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Mein anderes Leben
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eBook492 Seiten7 Stunden

Mein anderes Leben

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Über dieses E-Book

Katharina Schreiber wäre ein ganz normales Mädchen, wenn ein einziger Abend nicht einen dominoeffektähnlichen Ablauf von Ereignissen ausgelöst hätte. Der Abend an dem ihr Vater umgebracht wurde, bleibt aus mehr Gründen als nur einem für immer in ihren Gedanken verankert. Aber anstatt in Ruhe trauern zu können, muss sie unter falschem Namen in einer fremden Stadt ein anderes Leben beginnen, weil der Mörder ihres Vater hinter ihr her sein könnte.
Mein anderes Leben schreibt Katharina Schreiber, oder viel mehr Phoebe Johnson, in diesem aufwühlenden Jahr.
Mein zweites anderes Leben, schreibt sie in dem folgenden, nicht weniger aufwühlenden Jahr.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum16. Juli 2018
ISBN9783743139398
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    Buchvorschau

    Mein anderes Leben - Lisa Tolkien

    Mein anderes Leben

    Für Lauren

    Mein anderes Leben

    Prolog

    Wozu die Mühe?

    Immer kommt das Leben dazwischen

    Wie soll ich weiterleben

    Meine persönliche Hölle

    Wie konnte es so enden?

    Nur zu, nimm alles was ich habe

    Es kommt und es geht

    An deiner Seite - Max

    Sie - Jared

    Tick Tack

    Mit jedem Atemzug

    Nein, niemals

    Der allererste Tag

    Lass mich das eben verderben - Max

    Was habe ich erwartet?

    Die Melodie meiner letzten Hoffnung

    Vielleicht würde es helfen, wenn wir rummachen

    So oder so

    Brauchen und Bekommen - Max

    Der Moment

    Du weißt nicht was du weißt - Jared

    Schuldgefühle

    Tag ein, Tag aus

    Ablenkung - Max

    Weihnachten

    Die Zeit steht still

    Erinnerst du dich?

    Erweck mich zum Leben

    Du raubst mir den Atem - Jared

    Alles von mir - Max

    Valentinstag

    Impressum

    Für Lauren

    Mein anderes Leben

    Lisa Tolkien

    Prolog

    „Katharina!", sagte der Oberhauptkommissar Sebastian Ehrlicher und stützte sich auf die schwarze, kühl wirkende Tischplatte. Unweigerlich schaute ich ihn fragend an.

    Der Mann mir gegenüber atmete schwer aus und blickte sich in dem Raum um. Seine große Statur wirkte durch seine olivbraune Haut weicher. Die schwarzen Haare und die kühlen, dunklen Augen ließen mich diesen Gedanken aber wieder begraben. Ich war mir sicher, dass er, wenn er lächeln würde, freundlicher aussehen würde, aber das tat er in meiner Gegenwart nie.

    Der Raum in dem wir seit einigen Stunden, seit einigen Wochen saßen, war quadratisch, grau, schwach beleuchtet und an einer Seite breitete sich ein langer Spiegel aus. Eben wie man sich einen Befragungsraum in einem Polizeipräsidium vorstellen würde.

    „Nein., flüsterte ich. Neue Tränen drückten sich in meine Tränendüsen. „Mir fällt nichts mehr ein. Das habe ich ihnen doch gestern schon gesagt., und vorgestern und vorvorgestern und alle Tage davor.

    „Mir scheint, als würde dir immer wieder etwas auf den Lippen liegen. Je mehr der Tatabend wegrückt, desto mehr hoffe ich, du kannst uns weiterhelfen."

    „Sie wissen doch wie er aussieht.", antwortete ich und schaute stur auf das vor mir liegende Bild. Dieses Gesicht hätte ich auch in Jahren noch perfekt beschreiben können, es würde mir für immer in meinen Gedanken eingebrannt bleiben.

    „Ja, ja das wissen wir. Gut ich denke, wir können abbrechen."

    „Gut.", sagte ich und hüstelte, stand auf und klopfte auf den Tisch.

    Etwas weiches, papierartiges durchquerte den Weg auf die harte Tischplatte.

    Reflexartig schaute ich auf den Tisch und erstarrte. Die alte Zeitung lag ausgebreitet auf der Fläche. Als ich befragt wurde hatte ich die Schlagzeile erfolgreich ignoriert, doch jetzt war es, als würde sie mir ins Auge springen.

    Mädchen, 17 Jahre, beobachtet Mord ihres Vaters    17.03.2013  

    Es ereignete sich am 15. März dieses Jahres. Ein Mann stieg in die Wohnung des 45 – jährigen Ingenieurdirektoren Mathias S. ein und stach sein wehrloses Opfer nieder. Das tragische dieser Geschichte ist wohl, dass sich zum Zeitpunkt des Tatgeschehens die 17 – jährige Tochter des Opfers in der Wohnung aufhielt und den Mord beobachtete. Laut unserer Informationsquelle konnte das Mädchen eine detailreiche Täterbeschreibung abgeben. Doch der Täter ist und bleibt verschwunden und hinterließ der Polizei keinerlei Spuren.

    Die Polizei bittet ausdrücklich, dass sich Bürger, die etwas mitbekommen oder gesehen haben, sich bei ihnen melden. Es sind auch anonyme Hinweise erwünscht.

    Ich schloss langsam die Augen. Die Erinnerung an den Tag vor nun fast 3 Monaten trieb mir wie immer krampfartig die Tränen in die Augen.

    „Es war wirklich so, Paps. Ich bin also in diesen blöden Eimer getreten.", hatte ich an diesem kalten Frühlingsabend zu ihm gesagt. Gerade hatte mein Vater sich von dem ersten krampfartigen Lachanfall erholt und konnte nun kaum den nächsten zurückhalten. Wir standen in der Küche und witzelten über unseren fast vergangenen Tag.

