden …?

    Die Lehrerin schüttelte fassungslos den Kopf. „Im Gegenteil. Davids schulische Leistungen sind gut, außerdem ist er in der Klasse recht beliebt."

    „Die Mutter müsste jeden Moment hier eintreffen. Wissen Sie etwas über familiäre Probleme?"

    „Ich habe die Eltern immer als sehr fürsorglich erlebt. Sofie und Felix von Kronfeld. Reich! Ja, enorm guter finanzieller Background. Einzelkind – oder nein, überlegte sie. „Ein Bruder, Lothar, glaube ich – älter, im Internat. Erschöpft lies sich die Lehrerin auf einer Bank nieder. Marlene würde von ihr wohl im Moment nichts Brauchbares mehr erfahren.

    „Danke. Versuchen sie, sich ein bisschen auszuruhen." Sie überlies Frau Dittrich dem mittlerweile eingetroffenen Kriseninterventionsteam, ein Psychologe hüllte die Frau in eine Decke und reichte ihr einen Becher Tee.

    Sich nach allen Seiten konzentriert umsehend, ging Marlene nochmals den Waldweg entlang.

    Ich brauche ein paar Minuten Ruhe, um meine Gedanken zu sortieren, stellte sie fest.

    Doch das sollte ihr nicht vergönnt sein. Der Geruch eines billigen Männer-Deos stieg ihr aufdringlich in die Nase. Unvermutet stand hinter Marlene ihr Chef, Robert Stahlgruber.

    Stahlgruber raunte ihr vertraulich die neuesten Erkenntnisse ins Ohr:

    „Wir haben frische Reifenspuren entdeckt. Ein Spaziergänger hat ausgesagt, vor einer Stunde einen schwarzen Geländewagen durch einen selten genutzten Waldweg fahren gesehen zu haben. Kennzeichen hat er sich leider nicht gemerkt."

    Stahlgruber fand, was auf der ganzen Wache kein großes Geheimnis war, seine junge Kollegin außerordentlich reizvoll.

    Angewidert trat Marlene einen Schritt zur Seite.

    Selbst in einer solch angespannten Situation konnte er es nicht lassen, ihr zu nah zu kommen. Obwohl Marlene wusste, dass er zumindest den Anstand besaß, es bei den Dekolletee- und Poblicken zu belassen, ärgerte sie sich maßlos darüber.

    3

    Mutter

    Mit deutlich zu hoher Geschwindigkeit bog das blauschwarze Cabriolet auf den Parkplatz ein. Reifen quietschten. Noch halb im Fahren wurde die Autotür aufgerissen.

    In ein edles Kostüm gekleidet, mit hochhackigen Wildlederstiefelchen, sprang Sofie von Kronfeld aus dem Auto und stürmte ungehalten auf Frau Dittrich zu. Grob zog sie die Lehrerin, die zusammengesunken auf der Bank saß, am Ellenbogen.

    „Wo ist mein Kind?!", herrschte sie mit vor Panik weit aufgerissenen Augen an.

    Frau Dittrich zuckte deutlich zusammen. „Ich habe nicht, ich konnte nicht anders …"

    „Ich habe Ihnen mein Kind anvertraut, meinen Sohn!", knurrte Sofie und verstärkte den festen Griff.

    Mit gekonnt eingesetzter Kraft löste Marlene die Lehrerin aus der Umklammerung, stellte sich vor sie und schob Sofie entschieden zur Seite. Ruhig sprach die Kommissarin auf sie ein. „Frau von Kronfeld, noch wissen wir nicht, wo sich David aufhält. Wir werden jedoch alles Erdenkliche …"

    „Das reicht nicht! Wie kann das passieren, am helllichten Tag! Ich werde umgehend den Polizeipräsidenten konsultieren, wenn Sie nicht sofort …" Hysterisch schraubte sie ihre Stimme nach oben.

    Dann schaute sie sich auf dem Rastplatz um. „Wer ist hier der leitende Beamte? Zielgerichtet steuerte sie auf Stahlgruber zu. Die zierliche Frau baute sich drohend vor dem 1,95 m großen, massigen Kripobeamten auf. „Wenn Sie nicht umgehend alles in die Wege leiten und mir meinen Jungen bringen, werde ich …

    Sofie ging wie selbstverständlich davon aus, der Kommissar würde professionell weitere Handlungsschritte erklären.

    Doch der wirkte komplett überfordert.

    „Jawohl, ja, äh, ich meine …" Mit jedem Wort schien er kleiner und kleiner zu werden.

