Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Grausames Erbe: Thriller
Grausames Erbe: Thriller
Grausames Erbe: Thriller
eBook398 Seiten5 Stunden

Grausames Erbe: Thriller

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Seit 18 Jahren lebt Petty wie eine Gefangene in ihrem Zuhause. Ihre Tage werden durch eintönige Arbeit auf dem einsamen Schrottplatz und knallhartes Überlebenstraining bestimmt - alles nur zu ihrem Wohl, wie ihr Vater betont. Als er plötzlich stirbt, scheint sie endlich frei. Doch sein eiserner Griff besteht auch über den Tod hinaus. Getrieben von einem unglaublichen Verdacht macht sich Petty auf die Suche nach ihrer Vergangenheit und befindet sich mit einem Mal auf der Flucht vor der Polizei. Wie gut, dass ihr Vater sie auch für solche Situationen ausgebildet hat …

In Amerika war der Titel - völlig zu Recht - als bestes Thriller-Erstlingswerk nominiert. Endlich ein Pageturner, auch ideal als Filmvorlage geeignet. Erfreulicherweise hat die Autorin bereits zwei weitere (unabhängige) Titel veröffentlicht, die noch übersetzt werden müssen." Münsterländischen Volkszeitung

"Lange hatte ich kein Buch mehr in der Hand, von dem ich so gefesselt war, dessen Figuren mich so bewegt haben." Jessica D. bei Netgalley

SpracheDeutsch
HerausgeberHarperCollins
Erscheinungsdatum6. Feb. 2017
ISBN9783959676137
Grausames Erbe: Thriller
Autor

LS Hawker

LS Hawker wuchs in einem Vorort von Denver auf, wo sie eine Besorgnis erregende Faszination für True-Crime-Bücher entwickelte. An der University of Kansas hat sie erfolgreich Journalismus studiert. Sie hat einen urkomischen, verständnisvollen Ehemann, zwei großartige Töchter und eine riesige Musiksammlung. Sie lebt in Colorado, fühlt sich aber spirituell in Kansas zuhause.

Ähnliche Autoren

Ähnlich wie Grausames Erbe

Ähnliche E-Books

Coming of Age-Literatur für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Grausames Erbe

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Grausames Erbe - LS Hawker

    1. KAPITEL

    Mittwoch

    Angestachelt vom Sirenengeheul und dem Geruch fremder Menschen, tobten Sarx und Tesla zornig bellend auf und ab, um die Polizisten hinter dem Zaun von unserem Grundstück fernzuhalten. Die Männer kauerten am Boden und beobachteten das Haus. Auf der anderen Seite des unbefestigten Wegs standen zwei Streifenwagen, ein Löschfahrzeug und ein Rettungswagen.

    Dads iPhone klingelte ohne Unterlass. Ich konnte mich nicht überwinden ranzugehen. Ich wusste, dass die Polizisten wollten, dass ich ihnen die Tür aufmachte. Aber von mir zu verlangen, eine Horde fremder Leute ins Haus zu lassen, war, als würde man einem Biber befehlen, ein Flugzeug zu steuern. Es hatte nicht zu meiner Ausbildung gehört, wie man sich in so einer Situation verhält. Am liebsten hätte ich mir die AK-47 aus dem Waffenschrank im Keller geholt, selbst wenn das hieß, es mit einem halben Dutzend ausgebildeter Gesetzeshüter aufzunehmen.

    „Petty Moshen!" Ein Megaphon verstärkte die Stimme des Mannes gebenüber vom Haus.

    Bei dem Geräusch heulten die Hunde auf, was das Zittern, das meinen Körper erfasst hatte, noch verschlimmerte. So sehr hatte ich nicht mehr gezittert seit dem Abend, an dem Dad mich in einem heftigen Schneesturm mutterseelenallein in der Prärie zurückgelassen hatte, um dadurch meinen Orientierungssinn zu schärfen.

    „Petty, ruf die Hunde zurück."

    Ich brachte es nicht fertig.

    „Ich rufe jetzt noch mal auf dem Telefon deines Vaters an und möchte, dass du dich meldest."

    Ich schloss die Augen und stellte mir vor, die Worte wären aus Dads Mund gekommen, mit seiner Stimme. Als im nächsten Moment das iPhone vibrierte, tat ich so, als riefe er mich an. Ich griff danach, wischte über „Annehmen" und hielt mir das Telefon ans Ohr.

    „Hier ist Sheriff Bloch, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. „Wir möchten mit dir über deinen Vater reden.

    Ich räusperte mich. „Erst muss ich noch etwas erledigen, sagte ich und drückte auf „Beenden.