    „Wie …, kicherte er und versuchte die Worte aus seinem Gelächter herauszupressen. „Wie kann man denn einen Eimer mit roter Farbe übersehen?, fragte er, deutete auf meine Jeans, die bis zu den Knien rot gefärbt war und prustete wieder los.

    „Ich hab halt gerade auf diesen Jungen geachtet, Papa.", gestand ich schüchtern und wurde rot. Mein Vater verdrehte die Augen, er sprach genauso ungern mit mir über das Thema Jungs, wie ich mit ihm über Fußball reden wollte, und schnupperte mit einem angewiderten Gesichtsausdruck an der Luft.

    „Sag Spatz., sagte er und hielt erneut die Nase in die Luft. „Wann haben wir den Auflauf in den Ofen geschoben?

    Ich riss die Augen auf und spurtete zum Ofen, riss die Klappe auf und stellte das Feuer ab. Mein Vater verschwand im nächsten Zimmer. Ich rannte zum Fenster und öffnete es, wedelte mit einem Handtuch umher, als könnte ich die Luft hinausschicken. Als ich mich umdrehte, um mir das Ausmaß der Verbrennung anzusehen, stand mein Vater mit einer roten Flasche vor dem Herd und fuchtelte an einem Verschluss herum. Als ich begriff, war es schon zu spät. Er zog die Sicherung und der weiße Schaum quoll aus dem Schlauch. „Papa!", schrie ich. Doch der hatte das Gerät längst nicht mehr unter Kontrolle und die gesamte Küchengarnitur war binnen weniger Sekunden mit dem luftigen Schaum bedeckt. Unter großen Gegacker jagte mein verwitweter Vater mir hinterher und besprühte mich mit eben diesem Schaum. Als wir beide auf den Po gefallen waren, kamen wir gar nicht mehr aus dem Gelächter heraus und lagen uns mit tränenden Augen in den Armen. Und dann war plötzlich alles ganz anders.

    Das einfallende Schloss unserer Haustür und die knarrenden Stufen hatten uns in Aufregung und Stille gebracht. Ich erstarrte in den Armen meines Vaters. „Papa? Ist jemand in der Wohnung?", fragte ich und kauerte mich wie eine 7 – jährige an den Arm meines Vaters. Er streichelte mit seiner von schaumbedeckten Hand über meine Haare. Eine Geste die still meine Frage beantwortete.

    „Kathi., er sprach sehr leise und unruhig, stand auf und zog mich nach oben. „Bitte, tu was ich dir jetzt sage., er umfasste mit seinen großen Händen mein ganzes Gesicht und schaute mich eindringlich an. Er hatte dieselben eisblauen Augen wie ich. Überhaupt war ich meinem Vater aus Gesicht und Persönlichkeit geschnitten.

    Ich war wie gelähmt und konnte nur nicken.

    „Versteck dich und komm erst wieder raus, wenn ich es dir sage, ja? Versprich mir, dass du leise bleibst und dich nicht rührst. Ich hab dich lieb."

    „Papa …", flüsterte ich und begann zu weinen. Liebevoll nahm er mich in den Arm und küsste mich danach auf die Stirn.

    „Geh schon", er drehte mich herum und schubste mich in Richtung Wandschrank. Monoton, wie ein Roboter öffnete ich die Tür, schloss sie ganz leise und kauerte mich, zwischen die Putzmittel und Besen, hinter die Tür, die einen kleinen Schlitz hatte, wo hindurch ich blicken konnte. Mein Vater hatte sich auf den Stuhl gesetzt und die Zeitung aufgeschlagen. Ein schwarz angezogener Mann trat ins Licht der Küche. In der Hand funkelte etwas silber im schwachen Licht der Küche. Meine Augen füllten sich mit Tränen, als ich erkannte, dass es ein Revolver war. Der Mann hatte eine Glatze, einen Drei-Tage-Bart und die widerlich gelbbraunen Augen wurden von tiefen Augenringen umrandet. Er grinste grimmig. Er ließ den Zylinder in seinen Händen rollen. Der Kopf meines Vaters huschte nach oben. Ich hatte die Finger in die Oberschenkel gedrückt und die Augen zugemacht.

    „Sie.", hörte ich meinen Vater sagen, er klang überrascht, und die schreckliche Gewissheit umfasste mein Herz wie eine Klaue. Mein Vater kannte diesen Mann.

    „Ich wusste, sie würden mich erkennen, Mathias. Ich habe Stimmen gehört, ist noch jemand hier?", sagte der Mann mit einer rauen, dumpfen Stimme.

    „Ach, wissen Sie. Ich habe mit meiner Tochter geskyped. Sie ist im Moment nicht in der Stadt.", die Stimme meines Vaters zitterte. Er hielt seit Minuten die Hände nach oben, ein Zeichen der Ergebenheit.

    „Ihre Tochter. Wie geht es Katharina? Sie muss groß geworden sein.", sagte er verträumt. Ich war erstarrt. Er wusste wer ich war? Ich presste meine Zähne aufeinander. Ganz ruhig, sagte ich mir. Es wird nichts passieren.

    „Was wollen sie?", fragte mein Vater nach einer langen Pause, ich hörte die Tränen.

    „Nichts weiter.", ich hörte das verschmähte Grinsen in seiner ekelhaften Stimme. Ich presste die Lippen aufeinander, um den Schmerzensschrei zu unterdrücken, kniff die Augen mehr zusammen, drückte die Fersen gegen die Wand und spürte wie leichtes Blut aus den kleinen Schrammen meines Oberschenkels quoll. Ich wusste genau was jetzt geschah. Mit ein paar dumpfen Schritten ging der Mann auf meinen Vater zu und mit einem gedämpften Knall verschwand eine Kugel in seiner Brust und kam klimpernd hinter ihm auf den Boden auf. Der erstickte Schmerzenslaut verbreitete sich in meinem Kopf wie ein Lauffeuer. Und dann folgte unerträgliche Stille. Erst als ich die zugefallene Tür hörte, wagte ich einen Blick durch den Schlitz. Ich sah die Beine meines Vaters, die unnatürlich zuckten und ein leises Wimmern war zu hören. Ich stieß die Tür auf und hechtete zu ihm.