    Tu was, Du Weichei! Es geht um niemand geringeren als meinen Sohn!, würde Sofie am liebsten laut heraus schreien. Stattdessen betonte sie kalt: „Ich werde mich an höchster Stelle über sie beschweren." Mit offensichtlicher Geringschätzung betrachtete sie den nervösen Kommissar.

    Sofie hatte nach Davids Geburt schnell ihre Berufstätigkeit als leitende Richterin am Augsburger Zivilgericht wieder aufgenommen, jedoch nur, weil Davids Vater in den ersten Jahren zu Hause bleiben konnte. Es war ihr über alles wichtig, dass es ihrem David an nichts im Leben fehlte.

    David war für sie alles, so hatte er sicher ihre Klugheit und ihre schulischen Begabungen und – da war sie ehrlich mit sich selbst – die Attraktivität seines Vaters geerbt.

    Auch wenn Sofie von Kronfeld bei Kleidungsangelegenheiten einen exklusiven Stil pflegte und auch bei David stets auf eine standesgemäß gehobene Kleidung achtete, vom Äußeren kam David wenig nach ihr. Nur das weißblonde Haar, das bei ihr im Gegensatz zu David um einiges zu dünn ausfiel, hatte er eindeutig von ihr.

    Wo bist Du nur, mein Liebling? An dem Jungen hing ihr Glück, ihre Freude, alles, was sie ausmachte. Sie liebte ihn, wenn sie am Morgen sein verschlafenes Gesicht sah, ihn abends in ihrem Arm spürte oder seinen Geruch an seinem getragenen Pyjama wahrnahm. Sie konnte sich nicht erinnern, vor seiner Geburt jemals diese Empfindung verspürt zu haben, nein, vor David war alles schwer und grau gewesen.

    Dieser Junge war das Geschenk ihres Lebens. Immer wenn es ihr schlecht ging suchte sie seine Nähe, er gab ihr so viel und alles wurde gut.

    Eines wurde Sofie schlagartig klar: Sollte David nicht mehr auftauchen, ist auch mein Leben tragisch zu Ende.

    Ihre vor wilder Panik geröteten Augen ließen das schmal geschnittene Gesicht besonders ausgemergelt erscheinen. Es war ihr, als schaffe der Boden unter ihren Füßen es nicht mehr, ihren Körper zu tragen. Sie dachte daran, wie sie ihn am Morgen noch in den Arm hatte nehmen wollen. Er war aus dem Zimmer seines Bruders Lothar gekommen, hatte sich seinen Rucksack geschnappt und war schnell an ihr vorbeigehuscht. Ausnahmsweise war sein Bruder zu Hause gewesen. Im Internat waren die Windpocken ausgebrochen. Und jetzt würde sie ihren David vielleicht nie mehr im Arm halten können!

    Aufgelöst drehte sie sich zu Marlene um. Jedes Wort kostete sie enorme Anstrengung.

    „Wo hat man meinen Sohn zuletzt gesehen? Sofie zitterte, sie stand kurz vor einem Zusammenbruch. „Frau …?

    „König. Marlene fasste die Mutter sanft am Arm. „Kommen Sie mit, ich zeig es Ihnen.

    Gemeinsam machten sie ein paar Schritte in Richtung der Waldstelle, des Dickichts, das Valerie beschrieben hatte. Sonst hatte Sofie von Kronfeld eine extrem elegante, stets aufrechte Körperhaltung, doch jetzt geriet die taffe Karrierefrau sichtlich ins Wanken. Es war, als habe die Mutter erst jetzt das ganze Ausmaß der Situation erfasst.

    „Finden Sie meinen Jungen, mein Kind!" Bettelnd sah sie zu Marlene.

    „Die wollen Geld, wir haben … viel, sehr viel. Wir zahlen, sie holte tief Luft, „ALLES!

    4

    Schmerz

    Im Gewimmel der geschäftig umhereilenden Menschen saß Valerie unbemerkt abseits im Gras und wartete auf ihre Patentante. Sie hatte alles beobachtet und wollte nur noch nach Hause.

    Und dann fing es an. Schreie! Herzzerreißend und kreischend. Entsetzt hielt sich Valerie die Ohren zu.

    Es fühlte sich an wie tausend spitze Stiche in den Ohren, die bis zum tiefsten Grund der Seele schmerzten. Niemals mehr würde sie die gellenden Töne tiefster Verzweiflung vergessen.

    Sofie von Kronfeld schrie ihren brennenden Schmerz heraus und fand einfach kein Ende mehr. Bis die Wirkung der durch die Sanitäter verabreichten Beruhigungsmittel einsetzte und der Krankenwagen sie nach Einweisung durch den Notarzt in die nächste Klinik brachte.

    Wenige Minuten danach breitete sich wegen der Absperrmaßnahmen der Polizei eine ungewohnte Stille über den sonst so belebten Parkplatz aus.