    Ich eilte in den Keller und stieg aufs Laufband, stellte es auf zehn Meilen pro Stunde und rannte mir fünf Minuten lang die Seele aus dem Leib. So machte es Detective Deirdre Walsh immer, meine Lieblingsfigur aus Offender NYC, wenn sie von ihren Gefühlen überwältigt wurde. Niemand außer meinem Vater und mir hatte jemals unser Haus betreten, deshalb musste ich mich innerlich dafür wappnen.

    Ich sprang vom Laufband und nahm schwitzend und keuchend zwei Treppenstufen auf einmal. Meine Beinmuskeln brannten, aber nun war ich ruhiger. Ich steckte mir ein Pfefferminz-Kaugummi in den Mund, dann ging ich geradewegs zur Haustür, so wie es Detective Walsh getan hätte – furchtlos, pflichtbewusst, entschlossen. Ich riss die Tür auf und rief: „Sarx! Tesla! Aus! Hierher!"

    Sofort blickten die Hunde sich um und trotteten auf mich zu. Ich sah, dass jetzt noch ein weiteres Fahrzeug vor dem Haus stand, ein nagelneuer roter Dodge Ram Pick-up mit Allradantrieb. Am Wagen lehnte Randy King; er trug einen lederfarbenen Stetson, ein Karohemd, Lee-Jeans und Cowboystiefel. Von seinem Gesicht sah ich nur den schwarzen Walrossbart. Mein Vater hatte mir aufgetragen, mich an ihn zu wenden, falls meinem Dad jemals etwas zustoßen sollte. Ich hatte Randy bis heute nur zweimal gesehen, aber noch nie mit ihm geredet.

    Die Hunde saßen hechelnd vor mir und winselten. Ich kraulte ihnen die Ohren, froh, dass Dad sie so gut abgerichtet hatte. Ich richtete mich auf und führte sie zur Garage an der linken Hausseite. Sie setzten sich wieder hin, während ich das Tor hochstemmte, dann schickte ich sie mit einer Handbewegung hinein. Sie mochten das ganz und gar nicht und jaulten nervös, gehorchten mir aber. Ich ließ das Garagentor wieder herunter und wandte mich den Invasoren zu.

    Als hätte ich ein unsichtbares Kraftfeld abgeschaltet, setzten sich die Männer unisono in Bewegung: der Notarzt und die Rettungssanitäter mit ihren Ausrüstungskoffern, dazu die Polizisten, deren Hände über den Pistolengriffen schwebten. Ich konnte keinem von ihnen in die Augen sehen, aber ich spürte, wie sie mich anstarrten, als wäre ich ein exotisches Tier im Zoo oder ein Serienkiller.

    Der Mann, der offenbar der Sheriff war, kam direkt auf mich zu. Ich wich zurück und legte instinktiv die Hand an die Seite – dahin, wo das Messer saß, das stets an meinem BH befestigt war. Ich wusste, dass es nicht klug war, in meine Kapuzenjacke zu greifen und auch nur in die Nähe des Schulterhalfters zu kommen, in dem meine Baby Glock steckte.

    „Petty?", sagte er.

    „Ja, Sir?" Ich hielt den Blick auf ein Büschel gelblich giftigen Prärie-Kreuzkrauts gesenkt.

    „Ich bin Sheriff Bloch. Lässt du uns bitte ins Haus?"

    „Ja, Sir." Ich drehte mich um und erklomm die Stufen. Ich stieß die Fliegengittertür auf und trat beiseite, um die Phalanx fremder Männer ins Haus zu lassen. Mein Atem wurde flach, das Zittern fing wieder an. Mein Herz schlug so heftig, dass meine Schläfen pulsierten, und der Knubbel an meiner linken Schulter – Narbengewebe von einer Kindheitsverletzung – juckte wie verrückt. Das passierte immer, wenn ich nervös war.

    Nach dem Sheriff kamen der Notarzt und die Sanitäter herein.

    „Wo liegt er?", fragte einer von ihnen. Ich zeigte nach rechts die Treppe hinauf. Mit ihren Koffern marschierten die Männer nach oben. Das Haus kam mir zu eng vor, so, als gäbe es nicht genug Sauerstoff für mich und all diese Leute.

    Sheriff Bloch und ein Deputy betraten das Wohnzimmer. Beide sahen sich um, ließen den Blick durch den Raum schweifen, der bis auf die antike Standuhr in der Ecke leer war. Das alte Ding hatte schon vor Urzeiten den Geist aufgegeben, sodass es hier immer Viertel nach drei war.

    „Wolltet ihr renovieren?", fragte der Deputy.