    „Papa!", bei seinem Anblick schossen mir die Tränen aus den Augen. Seine Augen waren leer, aus seinem Mund rann etwas Blut und mit seiner linken Hand presste er gegen die Wunde in seiner Brust. Ein riesiger Blutfleck erschien dort, wo das Herz klopfte und pulsierte.

    „Kathi.", würgte er und schaute mich an.

    „Ich ruf den Notarzt.", noch immer weinte ich bitterlich und tippte zitternd die Nummer in mein Handy. Eine gespenstig aussehende Hand fuchtelte vor meinem Gesicht und fand meine Wange. Ich schmiegte mich in die Hand meines Vaters, doch ich spürte, dass er keine Kraft mehr hatte mich zu stützen.

    „Kathi.", sagte er wieder, schüttelte den Kopf und um seine Mundwinkel zuckte es. Schnell drückte ich auf den grünen Hörer, die Verbindung wurde hergestellt.

    „Gleich kommt jemand Papa.", sagte ich und schaute auf mein Handy.

    „Sieh mich an, bitte.", ich tat, was er verlangte. Jetzt sah man ein Lächeln deutlicher.

    „Ich liebe dich, mein Engel. Immer, auch wenn..." Es hatte ihn große Anstrengung gekostet es zu sagen, das wusste ich, neue Tränen quollen meine Wangen hinunter.

    „Katharina.", es war nicht mal mehr ein Flüstern und kaum hatte er es gesagt, stockte sein Atem und er blickte starr und leblos in meine Augen.

    „Nein.", gurgelte eine Stimme gequält, bis ich bemerkte, dass ich es war. Ich legte mich neben den leblosen Körper und drückte mich fest an ihn.

    „Notrufzentrale, Göttingen. Mit wem spreche ich?", fragte eine Frauenstimme am Apparat – Ich sagte kein Wort, wischte das Blut aus meinem Gesicht und legte meinen Kopf auf den Brustkorb meines Vaters. Ich hoffte verzweifelt, er würde sich heben.

    „Bitte, mit wem spreche ich?", fragte die Frau geduldig.

    „Hilfe.", weinte ich.

    „Können sie mir sagen, wo sie sich aufhalten?, die Frau wartete, doch nicht mehr so lang und offenbar aufgeregter sagte sie schließlich: „Nicht auflegen. Wir werden dich lokalisieren, mach dir keine Sorgen, Hilfe ist unterwegs.

    Schlagzeilen der letzten Monate blitzten vor meinen Augen auf.

    Keine weiteren Hinweise, Polizei ratlos. Tochter schweigt. Kind wird in Polizeischutz gehalten. Oberkommissar Leubten: „Wir haben keine weiteren Spuren." Phantombild erstellt, Suche läuft auf Hochtouren. Was wird aus dem Mädchen?

    Als wäre mein Leben ein Spielfilm. Alle Zeitschriften waren voll von absurden Ideen und Schlagzeilen und Verschwörungstheorien. Warum wurde aus meinem Leben so ein Drama gemacht?

    Das Gespräch zwischen Sebastian Ehrlicher und Susan riss mich aus den Gedanken.

    „Wir müssen sie schützen, dass wissen sie, Ehrlicher.", sagte die Polizisten.

    „Sie kennen meinen Vorschlag und ich habe ihnen Bedenkzeit gegeben, mit dem Hinweis, uns bliebe keine Zeit., antwortete der erstaunlich junge Mann (Erstaunlich weil sein Charakter und seine Stellung nicht zu einem 26 – Jährigen passten). Ich konnte ihn nicht wirklich leiden, er schien manchmal ziemlich grob und irgendwie auch unbeholfen mit mir umzugehen. Susan Johnson-Schmidt war da nicht anders. Sie kam aus Amerika und pendelte mit ihrem Mann immer zwischen beiden Staaten hin und her, immer wo sie gebraucht wurde. Auch an sie kam ich nicht richtig heran. Sie schien mich nicht zu verstehen.                           „Mein Mann konnte noch nichts Genaueres mit seinem Chef abklären, ich meine, wir brauchen einen Vorschlag, solang wir noch nicht wissen, wie es weitergeht.

    Ich wusste, worüber sie sprachen. Vor einer Woche hatte man mir gesagt, der Täter könnte mir auf den Fersen sein, weil ich ihn erkannt hatte. Ich sei eine Kronzeugin hatte man mir gesagt. Ich müsste geschützt werden. Unter einem anderen Namen hier wegziehen und Susan und ihr Mann Richard hatten sich bereit erklärt mit mir zu gehen. Ich wusste nicht ganz, was ich davon halten sollte. Aber im Moment war es mir egal. Ich starrte Susan an und versuchte mich daran zu erinnern, wie sie aussah, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Sicher war ihr Gesicht damals vor Sorge nicht so eingefallen wie jetzt, ihre Haut nicht so blass, obwohl man die naturbraune Färbung vermuten konnte. Sicher waren ihre dunkelbraunen, langen Locken nicht lustlos in einen Zopf gebunden und die braunen Augen nicht so schwach.