    In Valerie jedoch war es, als würde Sofie von Kronfeld immer noch in die Welt hinausbrüllen. Das Kreischen hing in ihren Ohren, ging in ihrem Kopf weiter und weiter. Zu tief hatte sich dieser Tag in Valeries kindliche Seele eingebrannt. Die Schreie, die wärmende Herbstsonne und David, sein hübsches Gesicht, seine freundliche Art.

    Ein besonderer Junge war verschwunden.

    Ein Freund, ein Kind, ein Sohn.

    Sommer 2019

    5

    Liebesgeflüster

    Sie liebte Jazz. Und sie liebte ihn. Während der Einsamkeit der letzten Monate und mit den wechselnden Männerbekanntschaften hätte Silvia sich nie dieses einzigartige Wunder vorstellen können, das ihr jetzt widerfahren war. Wie ein Pfeil, so traf es sie mitten ins Herz. Dieser Mann, er war alles, was sie sich je in langen schlaflosen Nächten erträumt hatte. Er berührte ihre Seele aufs Tiefste, ihr Körper hingegen fühlte sich an wie in einem chronischen leidenschaftlichen Rausch.

    Es war nicht so, dass Silvia in den letzten Jahren Affären oder kurze Bettgeschichten einer festen Beziehung vorgezogen hätte. Nur hatte sich Letzteres seit ihrer Ehe mit Mike nicht mehr ergeben. Außerdem hatte sie nach der Trennung erst mal die Nase von schwierigen Beziehungen gestrichen voll gehabt. Die Beziehung zu Mike war von Eifersucht und den immer gleichen emotionalen Dramen geprägt gewesen. Von Beginn an hatte er ihren Beruf als Stewardess misstrauisch abgelehnt und war davon ausgegangen, dass sie ihn auf ihren Reisen hintergehen würde. Dabei war das trotz der zahlreichen Möglichkeiten nicht ein einziges Mal der Fall gewesen. Zunächst.

    Doch Mikes krankhafte Eifersucht hatte die Beziehung nach und nach zerstört und jede Nähe, jede Verbindung, jedes Glück zwischen ihnen vernichtet wie eine unaufhaltsam fortschreitende Krebserkrankung. Bis es Silvia tatsächlich in die tröstenden Arme eines für sie eigentlich unbedeutenden anderen Mannes getrieben hatte.

    Schlimm für Silvia war letztendlich nicht mal das darauf folgende Geständnis. Verwundert war ihr aufgefallen, dass sie keinerlei Bedauern verspürte hatte. Da hatte sie gewusst, dass auch der letzte Funke Zuneigung unbemerkt abgestorben war.

    Mike hingegen sah sich in seinem jahrelangen Misstrauen bestätigt und packte noch in derselben Nacht seine Koffer. Seitdem hatte sie weder von ihm gehört noch kümmerte er sich um ihren gemeinsamen Sohn Patrick oder zahlte wenigstens Unterhalt.

    Silvia trauerte ihm zwar keine Sekunde nach, doch der Job als allein erziehende Stewardess zehrte mit den Jahren zunehmend an ihren Kräften. So gönnte sie sich von Zeit zu Zeit ein kleines Flirtabenteuer, manchmal wurde ein bisschen mehr daraus, ein anderes Mal wieder nicht.

    Doch heute und hier, mit diesem Mann, das spürte Silvia in allen Poren ihres Körpers, mit ihm war alles anders. Ihn würde sie nie mehr vergessen können.

    Nach ihrem letzten Bangkok-Flug hatte die Stewardess ein geheimnisvolles Paket erhalten. Bereits der überdimensional große Strauß tiefroter Rosen hätte bereits ausgereicht, um ihre Kolleginnen vor Neid erblassen zu lassen. Mit ihrer Kollegin und besten Freundin Marion hatte sie die Schachtel geöffnet.

    Eine charmante Einladung zu einem exklusiven Jazz-Wochenende in Berlin! Daneben lag in samtenen Stoff eingehüllt - ein dunkelrotes Kleid. Ein sündhafter Traum aus Seide in ihrer Lieblingsfarbe. Das Lous-Vitton-Kleid strotzte nur so vor Luxus und sie bewunderte den erlesenen Geschmack.

    Erst Stunden später, zu Hause in ihrer kleinen Dachwohnung in der Augsburger Altstadt, war sie behutsam hineingeschlüpft, als wäre das Kunstwerk nicht aus Stoff, sondern zerbrechlich wie Glas. Größe 36. Es passte wie angegossen.

