Der Würger im Strohsack: Authentische Kriminalfälle
Von Bernd Kaufholz
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Über dieses E-Book
Viele dieser Fälle, die seinerzeit kaum die engen Grenzen der lokalen Medienberichterstattung überschritten, werden erstmals vollständig sichtbar: Mord an Minderjährigen, am eigenen Kind, der Freundin oder Frau, am Gatten, am Lehrer oder auch an einem Rentner. Vielfältig wie die Tatumstände sind auch die Motive: Eifersucht, sadistische Triebe, Eheprobleme, Habgier.
Kaufholz begleitet die Ermittlungen bis hin zum Gerichtsverfahren, befasst sich mit Opfern wie Tätern – und entwirft so auch ein Zeitbild des 'anderen Deutschland' vor 1989.
Bernd Kaufholz
Bernd Kaufholz, geb. 1952 in Magdeburg, studierte Maschinenbau und später Journalistik. Seit 1976 ist er Reporter bei der „Volksstimme“ in Magdeburg und ab 1993 als Chefreporter in vielen Kriegs- und Krisengebieten der Welt unterwegs. Seine Bücher trugen ihm den Titel „Ehrenkommissar des Landes Sachsen-Anhalt“ (2002) und eine Beförderung zum „Oberkommissar ehrenhalber“ (2011) ein. Kaufholz lebt im Jerichower Land.
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Buchvorschau
Der Würger im Strohsack - Bernd Kaufholz
Bernd Kaufholz
Der Würger im Strohsack
Authentische Kriminalfälle
mitteldeutscher verlag
Inhalt
Cover
Titel
Vorwort
4.240 Gramm
Der tote Lehrer im Wald
Der Mann ohne Gesicht
Tödliche Begierde
Der Sadist
Die Tote im Pavillon
Tödliches Dreieck
Der Würger im Strohsack
Der Gasmörder von Burg
Glossar
Zuletzt erschienen
Impressum
Vorwort
Zum dritten Mal sind Adalbert Winter und seine Leute von der Magdeburger Bezirksmordkommission unterwegs, um spektakuläre Morde zwischen Seehausen in der Altmark und Benneckenstein im Harz aufzuklären. Diesmal sind es die Jahre 1963 bis 1972, in denen die Ermittler Zeugen befragen, Kriminaltechniker jede noch so kleine Spur untersuchen, Verhörspezialisten Tatverdächtigen auf den Zahn fühlen und Rechtsmediziner sowie Psychiater versuchen, Licht in neun spektakuläre Fälle zu bringen, die in Magdeburg, Oschersleben Genthin, Burg, Stendal, Klötze und Zerbst die Menschen erschütterten.
Und trotz der aus heutiger Sicht einfachen Möglichkeiten, die es damals speziell auf dem Gebiet der Kriminaltechnik/-wissenschaft gab – der genetische Fingerabdruck war noch nicht „erfunden" – klärten die Mordermittler beinahe jedes Tötungsdelikt auf.
Bekannte Namen, die bereits aus den beiden vorausgegangenen Büchern mit authentischen Kriminalfällen („Der Beilschlächter von Osterwieck, 2007, und „Der Muttermörder mit dem Schal
, 2008) bekannt sind, begegnen den Lesern erneut. Andere Kriminalisten aus den Kreisen tauchen zum ersten Mal auf. Die Ermittler, Staatsanwälte und Richter sind mit Klarnamen aufgeführt. Bei den Tätern wurden die Nachnamen hingegen frei erfunden.
Breiten Raum in diesem Buch nimmt der Lehrermord von 1964 im Kreis Burg ein. Er gehörte bereits in der DDR zu den Fällen, die in Polizeischriften und Psychiatrieblättern breit dargestellt wurden, weil sie nicht zur Norm der Tötungsdelikte gehörten. Der Täter war erst 15 Jahre alt. Mord von gerade Strafmündigen gehörte damals zu den ganz seltenen Fällen – was sich bis heute nicht geändert hat.