    Ich wandte den Blick ab. Heute war der erste Tag, an dem ich Papas Grab besuchen durfte. Man hatte ihn gleich neben Mama begraben. Ich hatte nicht aufhören können zu weinen und ganz offensichtlich wussten die Streifenpolizisten, die mich zu meinem Schutz begleitet hatten, nicht was sie mit mir anfangen sollten, also hatten sie mich eine Weile durch die Stadt gefahren. Das hatte irgendwie gut getan, aber irgendwie auch nicht. Danach nahmen sie mich gleich wieder mit zur Dienststelle, weil ich nirgends einen anderen Platz hatte, wo ich hingehen konnte. Zurzeit schlief ich immer mal woanders. Entweder bei den Johnson-Schmidts oder bei einem anderen Polizisten oder Leibwächter. Einmal musste ich bei Ehrlicher schlafen. Seitdem ist unser Verhältnis merkwürdig angespannt.

    Susan schaute mich an und machte riesige Augen, bevor ihr das Wasser in die Augen stieg. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich mir eine Hand an die Wange gelegt hatte und schrecklich weinte – ich versuchte mich vor der Kälte zu schützen, die die Erinnerung an den Tod ausgelöst hatte.

    „Kathi., sagte sie und kam auf mich zu. Ihre Arme schmiegten sich behutsam um meine Taille. „Alles wird gut, das verspreche ich dir.

    „Wird es nicht.", flüsterte ich und machte keine Anstalten die Arme um sie zu schlingen, um die Person, an die ich mich wenden sollte, wenn es mir schlecht ging. Doch was sollte ich denn machen? Ich könnte mich bei einer fremden Person nicht ausweinen. Tief im Inneren wusste ich wohl, dass Susan eine liebevolle und fürsorgliche Frau war. Doch mit mir ging sie genauso unbeholfen und ahnungslos um wie alle Anderen auch. Ich hatte mir oft einen großen Bruder gewünscht und heute schmerzte dieser Wunsch unbeschreiblich stark.

    „Ich kann für dich da sein. Wir können das.", flüsterte sie leise in mein Ohr. Man merkte sie war den Tränen nahe, doch mein Herz war schon zu lange der nicht enden wollenden Kälte und Dunkelheit ausgesetzt, um Fürsorge zu verstehen.

    „Macht was ihr glaubt tun zu müssen, ich halte mich da raus., Ich schluckte die Tränen hinunter und wusste, dass das, was ich gleich sagen würde, alle verletzen würde, auch mich selbst. „Ich bin Nichts, ich funktioniere, mehr nicht. Sie können alles mit mir machen, mein Leben ist sowieso vorbei., stotterte ich, rannte aus dem Raum und flüchtete auf die Toilette, wo ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte und auf den Boden stürzte. In meinem Kopf echote die Reaktion auf meine Worte. Herr Ehrlicher hatte nach Luft geschnappt und dann den Blick gesenkt. Susan erstarrte und als ich mit einem Fuß aus dem Raum war, brach sie in Tränen aus. Es gab nur einen kleinen Unterschied.

    Die Beiden waren verletzt und geschockt, weil sie nicht wahrhaben wollten, dass ich so etwas sagen konnte, da sie doch so viel für mich taten. Ich war durch diese Worte verletzt worden, weil ich die Wahrheit gesagt hatte. Die Wahrheit, die ich so lang versucht hatte, zu verschweigen. Mein Leben war zu Ende. Ich würde noch 50, 60, 70 Jahre als ein Nichts weiterleben. Was war also der Sinn? Wo blieb der Grund für mein Leben? Niemand war da, der mich vermissen könnte, niemand war da, den ich nicht allein lassen könnte. Niemand. Genauso wie ich es bin. Niemand. Ich rollte mich zu einer Kugel zusammen und zitterte auf dem kalten Boden. Nichts, niemand, keiner. Ich sprang auf, klatschte mir die Hand vor den Mund und erreichte gerade so die Toilette. Ich rutschte vor der Toilette hin und her als ich mich erbrach und versuchte irgendwie Luft zu bekommen. Ich fühlte im Moment nichts außer Ekel. Ich war nur noch eine Hülle. Stimmen rissen mich aus den Gedanken. „Katharina? Bist du hier drin?", rief Susan mit wackliger, besorgter Stimme. Ich klappte leise den Toilettendeckel runter und kauerte mich auf diesen, damit, wenn Susan auf die Idee kommen würde, ich nicht von meinen Beinen verraten werden würde.

    „Liebling?", hörte ich eine männliche Stimme. Richard.

    „Nein. Hier ist sie nicht.", schniefte sie.

    „Wir finden sie schon, mach dir keine Sorgen. Sie ist groß genug. Akzeptiere ihr Verhalten, sie hat so viel durch. Lass ihr Zeit." und die Tür klappte zu. Ich sah ihn nur selten, er arbeitete praktisch 23 Stunden am Tag, aber wenn er Urlaub hatte, gab es nichts, was über seiner Frau stand. Die Beiden waren verliebt wie am ersten Tag – es war zum Kotzen. Wie ein Stichwort drehte ich mich um, riss den Deckel hoch und übergab mich wieder. Meine zitternde Hand drückte den Spülknopf und mit wackelnden Beinen erreichte ich das Waschbecken, wo ich mir minutenlang kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Dann stützte ich mich mit den Armen ab und betrachtete mein Ebenbild. Ich erkannte mich nicht. Meine Haare waren filzig und zu einem wirren Zopf gebunden, mein Gesicht war eingefallen und mager, die Wangenknochen stachen deutlich hervor. Unter meinen eisblauen Augen bildeten sich tiefe, dunkle Augenringe, anscheinend schlief ich nicht viel, aber ich konnte mich an nichts erinnern. Ich weinte immer noch. Wer bin ich? Wo ist mein Sinn zu leben? Das Gesicht im Spiegel bebte plötzlich und die traurigen, verletzlichen Züge mimten sich zu wütenden und bösen. Es fletschte die Zähne, kniff die Augen zusammen und kreischte. Als spitze Scherben meine Hand durchbohrten, bildeten sich Risse über die ganze, glatte Fläche und dort, wo sich gerade noch das Ebenbild meines Selbst befand, erstreckte sich ein Loch, so groß, dass ich dachte, meine Faust würde reinpassen. Als ich es versuchte, bemerkte die pulsierend rote, blutende Hand. Mein Blick wurde trüb und schwarz, ich verlor mein Gleichgewicht und prallte auf den Boden.