    „Nein", sagte ich, und dann wurde mir klar, warum er es fragte. All unsere Möbel waren in der Mitte der Zimmer zusammengerückt, von den Fenstern weg.

    Der Sheriff und sein Stellvertreter wechselten vielsagende Blicke. Der Deputy ging zu einem der vorderen Fenster und spähte zwischen den Gitterstäben hinaus.

    „Ist das Panzerglas?", fragte er mich.

    „Ja, Sir."

    Sie wechselten erneut einen Blick.

    „Können wir uns irgendwo hinsetzen?", fragte Sheriff Bloch.

    Ich ging ins Fernsehzimmer, eigentlich das Esszimmer des Hauses, und sie folgten mir. Als ich mich auf die Couch setzte, stieg eine Staubwolke auf und die Sprungfedern gaben einen quietschenden Moll-Akkord von sich. Ich zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie.

    „Das ist Deputy Hencke."

    Der Deputy hielt mir die Hand entgegen. Als ich sie nicht ergriff, ließ er sie wieder sinken.

    „Mein herzliches Beileid", sagte er. Er hatte einen blonden Bürstenschnitt und trug die dunkelblaue Polizeiuniform.

    Er ging auf Dads verstellbaren Sessel zu, und es kam mir vor, als würde sich ein Messer unaufhaltsam in meine Eingeweide bohren.

    „Nein!", schrie ich ihn an.

    Niemand außer meinem Vater hatte je in diesem Sessel gesessen. Es war eine Sache, diese Leute ins Haus zu lassen, aber eine ganz andere, zuzusehen, wie sie hier taten, was sie wollten.

    Er betrachtete mich verwirrt. „Was ist denn? Ich wollte mich doch nur …"

    „Holen Sie sich einen Stuhl aus der Küche", sagte Sheriff Bloch.

    Der Deputy zog einen der aquamarinblauen Plastikstühle ins Fernsehzimmer. Ihm zitterten die Hände, als er versuchte, sich etwas zu notieren. Mein Aufschrei musste ihm genauso in die Glieder gefahren sein wie mir selbst.

    „Buchstabierst du mir bitte euren Nachnamen?"

    „M-O-S-H-E-N", sagte ich.

    „Hier geboren?"

    „Nein, sagte ich. „Wir sind ursprünglich aus Detroit.

    Der Deputy blickte stirnrunzelnd auf.

    „Was hat euch denn hierher verschlagen? Habt ihr Angehörige in der Gegend?"

    Ich schüttelte den Kopf. Ich sagte ihm nicht, dass Dad mit mir nach Saw Pole, Kansas, gezogen war, weil er schon immer davon geträumt hatte, Farmer zu sein. Dann hatte er hier ein Fleckchen Land bewirtschaftet und sich vor allem mit Blattläusen herumgeplagt, mehr war nicht geworden aus seinem Traum.

    „Wie alt bist du?"

    „Einundzwanzig."

    Er ließ den Bleistift sinken. „Bist du in Niobe zur Schule gegangen? Ich kann mich nicht erinnern, dich jemals gesehen zu haben."

    „Dad hat mich zu Hause unterrichtet", sagte ich.

    „Wann hast du den Verstor… äh, deinen Vater gefunden?"

    Die Kopfhaut des Deputy wurde noch eine Spur rosiger. Er hätte das Haar etwas länger tragen müssen, um seine Geheimratsecken besser zu kaschieren.

    „Gegen zwei Uhr fingen die Hunde an zu bellen …"

    „Zwei Uhr früh oder nachmittags?"

    „Am Nachmittag. Ungefähr um Viertel nach zwei haben sie draußen vor der Hintertür gebellt. Ich habe nachgesehen, aber fand keinen Hinweis auf einen Einbruchsversuch. Ich holte meine Winchester aus dem Waffenschrank im Keller, um die gesicherten Außengrenzen des Grundstücks abzuschreiten, aber die Hunde wollten nicht mitgehen. Deshalb gelangte ich zu dem Schluss, dass etwas im Haus selbst passiert sein musste, und setzte meine Untersuchung im ersten Stock fort."

    Deputy Henckes Stift war in der Luft stehengeblieben, er runzelte die Stirn. „Warum redest du denn so?"

    „Wie so?"

    „Normalerweise stelle ich die Fragen und die Leute antworten."

    „Ich erzähle Ihnen doch nur, was passiert ist."

    „Geht das auch weniger gestelzt?"

    Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, also sagte ich nichts.

    „Schau, sagte er, „beantworte einfach meine Fragen, okay?

    „Okay."

    „In Ordnung. Wo war dein Vater?"

    „Nach dem Frühstück heute Morgen meinte er, dass er sich nicht wohlfühle, und ging in sein Schlafzimmer, um sich hinzulegen", sagte ich.