    Spontan an besonders innige Momente erinnert, hatte sie leise auflachen müssen. In der einen oder anderen leidenschaftlichen Nacht musste er ihren Körper ziemlich genau inspiziert haben.

    Um ehrlich zu sein: Er war wie ein Sechser im Lotto. Mit Superzahl, oder besser gesagt mit Supermann?

    Beschwingt war sie zum Telefon gestolpert. Nächstes Wochenende hatten sie und Marion keinen Flug und es brauchte zum Glück nicht viel, um ihre Freundin zu überzeugen, auf ihren Sohn Patrick aufzupassen.

    Er hatte den Treffpunkt in Berlin ausgewählt. Eine Jazzkneipe.

    JAAAAA! Berlin, Jazz, Traummann, ich komme!

    Erwartungsvoll betrat Silvia die stilvoll eingerichtete Bar. Der Duft der Spirituosen stieg ihr aufreizend in die Nase und ihr geschultes Ohr vernahm genussvoll die Klänge des Jazztrios, bestehend aus einem Saxophon, einem Kontrabass und einer Sängerin mit einer verrucht-rauchigen Stimme und einem Abendkleid, dessen Beinausschnitt endlos lange Beine zeigte.

    Silvia blieb kurz stehen und strich mit ihren manikürten Fingernägeln über den seidenen Stoff ihres Kleides. In ihrer Bauchgegend begann es aufregend und nervös zu flattern und jede der vor ihr liegenden Minuten erschien ihr wie die wertvollste Zeit ihres Lebens.

    Nun standen sie heute hier. Ein Mann und eine Frau. Durch das leicht schummrige Licht der Bar fanden ihre Augen, wen sie vielleicht schon ein ganzes Leben lang gesucht hatten.

    Da saß er – an der Bartheke – und wartete: auf sie!

    Als er sie sah, huschte das verheißungsvolle Lächeln, das sie so sehr bezauberte, über das vertraute Gesicht. Vor ihm standen zwei Pina Colada, ihr Lieblingscocktail.

    Kann das Liebe sein?, schoss es ihr ungewollt durch den Kopf. Dieser Höhenflug der Gefühle war ihr vollkommen neu und verunsicherte sie augenblicklich. Sie fühlte sich wie ein über beide Ohren verknallter Teenager.

    „Ich kenn ihn noch nicht lange und doch - alles ist perfekt, er ist perfekt", seufzte sie auf.

    Wäre sie nicht so ein absoluter Jazz-Fan, sie würde ihn augenblicklich nehmen und aufs Hotelzimmer zerren. Silvia fragte sich, ob sie je einen Mann so begehrt hatte.

    Dabei hatten sie sich erst vor ein paar Wochen auf einer ihrer Flugreisen kennengelernt. Eigentlich ein No-go, sie ließ sie sich schon aus Gründen der Berufsehre nie mit einem der Passagiere ein. Doch witzig-charmant, aber auch ausdauernd und hartnäckig hatte er es letztendlich geschafft, ihre Handynummer zu bekommen. Erst rief er sie häufig an, dann lud er sie irgendwann zum Essen ein, und der Geschichte ihrer Romanze folgte ein Kapitel nach dem anderen, wie im Märchen …

    Erwartungsvoll ging Silvia auf ihn zu. Bei jedem Schritt umspielte der kühle Stoff des Kleides ihre anregend pulsierende Haut. Auf was sollte sie sich mehr freuen? Auf Berlin, auf den Jazz oder den heißen Sex? Leichthin entschied sie sich für Letzteres und begrüßte ihn mit einem viel versprechenden Kuss.

    Heute war sie die Königin der Nacht. Seine Königin.

    Unbewusst legte sie ihre Hand an ihren Ausschnitt. Eine zart schimmernde Herzkette schmückte ihr verführerisches Dekolletee. Auch ein persönliches Geschenk von ihm. Das rote Samtkleid, die Kette, seine bewundernden Blicke … Sie wusste nicht, wann sie sich das letzte Mal so schön gefühlt hatte.

    Dann tanzten sie gemeinsam. „Lady in red, she’s dancing with me", flüsterte er ihr neckisch ins Ohr und lachte leise auf. „How can it be?

    Just you and me …"

    Später an der Bar tuschelten sie verliebt miteinander. Sie war ihm zutiefst dankbar dafür, dass sie sich so wunderbar fühlte. Das war in den letzten Monaten nicht oft so gewesen. Zu viele Frösche hatte sie geküsst.

    Ihr Glück heute war sein Verdienst und das sollte er wissen.

    Zärtlich legte er einen Arm um ihre Hüfte und küsste sie neckisch auf ihren Nacken.

    Silvia sah die heiße Glut in seinen Augen. Sie

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1