    „Katharina, Kathi.", eine kalte Hand stupste meine Wange, ein feuchtes Tuch glitt über meine Stirn, eine schwere Decke drückte mich in die weiche Matratze.

    „Ja?", fragte ich unbeteiligt und schlug die Augen auf.

    „Richard, sie ist aufgewacht!", brüllte Susan durch die helle Wohnung, nachdem sie mich angestarrt hatte und dann aufgesprungen war. Ich setzte mich auf und schaute mich um. Ich war also bei Susan und Richard in der Wohnung. Ich lag in dem Zimmer, in dem ich immer schlief, wenn ich bei den ihnen war. Das Zimmer war klein und gemütlich. An einer Seite erstreckte sich ein langes, dunkelbraunes Bücherregal.  Ich liebte es zu lesen und hätte ich den Kopf dafür und wäre ich aus anderen Gründen hier, könnte ich mich den ganzen Tag in dieses Zimmer setzen und lesen. Dem Regal gegenüber war ein großes Fenster mit zig Pflanzen. In der einen Ecke stand das Bett, das genau in Blickrichtung eines kleinen Fernsehers stand. Aber natürlich war es nicht mein Zimmer, nicht mein Zuhause.

    Richard kam in den Raum gestürmt und legte beide Hände an meine Wangen, tätschelte meine Stirn, zog meine Augenlider auseinander und blendete meine Augen mit einer kleinen Taschenlampe. Ein Arzt eben. Als die Prozedur vorbei war, setzte er sich neben mich aufs Bett, legte meine verbundene Hand auf seinen Schoß und ließ seine warme, weiche Hand auf meiner Schulter liegen, mit der anderen Hand glitt er durch die nun offenen, gekämmten Haare und ließ sie an meiner Wange liegen – es hatte etwas Beruhigendes.

    „Was machst du denn für Sachen, Kathi? Wir haben uns Sorgen gemacht. Und deine Hand, was hast du getan? Wieso hast du den Spiegel eingeschlagen?"

    „Den Spiegel? Ich. Ich weiß nicht. Mein Kopf.", stotterte ich und fasste mir an den brummenden Schädel.

    „Schatz, vielleicht sollten wir sie noch ein bisschen schlafen lassen.", sagte Susan und legte eine Hand auf Richards Schulter

    Er streckte eine Hand in die Luft, um seiner Frau zu sagen, sie solle nichts sagen.

    Ich verstand die Welt nicht mehr.

    „Würdest du uns allein lassen, Liebling?"

    „Was?", fragten Susan und ich wie aus einem Mund.

    „Ich möchte mich gerne mit ihr unterhalten, Susan."

    „Oh. Okay. Das kann ich doch auch machen."

    Er schaute sie nur an und schon huschte sie aus dem Zimmer.

    „Kathi."

    „Nein, fang gar nicht erst so an."

    „Sei leise! Er vergrub sein Gesicht in seine Handflächen. „Ich weiß, dass es nicht einfach für dich ist. Ich weiß, es ist schwer für dich, uns zu akzeptieren, uns zu vertrauen. Aber wir haben dich seit der ersten Minute in unser Herz geschlossen. Also sag mir bitte, was auf der Toilette passiert ist. Warum?, er machte eine Pause und schaute mir in die Augen. Die Schokolade in seinen Augen schmolz vor Sorge. „Warum hast du das getan?" Seine Augen fixierten meine, musterten mich, als könnten sie analysieren, was Lüge und was Wahrheit war. Er hatte die gleiche, braune Haut wie Susan und seine Augen waren von einem satten schokoladenbraun. Die längeren, blonden Haare wellten sich noch genauso nach hinten, wie sie es taten, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte und im Gegensatz zu Susan war das Gesicht noch nicht kraftlos und blass wie Susans. An den Tag unserer Begegnung konnte ich mich merkwürdiger Weise noch genau erinnern.

    Es war April, ich kannte Susan und Sebastian schon länger und der Winter außerhalb der Fenster, der sich meinem Leben anpasste und sich bis in den Frühling zog, ließ mich bis auf die Knochen frieren. Ich saß leblos und starr wie immer in dem kleinen Raum neben dem Büro von Ehrlicher und starrte auf das immer gleiche Bild. Meine Ohren dröhnten, alle Glieder schmerzten und meine Gefühle waren taub, bis auf die klaffende Wunde in meiner Brust. Die Tür ging auf und schnell wieder zu, dann spürte ich die warme Anwesenheit einer anderen Person neben mir. Die Person sagte nichts, sondern blieb ruhig neben mir sitzen und starrte in die gleiche Richtung. Ich wagte einen kurzen Blick zur Seite. Der Mann lächelte leicht, seine braunen Augen strahlten und seine feuchten, dunkelblonden Haare waren mit noch immer gut sichtbaren Schneeflocken übersäht. Ich hatte seit langem niemanden mehr gesehen, der mir sofort guttat. Das Gefühl wiederbelebter Zellen in meinen Kopf stieg an, das Blut rauschte wärmer durch meinen Körper. Und da hatte er noch nicht mal ein Wort herausgebracht.

    „Ich bin Richard.", sagte er leise und ließ mich nicht aus den Augen.

    „Ich bin Katharina.", die Worte überschlugen sich, als sie unbedingt aus meinem Mund wollten. Das war mein erster Satz seit Wochen. Und dann kam der Zusammenbruch, der seit so langer Zeit auf sich hatte warten lassen. Tränen strömten aus meinen Augen und die Masse an zuvor betäubten Gefühlen überwältigte mich. Und dann glitt mein müder und kaputter Körper an Richards Seite und fand in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Ich spürte Richards Nähe die ganze Nacht und überstand sie ohne Albträume und ohne ein viel zu frühes Erwachen. Auch zum ersten Mal nach Wochen.