    Ich hatte den ganzen Tag darauf gewartet, dass Dad nach etwas zu essen rufen würde, aber das tat er nicht. Also hatte ich auch nicht nach ihm gesehen, denn es war angenehm, einmal nicht für ihn kochen oder ihm Bier raufbringen zu müssen. Ich hatte mir den ganzen Tag lang den Hals verdreht, um die Treppe im Auge zu behalten, weil ich damit rechnete, dass er sich anschleichen und mich dabei erwischen würde, wie ich mir verbotene Fernsehsendungen anschaute. Ich stellte den Ton leise, damit ich ihn hören würde, wenn er die knarrenden alten Stufen hinabgestiegen käme.

    „Dann war es also das Bellen der Hunde, das dich schließlich nach oben gehen ließ?"

    Ich nickte.

    „Sie wollten uns glatt in Stücke reißen", sagte der Deputy und fuhr sich mit der Hand über seine Stoppelhaare.

    Ich hatte mir immer einen kleinen knuddligen Schoßhund gewünscht, aber Dad zog die größeren Rassen vor. Sarx war ein Deutscher Schäferhund, Tesla ein Rottweiler.

    Der Deputy beugte sich über seinen Notizblock. „Was glaubst du, warum haben sie gebellt?"

    „Sie haben es gerochen", sagte ich.

    „Was gerochen?"

    „Den Tod. Als Nächstes klopfte ich an die Schlafzimmertür meines Dads und bat um Einlass."

    „Du bist also in sein Zimmer gegangen", sagte der Deputy. Sein Bleistift schwebte über dem Papier.

    „Als nach dem Anklopfen keine Antwort kam, ging ich rein, ja. Er lag auf dem Bauch, auf der Bettdecke, die Beine in meine Richtung ausgestreckt und – er trug Shorts … Sie wissen ja, wie heiß es war; er hat die Klimaanlage nie vor dem Memorial Day eingeschaltet. Ich sah also seine Beine und dachte: Er hat irgendeinen Ausschlag. Ich hole am besten die Zinksalbe. Aber dann fiel mir ein, was ich im Fernsehen über Libidität gehört habe, und …"

    „Lividität", sagte er.

    „Was?"

    „Es heißt Lividität, mit ‚V‘, wenn das Blut sich im tiefsten Teil des Körpers sammelt. Nicht Libidität."

    „Ich habe das Wort nie geschrieben gesehen."

    „Und was hast du als Nächstes gemacht?"

    „Dann wurde mir klar, dass …"

    Ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Bis jetzt hatten der Schock wegen des Leichenfunds und der Albtraum, fremde Leute im Haus zu haben, alles andere überdeckt. Nun aber brach die Erkenntnis, dass Dad wirklich tot war, mit aller Macht über mich herein, und mir brannten die Augen. Ich erkannte ein Gefühl aus längst vergangenen Zeiten. Ich wollte weinen, und ich wusste nicht, ob es an meiner Trauer lag oder an meiner Freude darüber, endlich frei zu sein. Frei für das normale Leben, von dem ich immer geträumt hatte.

    Aber ich durfte nicht weinen. Ich wollte vor diesen Fremden keine Schwäche zeigen. Schwäche war gefährlich. Ich dachte wieder an Deirdre Walsh und rief mir ins Gedächtnis, was sie immer tat, wenn sie den Tränen nahe war. Ich räusperte mich und atmete tief durch.

    „Dann wurde mir klar, dass er gestorben war. Anhand des Stadiums der Leichenstarre schätzte ich den Todeszeitpunkt auf ungefähr zehn Uhr morgens, deshalb versuchte ich gar nicht erst, ihn zu reanimieren, sagte ich und dachte an Dads kalte, wächserne Haut unter meiner Hand. „Ich nahm sein iPhone vom Nachttisch und rief Mr. King an.

    „Randy King?"

    Ich nickte.

    „Warum hast du nicht die Polizei angerufen?"

    „Weil Dad mir gesagt hatte, ich solle Mr. King anrufen, falls ihm jemals etwas zustoßen sollte."

    Der Deputy musterte mich, als hätte ich ein Mordgeständnis abgelegt. Dann sah er weg und stand auf.

    „Ich glaube, der Gerichtsmediziner ist fertig, aber er möchte bestimmt noch mit dir reden."

    Während ich wartete, kauerte ich mich auf der Couch zusammen und dachte darüber nach, wie sich mein Leben jetzt verändern würde. Ab sofort würde ich selbst einkaufen gehen müssen und Rechnungen und Steuern bezahlen, und all das andere, was mein Vater mir nie beigebracht hatte, musste ich fortan auch selbst erledigen.