Oft werde ich gefragt, warum ich die alten Fälle aus
DDR-Zeiten
wieder „ausgrabe"? Darauf gibt es drei Antworten: Zum Ersten geht es mir darum, auf Fälle aufmerksam zu machen, die zwar von Mund zu Mund gingen – was oft zur Legendenbildung beitrug – über die jedoch kaum zuverlässig berichtet wurde. Zum Zweiten möchte ich zeigen, mit welchen Mitteln, Methoden und mit welcher Akribie die Kriminalisten zu dieser Zeit ihre Fälle lösten.
Das dritte Anliegen hat meine Eichsfelder Kollegin, die Diplomjournalistin Christine Bose, in ihrer Rezension zum „Muttermörder-Band auf den Punkt gebracht: „Schon heute kann das Buch als (DDR-)Geschichtsdokument angesehen werden, findet doch der Leser darin Alltagssituationen dargestellt, die jetzt bereits kaum noch denkbar sind: So wurde viel mehr gelaufen, geradelt, auch Moped gefahren, ganz einfach deshalb, weil den meisten Bürgern kein PKW zur Verfügung stand. Für jugendliche Leser mag es seltsam erscheinen, dass Nachbarn oder auch Fremde, um telefonisch die Polizei zu rufen, zunächst dorthin laufen mussten, wo es ein Telefon gab: Das befand sich, außer in einer Telefonzelle beispielsweise in einer Gaststätte oder einem Betrieb.
Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre.
Hinweis: Die mit Sternchen (*) versehenen Namen in den Geschichten wurden geändert.
4.240 Gramm
„Hier ist ein Umschlag von der Staatsanwaltschaft für Sie, Genosse Hauptmann." Mit diesen Worten legt der Diensthabende im Magdeburger Polizeikreisamt dem Arbeitsgruppenleiter AK 3 am Nachmittag des 19. Juni 1963 einen braunen A
4-Umschlag
auf den Schreibtisch. Kripohauptmann Müller öffnet das Couvert und schaut sich die Unterlagen an. Darunter ist ein Obduktionsbericht der Gerichtlichen Medizin der Medizinischen Akademie. Auf acht Seiten haben Oberarzt Dr. Friedrich Wolff und Assistenzärztin Dr. Margot Laufer die Ergebnisse der Öffnung der Leiche eines drei Monate alten Kindes notiert.
Und was der erfahrene Kriminalist liest, lässt ihn nicht kalt. Einige Worte und Sätze unterstreicht er: „Reduzierter Ernährungszustand, „erheblich verschmutzt
, „ungepflegter Eindruck, „Unterkörper in hohem Maße verunreinigt
, „Fettpolster an der Brust- und Bauchhaut nur schwach entwickelt. Dann der entscheidende Satz: „Die Sektion allein ergab keinen Anhalt für eine sichere Todesursache, insbesondere nicht für einen natürlichen Tod auf Grund eindeutiger Organbefunde. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich jedoch um die Folgen einer erheblichen Vernachlässigung des Säuglings im Hinblick auf Wartung und Ernährung.
„4.240 Gramm Gewicht, schüttelt Müller den Kopf. Eigentlich hätten es fast 1.800 Gramm mehr sein müssen, entnimmt er dem Protokoll. „Erheblich reduzierter Ernährungszustand (Dystrophie).
Und bevor er es noch schwarz auf weiß auf Seite 7 liest, denkt der Kriminalist: „Gewaltsame Einwirkung in Form einer Kindesvernachlässigung liegt vor – keine Frage."
Dann schaut er sich die Fotos an, die vor der Obduktion vom Leichnam gemacht wurden. Sie zeigen einen kleinen Jungen mit tief eingesunkenen Augen und fast schwarzen Augenringen, einem faltigen Hals wie bei einem alten Mann und eine deutlich sichtbare Einschnürung oberhalb des Bauchnabels.
Dann liest Müller das Anschreiben von Staatsanwalt Rudolph: „Hiermit weise ich an, in der Sache Klaus Birr* sofort Ermittlungen aufzunehmen und ein Ermittlungsverfahren wegen Totschlagsverdachts und Vernachlässigung der Fürsorgepflicht einzuleiten. Die Bekleidung des Kindes befindet sich noch bei der Staatsanwaltschaft und ist von dort abzuholen. Personalien des verstorbenen Kindes sind noch nicht bekannt."