    Wir studierten beide unsere Blicke, als könnten wir durch sie auf unsere Seelen sehen. Als wären wir an die gleiche Situation erinnert. Ich wollte nicht streiten oder diskutieren. Aber wir sagten beide nichts mehr, sondern starrten uns nur weiter an, bis ich irgendwann den Blick abwenden musste und mit tränenden Augen auf die blau-geblümte Decke sah. Ich hatte Angst, Dinge zu sagen, die ich nicht so meinte, wenn er weiter über die Geschehnisse sprechen wollte.

    „Katharina. Wir sind doch für dich da.", sagte er und legte einen Finger unter Kinn und zwang sie ihn anzuschauen. Ich blieb still, schluckte brodelnde Gefühle hinunter.

    „Du bist nicht allein.", flüsterte er weiter.

    „Ich bin allein.", sagte ich überzeugt.

    „Du hast uns, das weißt du."

    „Ihr könnt niemals meine Eltern ersetzen, das weißt du genauso gut wie ich. Ich werde für immer allein sein. Versetze dich in meine Lage. Deine Eltern sterben und du bekommst zwei völlig fremde Menschen zu dir geschickt, die dich nicht kennen, die du nicht kennst und du sollst diese Menschen als Eltern sehen und mit ihnen ein neues Leben anfangen. Das geht einfach nicht.", etwas zerbrach in seinem Blick und ich dachte, er zuckte vor Schmerz.

    „Ich sag ja nicht, dass du uns als Eltern sehen musst, ich weiß doch selbst, dass das nicht geht. Aber du musst uns sagen was mit dir los ist, wie es dir geht."

    „Wie soll es mir schon gehen?", sprach ich dazwischen.

    „Kathi. Ich hatte einen Gedanken. Wolltest. Wolltest du dich umbringen? Wenn ja, dann. Ich will dir helfen. Irgendwie. Ich mache mir so schreckliche Sorgen um dich."

    „Mich umbringen?", für eine Sekunde blitzte dieser Gedanke im hintersten Teil meines Kopfes auf und dann fragte ich mich, was ich da eigentlich gemacht hatte. Was hatte ich gefühlt? Nichts. Ich hatte begriffen, dass ich ein Nichts war, ein Niemand und hatte den Spiegel eingeschlagen, so schnell, dass ich es gar nicht mitbekam. Wollte ich mich umbringen? Ich konnte mich nicht daran erinnern diesen Gedanken jemals gehabt zu haben, aber in diesem Moment fühlte es sich so real, so echt an, als hätte ich die Antwort auf meine Fragen gefunden. Den Tod. War es das, wonach ich suchte, war es das, was mich von meinen Schmerzen erlösen würde?

    Du bist doch krank! Hör auf auch nur an so etwas zu denken! schrie eine Stimme in meinem Kopf und ich löste mich halb von diesem Gedanken.

    „Nein. Nein, das wollte ich nicht.", sagte ich und blickte ihm in die Augen. Sie waren rot und aufgequollen.

    „Kathi, ich-"

    „Kannst du mich bitte allein lassen?", er atmete schwer aus, seine Augen glitzerten noch immer noch vor Nässe. Ohne ein weiteres Wort zu sagen stand er auf und verließ das Zimmer.

    Ich hatte noch nie groß über dieses Thema nachgedacht. Natürlich kam so etwas hin und wieder in Gesprächen in der Schule oder mit Papa oder meinen Freunden aus. Auch die Psychologin, bei der ich nach Mamas Tod war, hatte hin und wieder davon gesprochen. Aber ich hatte diesem Gedanken nie einen Funken Aufmerksamkeit geschenkt. Ich wusste, dass ich Papa nicht allein lassen konnte und dass man mit einem Freitod nichts erreichte, außer den Menschen in seinem Umfeld Schmerzen zu zufügen und so etwas wäre nie meine Intention gewesen. Selbstmord ist egoistisch. Nur jemand der ständig und immer nur an sich denkt, kann den Tod herbeisehnen. Schließlich war das Leben ein Geschenk, das einzige und größte. Das Mindeste, was man tun kann, um sich dafür zu revanchieren, ist, es zu leben.

    Jetzt sah ich die Dinge anders. Ich hatte doch bereits gar kein Leben mehr. Ich hatte keine Familie, soviel war klar. Natürlich sah ich das Leben noch immer als ein wertvolles Gut an, aber war es immer noch so wertvoll, wenn dir alles genommen wurde? Nicht nur deine Eltern, sondern auch dein Zuhause, dein Umfeld. War es dann noch immer ein Geschenk, welches man hüten sollte, selbst wenn es bereits leer und kaum noch lebendig war? War es wirklich so selbstsüchtig, wie ich es interpretierte? Wer oder was könnte mich nur aufhalten? Ich dachte an Susan und Richard. Aber die Beiden könnten nicht nach ein paar Wochen eine so enge Liebe zu mir aufgebaut haben - niemals. Dann dachte ich an meine Freundinnen. Sie würden mich vermissen, da war ich mir sicher. Aber würde ich sie überhaupt irgendwann wiedersehen? Wie lange war es her, dass wir miteinander geredet hatten? Ewig. Wahrscheinlich wurde ich schon längst vergessen.

    Wieder schrie die Stimme in meinem Kopf, aber die Worte kamen nicht bei mir an. Was kümmerte mich das.

    Wozu die Mühe?

    „Können sie das bitte wiederholen?", ich schaute den Hauptkommissar Ehrlicher mit offenem Mund an. Der dunkle Raum, in dem ich so viel unnütze Zeit verbracht hatte, kam mir noch kälter und schlimmer vor, als je zuvor.