    Der Gerichtsmediziner erschien in der Tür. „Miss Moshen?" Er war ein großer rundlicher Mann und trug eine Strickjacke.

    „Ja?"

    Er setzte sich auf den Küchenstuhl, den der Deputy gerade geräumt hatte.

    „Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen", sagte er.

    „Okay", sagte ich. Ich war vorsichtig. Der Deputy war klein und schmächtig, und obwohl er eine Waffe trug, hätte ich ihn mühelos überwältigen können. Bei dem Gerichtsmediziner war ich mir da nicht so sicher, er war ziemlich massig, brachte so einiges auf die Waage.

    „Können Sie mir schildern, was passiert ist?"

    Ich wiederholte meinen Bericht, aber er unterbrach mich. „Sie machen hier keine Aussage vor Gericht, sagte er. „Erzählen Sie mir einfach, was passiert ist.

    Ich versuchte zu tun, was er verlangte, war mir aber nicht sicher, wie ich mich ausdrücken sollte, ohne ihn zu verärgern.

    „Hat sich Ihr Vater über Schmerzen im Brustkorb beklagt oder im Unterkiefer? Tat ihm der linke Arm weh?"

    Ich schüttelte den Kopf. „Er sagte bloß, dass er sich nicht wohlfühle. So als hätte er Grippe."

    „Hatte Ihr Vater erhöhte Cholesterinwerte? Hohen Blutdruck?"

    „Weiß ich nicht."

    „Wann war er das letzte Mal beim Arzt?", fragte der Coroner.

    „Er hielt nichts von Ärzten."

    „Ihr Vater war erst einundfünfzig, also muss ich eine Autopsie anordnen, auch wenn es wahrscheinlich ein Herzinfarkt war. Wir werden eine toxikologische Untersuchung durchführen, das dauert ungefähr vier Wochen, weil wir die Proben nach Topeka ins Labor schicken müssen."

    Mir wich das Blut aus dem Gesicht. „Toxikologisch?, fragte ich. „Warum denn?

    „Das ist reine Routine."

    „Ich bin sicher, mein Dad würde das nicht wollen."

    „Machen Sie sich keine Gedanken, sagte er. „Sie können ihn beerdigen, bevor das Ergebnis zurückkommt.

    „Nein, ich meine, er würde nicht wollen, dass man ihn aufschneidet."

    „Das ist gesetzlich vorgeschrieben."

    „Bitte …", sagte ich.

    Seine Augen wurden schmal, als er mich kurz fixierte. Dann stand er auf.

    „Wo sollen wir die sterblichen Überreste hinschicken?"

    „Zum Bestatter Holt in Niobe", ertönte eine Stimme aus dem Wohnzimmer.

    Ich erhob mich von der Couch, um nachzusehen, zu wem sie gehörte. Randy King lehnte mit dem Rücken an der Wand, den Stetson tief ins Gesicht gezogen.

    Der Gerichtsmediziner sah mich fragend an.

    „Ich bin der Testamentsvollstrecker von Mr. Moshen", sagte Randy. Er hob den Kopf, und ich sah seine Augen, hellblau mit winzigen Pupillen, die sich geradewegs durch meinen Schädel zu bohren schienen.

    Ich zuckte die Achseln.

    „Möchten Sie sich noch von Ihrem Vater verabschieden, bevor wir ihn ins Leichenschauhaus bringen?", fragte der Gerichtsmediziner.

    Ich nickte und folgte ihm zur Treppe, wo er beiseitetrat. „Nach Ihnen", sagte er höflich.

    „Nein, sagte ich. „Sie zuerst.

    Dad hatte mir beigebracht, nie als Erste durch eine Tür zu gehen und nie jemanden hinter mir hergehen zu lassen. Der Gerichtsmediziner runzelte die Stirn, stieg aber die Treppe hinauf.

    Dads Zimmer war das erste auf der linken Seite. Der Gerichtsmediziner blieb vor der Tür stehen. Als er meinen Arm berühren wollte, zuckte ich zurück. Er zog seine Hand zurück.

    „Miss Moshen, sagte er mit sanfter Stimme, „Ihr Vater sieht jetzt anders aus als früher. Das könnte für Sie ein Schock sein. Niemand macht Ihnen einen Vorwurf, wenn Sie nicht …

    Ich betrat Dads Zimmer, gewappnet mit allem, was ich aus den vielen Fernsehkrimis wusste, die ich mir in all den Jahren angesehen hatte. Aber auf den Anblick, der sich mir nun bot, war ich nicht vorbereitet.