Eine Woche zuvor. In der Nacht vom 11. zum 12. Juni weint Klaus, der jüngste Nachwuchs der nunmehr sechsköpfigen Familie, beinahe ununterbrochen. Gegen 3 Uhr steht Hanna Birr* auf und misst Fieber. Das Quecksilber steigt sofort auf über 40 Grad „Du, Klaus hat Fieber", ruft die
24-Jährige
ihrem Ehemann zu. Doch Joachim Birr* dreht sich nur grunzend auf die andere Seite und schläft weiter. „Typisch, ärgert sich die junge Frau. „Hauptsache der hat seine Ruhe und kann schlafen.
Die Ehe ist schon seit einiger Zeit zerrüttet. Immer öfter gibt es Streit. Joachim Birr wirft seiner Ehefrau vor, sich mit anderen Männern herumzutreiben. Kurz nach den Osterfeiertagen hatte seine Vermutung erneut Nahrung bekommen. Im Briefkasten lag ein mit „Adolf" unterzeichnetes Schreiben, das an seine Frau adressiert war. Darin bat der Absender um ein Foto und fragte, warum Hanna ihm nicht auf seinen ersten Brief geantwortet hätte. Von dem Schreiben hatte die
24-Jährige
nichts erfahren, denn Joachim Birr hatte das Schriftstück behalten.
Zur Eifersucht des Ehemannes gesellt sich chronische Geldnot, weil der
27-Jährige
auf Grund seiner häufigen Fehlstunden schon einige Male entlassen wurde.
Hanna Birr holt Tücher und hält sie unter kaltes Wasser. Sie macht dem Kind, dessen Kopf hochrot ist, Wadenwickel. Dabei kommt ihr der letzte Streit wieder in den Sinn. Ihr Ehemann hatte geschimpft: „Der Junge ist doch sowieso nicht von mir, und ich muss ihn trotzdem durchfüttern."
Auf einmal glaubt die
24-Jährige
einen Ausweg aus ihrer ehelichen und finanziellen Misere gefunden zu haben: „Das Kind muss weg. Dann klappt es auch wieder mit Joachim. Dann können wir die ganzen Sachen auslösen, die wir in den letzten Monaten auf die Pfandleihe geschafft haben." Sie entschließt sich, mit dem Kind nicht zum Arzt zu gehen, sondern es einfach sterben zu lassen.
Einen Überblick über die vielen Pfandscheine, die sie in einer kleinen Kiste aufbewahrt, hat sie schon lange nicht mehr. Seit Oktober 1962 hat sie alles, was sich zu Geld machen ließ, versetzt: Wäsche, Bekleidung Federbetten, Tischdecken, ein
24-teiliges
Besteck, sogar ihren Regenschirm, zuletzt im Mai und Juni dieses Jahres zwei Anzüge ihres Mannes – insgesamt 45 Pfandbelege. An manchen Tagen ging Hanna Birr zuerst zur Pfandleihe, ehe sie den Kindern Milch kaufen konnte.
Entsprechend sieht die Eineinhalbzimmerwohnung im ersten Stock der Magdeburger Materlikstraße aus. Da die Familie seit Monaten kein Gas- und Stromgeld bezahlt hat, wurden die Anschlüsse gesperrt. Die Kochstelle ist ein so genannter Allesbrenner in der Küche – neben einem alten Eisenherd der einzige Einrichtungsgegenstand in diesem Raum.
Ihr Schlafzimmer haben die Birrs schon vor einigen Monaten an einen Altwarenhändler verkauft. Damit sie nicht auf dem Fußboden schlafen müssen, hatte ihnen der Mann ein altes Eisen- und ein Holzbett billig überlassen. Ein Draht- und ein Kleinstkinderbett sowie ein Vertiko, eine Wäschetruhe, ein Wäschekorb und ein Regal vervollständigen die Einrichtung des zwölf Quadratmeter großen Raums.
„Wenn Klaus weg ist, haben wir ja immer noch drei Kinder, versucht die junge Frau ihr Gewissen zu beruhigen. „Die haben es dann besser.
Am nächsten Morgen ist das Fieber des Babys nicht mehr ganz so hoch wie in der Nacht. Doch trinkt es weniger als üblich aus der Flasche – erst die Hälfte, dann kaum noch. Zumeist liegt der kleine Junge in einer Art Dämmerzustand in seinem Bettchen.