    „Amerika.", sagte er und stemmte sich von der Wand. Seine Worte hallten in jeder meiner grauen, müden Zellen wider. Weil wir noch immer keine Spur haben, wir nicht wissen wen wir suchen, haben wir uns dazu entschieden, das Zeugenschutzprogramm auszuweiten. Ich weiß es wird jetzt wie ein Schlag erscheinen, aber ich verspreche dir, dass alles gut wird. Du wirst mit Susan und Richard nach Amerika gehen, in Susans Heimat New York.

    „Soll. Soll das ein Witz sein? Wenn ja ist er nicht besonders gut.", Tränen stiegen mir in die Augen. Es musste sich um einen schlecht gemeinten Scherz handeln.

    „Du musst weg von hier, so weit wie möglich. Der Täter darf sie nicht verfolgen können, Katharina."

    „Schicken sie mich doch zum Mars., sagte ich, machte einen Schmollmund um die Tränen zu unterdrücken und ließ mich gegen die Lehne des Stuhls fallen. „Und wie soll ich das meinen Freunden erzählen? Ich kann mich nicht verabschieden. Wir werden uns selten sehen, dass könnte ich nicht aushalten., ich konnte nicht ganz erklären, wie ich ausgerechnet jetzt an sie dachte, aber sie geisterten ganz plötzlich in meinem Kopf. Wahrscheinlich weil ich mich an irgendein Stückchen Heimat klammern wollte und musste, um das Gesagte zu verarbeiten. Die Gedanken an Papa waren zu quälend.

    Ehrlicher schien es die Sprache verschlagen zu haben, zuerst starrte er mich an, dann blickte er schuldbewusst auf den Boden.

    „Was denn nun? Darf ich nicht mal persönlich von ihnen verabschieden? ", wieder sagte er nichts. Mir stockte der Atem und ich spürte, wie jegliches Blut aus meinem Gesicht wich.

    „Ich gehe nicht ohne sie noch einmal gesehen zu haben!", flüsterte ich aufgebracht. Die grausame Wahrheit schlich sich in meinen Kopf.

    „Katharina. Zum Schutz deiner Freunde musst du den Kontakt abbrechen. Der Täter könnte deine Verbindungen herausfinden und womöglich würden sie auch noch in Gefahr geraten, das wollen sie doch sicher nicht, oder?"

    „Was meinen sie mit Kontakt abbrechen?"

    „Du darfst sie nicht mehr sehen, dass wäre zu gefährlich für alle Beteiligten.", flüsterte er nach einer Pause.

    „Wenn sie mir das auch noch nehmen, dann-", meine Stimme versagte.

    „Jeder Kontakt könnte für ihn bedeutend sein!"

    „Nein! Bitte nicht, bitte.", ich flehte den Mann an, ich weinte und betete es sei nur ein böser Traum.

    „Katharina. Sie sind doch nicht allein."

    „Wieso sagen das alle ständig? Selbstverständlich bin ich allein! Ich habe niemanden. Keine Eltern, keine Freunde, keine Verwandten. Und nein! Ich habe auch nicht diese Personen, die mit mir hier wegwollen. Weil ich die Personen nämlich gar nicht kenne! Ich bleibe hier. Dann soll mich dieser Mistkerl eben finden und mich umbringen, mir egal! Ich will eh nicht mehr!" Der Mann mir gegenüber stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab und flüsterte so leise, dass ich es kaum verstand:

    „Geh bitte.", ich konnte nicht einordnen, wie dieser Satz gemeint war. Aber irgendwie, verletzte er mich. Langsam stand ich auf und ging aus dem Raum, um irgendwo hinzugehen, wo ich mein sinnloses Leben ausleben konnte. Richard kam mir hinterhergerannt und Susan war in das Zimmer gegangen, aus dem ich gerade gegangen war.

    „Kathi!, hechelte er und brachte mich mit einem festen Schultergriff zum Stehen. „Was war? Wo willst du hin?

    „Ich sollte gehen, also gehe ich."

    „Was? Wo? Wohin?", fragte er verdutzt und drehte mich herum, sodass wir uns in die Augen schauten.

    „Weg."

    „Wie weg?"

    „Weg eben!"

    „Tja, ich lasse dich aber sicherlich nicht gehen, Kathi. Los, wir trinken einen Kakao."

    Ich rannte so schnell davon, dass Richard sich gar nicht rühren konnte, bevor er verstand, was ich tat. Ich rannte raus aus dem Präsidium und in eine Richtung, die ich seit Wochen nicht gewählt hatte. Ich hetzte und jagte mich selbst durch die halbe Stadt, durch Straßen und Gassen und ich hielt nicht an. Meine Lungen ächzten nach Luft, aber ich trieb mich weiter und hatte nur einen Ort im Sinn. Ich ignorierte die Blicke der Passanten. Einige verwirrt, andere besorgt. Und doch lebten sie alle weiter, obwohl so ein großes Loch in meinem Leben pulsierte. Wie konnte die Welt sich weiterdrehen? Merkten sie nicht die Abwesenheit der wichtigsten Person? Merkten sie nicht, dass einer fehlte? Ich rannte und rannte und irgendwann spürte ich mein pulsierend heißes Blut und meine bebenden Lungen nicht mehr. Trieb meine Beine einfach weiter, wusste, dass sie den Weg kannten. Plötzlich spürte ich Arme um meinen Körper und ich wurde von einer Person auf den Boden gerissen. Ich lag mit dem Bauch auf dem gepflasterten Platz und spürte einen Arm unter meinem. Zuerst schoss Panik durch meinen Körper, aus Angst vor ihm. In dem Augenblick, in dem ich diesen Gedanken beendet hatte, beruhigte ich mich aber vollkommen. Fühlte mich frei, erwartete etwas zu spüren, auch wenn es Schmerzen sein würden. Akzeptierte den Fakt zu sterben, bevor ich ein ausgelassenes Lachen neben mir hörte. Ich drehte den Kopf zu der anderen Person und erkannte einen Jungen meines Alters, der mich ebenfalls anschaute.