    Er war auf dem Bauch liegend gestorben, deshalb hatte das Notarztteam ihn auf den Rücken gedreht. Die Leichenstarre war inzwischen so weit fortgeschritten, dass die Oberlippe sich ins Zahnfleisch gedrückt hatte und zu einem höhnischen Grinsen verzerrt war, das seine bräunlichen Zähne offenbarte. Seine Hände lagen neben dem Kopf, mit den Handflächen nach oben. Die Augen starrten nach oben, das Gesicht war purpurn verfärbt.

    Das Ganze sah aus, als würde Dad einen Dämon abwehren. Ich hätte besser gewartet, bis der Bestatter mit ihm fertig war, denn ich wusste, dass ich dieses Bild nie mehr aus dem Kopf bekommen würde.

    Mit weichen Knien verließ ich das Zimmer, fest entschlossen, vor diesen fremden Leuten nicht in Tränen auszubrechen. Der Deputy und der Sheriff standen vor meinem Zimmer und betrachteten die Tür. Sie wirkten verwirrt.

    „Petty", sagte Sheriff Bloch.

    Ich blieb stehen. Es war mir unangenehm, dass sie so nahe bei meinen persönlichen Sachen waren.

    „Ja?"

    „Ist das dein Zimmer?"

    Ich nickte.

    Die Männer sahen sich vielsagend an. Der Gerichtsmediziner blieb an der Treppe stehen, um zuzuhören. Genau davon hatte mein Vater immer geredet – von irgendwelchen Wichtigtuern, die sich einbildeten, über das Leben von Menschen urteilen zu können, die sie gar nicht kannten, über die sie nicht das Geringste wussten.

    Die drei schienen darauf zu warten, dass ich etwas sagte, aber ich war des Redens müde. Da ich nie viel geredet hatte, wusste ich gar nicht, wie anstrengend es war.

    Der Deputy fragte: „Warum sind da sechs Riegel an der Tür?"

    Es ging ihn zwar nichts an, aber es gab auch nichts, wofür ich mich hätte schämen müssen.

    „Damit Dad mich einschließen konnte."

    2. KAPITEL

    Wieder sahen die Männer sich vielsagend an.

    „Zur … Strafe?", fragte der Sheriff.

    Ich seufzte. „Zu meinem Schutz."

    „Wann hat dein Vater dich denn in deinem Zimmer eingesperrt?"

    „Jede Nacht, seit ich drei war", sagte ich und ging nach unten.

    Während die Leute in Dads Zimmer ihr Zeug zusammenpackten, starrte ich vor einem der nach Westen gehenden Wohnzimmerfenster durch die Gitterstäbe und beobachtete, wie sich die Dämmerung auf die grünende Landschaft von Kansas herabsenkte. An einem klaren Frühlingstag wie diesem schien der Horizont mindestens dreißig Meilen entfernt zu sein und dazwischen gab es nichts als wolkenlosen Himmel und wellige Prärie, Büschel von Rispenhirse, Knöterich, gelben Hundszahn und blaue Flammenblumen, schwarzbraune Mastrinder und unsere fünf ausladenden Eichen, die erste Blätter trieben.

    Ich hatte frühzeitig gelernt, mich nicht von der Schönheit blenden zu lassen, die mich hier umgab. Dad hatte mir immer gesagt, dass sich unter der schönen Oberfläche der Dinge immer etwas Hässliches verbarg. Zum Beispiel, dass der Weihnachtsstern, der wie verrückt am Straßenrand wuchs, giftig ist. Und die Eichen. Im Sommer waren sie mit Hunderten von sattgrünen Blättern verkleidet, die friedvoll im Wind rauschten. Im Herbst wurden sie unnatürlich orange mit leuchtend rotem Rand. Aber wenn die beißenden Winterwinde die Blätter herunterwehten, sah man dann, woraus diese Bäume wirklich bestanden: aus düsterer, granitharter Rinde, wütend und rachsüchtig, weil sie das raue Klima in Kansas ertragen mussten, das extreme Hin und Her von Hitze, Kälte und Feuchtigkeit, den unablässigen Wind, den Frost und die Gewitter.

    Hier draußen im Nordwesten von Niobe County gab es kaum etwas, das es wagte, der harschen Herrschaft des Wetters zu trotzen – keine Bäume außer den fünf tapferen Eichen, keine weiteren Gebäude. Der nächste Ort – der, von dem unsere Werbepost kam – hieß Saw Pole und war fünfzehn Meilen entfernt. Das Wetter hatte den Anstrich von unserem Haus abgefressen, dem einzigen im Umkreis von dreizehn Meilen, die Seitenwandung hatte den blassgrauen Farbton von Vogelkacke. Erinnerungsfetzen aus der Zeit, als ich drei war, sagten mir, dass das Haus buttergelb gewesen war, als wir aus Detroit hergezogen waren. Jetzt sah man nur Reste davon, Überreste vom Leben eines Mannes, der Blumen gepflanzt, den Rasen gewässert und Getreide angebaut hatte.

    Ich schaute so lange hinaus, bis die Leute aus dem Haus zu verschwinden begannen – als Erstes rückte das Notarztteam ab, dann die Polizisten und zum Schluss der Gerichtsmediziner und sein Trupp, der Dads Leichnam in einem schwarzen Sack auf einer Rollbahre hinausschob. Randy King blieb als Einziger da; er lehnte immer noch an der Wohnzimmerwand. Irgendetwas an ihm, an seiner Pose, erinnerte mich an Curley aus Von Mäusen und Menschen.

    „Wenn du raufgehen und deinem Daddy einen Anzug für die Beerdigung raussuchen willst, kann ich ihn mitnehmen und zum Bestatter bringen", sagte er unter seiner Hutkrempe hervor. Ich war froh, dass ich nicht in seine Stecknadelpupillen zu blicken brauchte.

    Ich ging die Treppe hinauf und blieb vor Dads Zimmer stehen. Es war, als hielte eine unsichtbare Kraft mich davon ab, hineinzugehen. Aber ich wollte keine Zeit verlieren, nicht lange zaudern. Je eher ich den Anzug rausgesucht hatte, desto schneller würde ich Randy King loswerden und hätte das Haus endlich für mich allein. Und konnte zum ersten Mal in meinem Leben tun, was ich wollte.

    Ich hatte Dads begehbaren Kleiderschrank nie betreten. Ich zog an der Lampenschnur, aber nichts tat sich. Das Licht funktionierte wahrscheinlich schon seit Jahren nicht mehr. Im Zimmer lag eine große Taschenlampe. Ich schaltete sie ein und ging wieder zum Kleiderschrank. Der Lichtstrahl fiel auf etliche ausgeblichene Jeans, jede Menge Tarnkleidung und ein paar Oberhemden.

    Die Sachen hatten dem einzigen Menschen gehört, den ich wirklich kannte, und auf einmal hatte ich entsetzliche Angst. In meiner Brust ballte sich ein Schrei zusammen. Ich ließ die Taschenlampe fallen und schlug mir die Hände vor den Mund, um den Schrei zurückzuhalten, und stolperte in den Kleiderschrank, sank zu Boden und vergoss stumme Tränen. Grenzenloser Kummer drohte mich zu ersticken. Auf Knien hockend, drückte ich mir eins von Dads Kleidungsstücken ans Gesicht und atmete tief ein; der Geruch ließ meinen Vater für einige Augenblicke wieder lebendig werden. Aber er war tot und ich war allein.

    Dann hörte ich Schritte auf der Treppe. Am hohlen Klang erkannte ich, dass jemand aus dem Keller hochgestiegen kam. Es waren vorsichtige, zögerliche Schritte, so als würde der Betreffende versuchen, möglichst leise zu sein. Ich blieb wie angewurzelt stehen und lauschte. Die Schritte waren jetzt im Erdgeschoss, hielten auf die Haustür zu. Ich schlich zum Treppenabsatz und sah Randy King mit einem großen Pappkarton, auf dem, mit schwarzem Filzstift geschrieben, die Buchstaben M R standen. Obendrauf lag Dads Laptop mit der L-förmigen Delle.

    Aber was war in dem Karton? Und wo wollte Randy damit hin?

    Ich eilte in Dads Zimmer und beobachtete durch das Fenster, wie Randy den Karton samt Computer zu seinem Wagen trug. Er stellte beides auf den Beifahrersitz und kehrte zum Haus zurück.

    Als er drin war, rief er: „Petty? Alles in Ordnung da oben?"

    Wieder hörte ich Schritte – diesmal bestimmt und selbstbewusst. Randy stieg die Treppe hinauf. Ich lief rasch zum Kleiderschrank und holte Dads dreiteiligen Anzug heraus. Auf keinen Fall wollte ich mit diesem Kerl, der ohne meine Erlaubnis Sachen aus dem Haus trug und sich offenbar einbildete, hierherzugehören, im Schlafzimmer in der Falle sitzen. Er hatte hier nichts verloren. Ich kannte ihn überhaupt nicht, aber ich empfand seine Gegenwart wie eine Krankheit, seine Anwesenheit schien viel zu viel Raum einzunehmen. Ich stürzte aus dem Zimmer, als er es gerade betreten wollte, und stieß ihm die Kleidung vor die Brust. Er nahm sie wortlos entgegen und ging wieder nach unten.