    „Oh man. Alles okay bei dir?", fragte er und grinste. Ich konnte kaum glauben wer da vor mir stand, als der Junge mich nach oben zog und mir in die Arme fiel. Er hatte sich nicht verändert, obwohl ich und mein Leben sich so verändert hatten. Er sah immer noch genauso aus, wie ich ihn Erinnerung hatte. Die kurzen, dunkelblonden Haare. Die braunen Augen. Die starken Schultern und Arme, die riesige Statur.

    „Kathi, lang nicht mehr gesehen. Wo hast du dich nur herumgetrieben.", sagte er während er mich noch im Arm hielt, mich dann losließ, mich ordentlich hinstellte und mit seinen riesigen Händen mein Gesicht umfasste.

    „Ben., flüsterte ich und fiel ihm erneut um den Hals, schob die dunklen Gedanken beiseite und spürte, wie mein Herz das Blut ein bisschen leichter durch den Körper pumpte. „Ich kann es nicht fassen, du bist es wirklich! Ist Ronja auch hier? Wo ist Maria? Wo sind die Anderen?, ich wollte die Arme gar nicht von dem Zwillingsbruder meiner besten Freundin Ronja nehmen. Vom Freund meiner besten Freundin Maria. Von meinem besten Freund. Der hier war. Vor mir. Ich war zu verwirrt um alles zu begreifen.

    „Nein, ich bin mit meinen Eltern in der Stadt. Ronja ist bei Maria.", Ich versteckte das Gesicht an Bens Schulter – Schade war gar kein Ausdruck.

    „Nun mal langsam Kathi, was ist denn los?", sagte er und drückte mich von sich.

    Er sah meine flatternden Augenlider, die Tränen. Vielleicht erkannte er mich auch gar nicht wieder. Ich hatte noch immer dunkle Schatten, die aus dem abgemagerten Gesicht hervorstachen. Die klapprige Figur. Ich versuchte mich weiter auf Ben zu konzentrieren.

    „Sie ist ganz schön durcheinander, weißt du? Die Polizei war bei ihr, genau wie bei uns, Lily und Kai. Sie haben uns befragt zu dir. Dein Vater, das tut mir alles so leid.", ich zuckte merklich zusammen und Ben festigte den Griff um meine Schultern.

    „Die Drei sind ganz schön abgerutscht in der Schule und in allem. Ich mache mir schreckliche Sorgen um Ronja. Sie ist nicht mehr die Alte. Maria hält es kaum aus ohne dich. Ich versuch alles für sie zu machen, aber ich bin nun mal nicht du, Kathi. Wann kommst du zurück? Ich kann sie auch anrufen, sie würden sich sicher freuen dich zu sehen, nicht wahr?", erzählte er. Er hatte schon sein Handy in der Hand, als das dunkle Gesicht, das schlimmste und grässlichste von allen vor meinen Augen aufblitzte und mich zur Besinnung rief. Ich dachte an meine besten Freunde und die Umgebung fing an zu rauschen. Wenn dieser widerwärtige Mann je in ihre Nähe kam, wegen mir.

    „Nein., flüsterte ich und schaute ihn endlich an. Das war falsch. „Das geht nicht.

    „Was meinst du?", er lachte aus Verwirrung. Lachte das Lachen, dass ich vor ein paar Monaten noch wie selbstverständlich hingenommen hatte. Als ich noch dachte, ich würde es am nächsten Tag wiedersehen.

    „Vergiss mich, vergesst mich alle, bitte. Ich ziehe weg, also vergesst mich. Vergiss, dass du mich gesehen hast und erzähle niemandem davon. Nicht deinen Eltern, nicht deinen Kumpels oder Kai, nicht Ronja oder Lily, nicht Maria, verstanden?", bei ihren Namen klafften meine Wunden wieder auf. Ronja, so reif und doch so kindlich, mit ihren fast schwarzen Dackelaugen, die Ben so ähnlich sah und doch wieder nicht. Die wir ohne Ben niemals kennen gelernt hätten. Lily und Kai, die beide so gleich waren und mich und sich selbst blind verstanden. Und Maria. Oh Maria. Die perfekte Ergänzung zu meinem Herzen. Ich konnte nicht an sie denken, zu schmerzvoll klagte die Erinnerung an sie.

    „Wieso, Kathi. Was ist los?"

    „Ich kann nicht Ben. Versprich mir, dass ihr mich vergesst.", ohne eine Antwort abzuwarten, drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange und lief davon. Ich wusste, dass sich die Tränen einen Weg in meine Augen bahnten und das schmerzerfüllte Gurgeln schon in meiner Kehle lauerte. Aber ich durfte jetzt nicht zusammenbrechen. Ich musste weiterlaufen. Wenn ich stehen blieb, würde ich keine Kraft haben und auf der Stelle umdrehen und zurück zu Ben rennen. Also drängelte ich mich, so schnell es ging, weiter durch die Menschenmengen auf dem überfüllten Marktplatz, fegte durch Straßen, bis ich endlich vor dem großen weißen Haus meiner jetzt verlorenen Kindheit stand, meinem Zuhause. Mein Verstand sagte mir, dass ich nicht hineingehen sollte, weil es mich in Stücke zerreißen würde. Aber mein Herz wollte es. Ich wollte hineingehen, ich musste sehen ob mir der Anblick meines Hauses wieder Leben einhauchte. Vielleicht lag alles noch so unberührt und still, wie ich es verlassen hatte.

    Musste, korrigierte ich mich.

    Mit rauem Atem drückte ich die schwarze, quietschende Gartentür auf und hoffte auf ein kleines Stückchen Unbeschwertheit. Doch schon der Garten machte mich traurig. Jeden Tag stand mein Vater im Garten

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