    „Du brauchst dir keine Gedanken über die Beerdigung zu machen, sagte er. „Dein Dad hat Anweisungen bei mir hinterlegt.

    Über die Beerdigung nachzudenken, war mir noch gar nicht in den Sinn gekommen, aber ich nickte seinem davoneilenden Hinterkopf zu. Am Fuß der Treppe drehte er sich noch einmal um und schob seinen Hut in den Nacken. „Kommst du zurecht? Soll ich heute Nacht bei dir bleiben?"

    Ich war so schockiert von der Frage, dass ich gar nicht reagieren konnte. Ich starrte nur Löcher in die Luft.

    Er schüttelte den Kopf und lächelte ein bisschen. „Mach, was du willst, sagte er und marschierte zur Tür hinaus. Durch das Fliegengitter murmelte er noch: „Herzliches Beileid.

    Als ich hörte, wie der Wagen ansprang, ging ich ins Wohnzimmer und sah aus dem Fenster zu, wie er wegfuhr.

    Und dann fiel es mir ein.

    Es gab niemanden, der mich am Abend einschließen würde. Warum hatte ich nicht daran gedacht, einen der Männer darum zu bitten? Wahrscheinlich hätten sie es abgelehnt. Aber wie sollte ich jetzt einschlafen?

    Dad hatte Anweisungen bei Randy King hinterlegt. Warum hatte er keine für mich dagelassen? Ich war doch diejenige, die welche gebraucht hätte.

    Aus der Garage gab einer der Hunde ein lautes Jaulen von sich. Ich hatte die beiden völlig vergessen, und sie mussten vermutlich raus, ihr Geschäft verrichten. Ich war dankbar, etwas zu tun zu haben.

    Draußen hob ich das Garagentor an, und die Hunde stoben heraus und machten, ehe sie etwas anderes taten, einen schnellen Kontrollgang ums Grundstück, so wie Dad es ihnen beigebracht hatte. Erst dann erleichterten sie sich und setzten sich hechelnd vor mich und warteten auf einen Befehl oder darauf, auf Patrouille geschickt zu werden.

    Ich gab ihnen das Signal Bei Fuß! und ging mit ihnen in die Garage, zog das Tor herunter und schloss es von innen ab. Dann öffnete ich die Tür von der Garage ins Haus, und die Hunde blickten mich fragend an, versuchten zu verstehen, was ich von ihnen wollte. Ich bedeutete ihnen, mir ins Haus zu folgen. Dad hätte das nicht gefallen, aber er lebte ja nicht mehr. Wenn ich mich nicht einschließen lassen konnte, wollte ich wenigstens die Hunde im Haus wissen.

    Sie tänzelten unentschlossen auf der Türschwelle herum, denn Dad hatte ihnen beigebracht, immer draußen zu bleiben, außer wenn ein Fremder ihn oder mich angriff. Ich hockte mich hin und kraulte ihnen die Ohren.

    „Ihr dürft jetzt ins Haus, sagte ich zu den beiden. „Das ist in Ordnung. Ab sofort habe ich hier das Sagen. Ich trat durch die Tür, drehte mich zu ihnen um und signalisierte ihnen: „Hierher." Sie winselten.

    „Hierher", wiederholte ich.

    Ich brauchte fünf Anläufe, aber schließlich trippelten sie ins Haus und sahen einander schuldbewusst an. Ich hoffte, es würde ihre Ausbildung nicht verderben. Ich gab ihnen ein Zeichen, mir ins Fernsehzimmer zu folgen. Sie gehorchten und setzten sich hin. Dann entließ ich sie in der Hoffnung, sie würden jetzt das Haus erkunden und sich daran gewöhnen, drinnen zu sein. Nach einer Weile trotteten sie aus dem Zimmer, Sarx auf der linken, Tesla auf der rechten Seite, so, wie sie es gelernt hatten.

    Ich setzte mich auf die Couch und nahm die Fernbedienung. Jedes Geräusch kam mir plötzlich doppelt so laut vor – das Hecheln der Hunde, der Präriewind draußen, mein Magenknurren –, ich hätte aus der Haut fahren können. Ich schaltete den Fernseher ein und zappte durchs Programm, bis ich einen Sender fand, auf dem ein Offender-NYC-Marathon lief. Die Hunde kehrten zurück, blieben stehen und sahen mich an, warteten auf ein Kommando.

    „Platz", sagte ich. Sie legten sich hin.

    Plötzlich lag ich in der Badewanne und ertrank.

    Ich wollte Luft holen, aber es ging nicht, denn ich befand mich unter Wasser und starrte an die schwankende

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1