„Du musst mit Klaus zum Arzt gehen, wenn es ihm nicht gut geht, sagt Joachim Birr an diesem Tag seiner Frau. „Und was soll ich mit den anderen drei machen?
, fragt sie. „Auf die kann meine Mutter aufpassen, antwortet ihr Mann. Doch das will Hanna Birr nicht. Sie schüttelt den Kopf: „Du weißt doch, dass deine Mutter immer dann etwas vor hat, wenn sie mir mal die Kinder abnehmen soll. Wie damals, als ich zum Zahnarzt die Kinder mitnehmen musste, weil deine Mutter keine Zeit hatte, aufzupassen. Bleib du doch mal zu Hause.
Das jedoch lehnt ihr Ehemann kategorisch ab. Ihm war vor einiger Zeit vom Wasserwerk wegen Arbeitsbummelei gekündigt worden und nur der Fürsprache seiner Frau hatte er es zu verdanken, dass er wieder eingestellt wurde. Mit harten Auflagen. „Dann musst du die Kinder eben mit zum Arzt nehmen, will er das Gespräch beenden. „Dann gehe ich nicht
, fährt ihn seine Ehefrau an.
Nachdem ihr Mann aus dem Haus ist, hört Hanna Birr auf, das Kind sauber zu machen und zu windeln. Sie weiß, dass das Baby nicht mehr lange leben wird. Es ist nur noch ein Schatten seiner selbst.
Als ihr Mann abends von der Arbeit kommt, fragt er, ob sie beim Kinderarzt war. „Klaus hat ganz ruhig geschlafen, verneint sie. „Das wird schon wieder.
Hanna Birr ist mit ihrem Leben schon lange nicht mehr zufrieden. In den zurückliegenden Wochen ist sie beinahe jeden Abend aus ihrer ungemütlichen Wohnung geflüchtet, in der sie doch nur alleine war, weil ihr Mann erst spätabends und dann oft angetrunken aus der
HO-Gaststätte
„Express" nach Hause kam. Sie spazierte häufig bis Mitternacht am Schleinufer, an der Elbe oder den Fürstenwall entlang.
Männerbekanntschaften suchte sie eigentlich nicht, aber als Mitte Juni ein Pkw-Fahrer anhielt und sie ansprach, war sie nicht abgeneigt. Als der Mann in den Vierzigern gegen 21.30 Uhr sein Auto neben ihr parkte, stand die
24-Jährige
an der Mauer des Reichsbahndirektionsgebäudes, unweit der Elbe. „Bist du lebensmüde? Willst du ins Wasser gehen?", fragte er sie.
Sie kamen ins Gespräch und die junge Frau erzählte, dass sie abends immer allein sei. „Dann können wir uns ja mal wiedersehen", sagte der Kavalier. Doch Hanna Birr meinte nur, dass sie für vier Kinder sorgen müsse und immer erst abends die Wohnung verlassen könne, wenn die Kinder schliefen. Ob sie vielleicht am Alten Markt einkaufen gehe, wollte der Mann wissen. Und man sich nicht dort mal treffen könnte.
Am 21. Juni 1963 war es zufällig wirklich zu einem Zusammentreffen gekommen. Als Hanna Birr den kleinen Konsum schräg gegenüber dem historischen Rathaus verließ, stand plötzlich die Schleinufer-Bekanntschaft vor ihr. Die beiden sprachen eine Weile miteinander und der Mann fragte die
24-Jährige
, ob sie sich am nächsten Dienstag gegen 21 Uhr an der Elbe treffen wollen. Die junge Frau sagte zu. Sie hoffte darauf, sich aussprechen zu können – über ihre familiären Probleme, ihre Geldsorgen … Doch dazu war es nicht mehr gekommen.
Am 14. Juni geht Hanna Birr zum Wasserwerk in Magdeburg-Buckau, wo ihr Mann arbeitet. Sie verlangt vom Lohnbuchhalter die Kindergeldkarte. „Ich ziehe mit den Kindern zu meinen Eltern in den Kreis Wanzleben. Ich will mich scheiden lassen, erklärt sie. „Mein Mann verbraucht das Kindergeld ja doch nur für sich.
Franz Stranitzky* kennt die junge Frau. Sie hat schon öfter bei ihm vorgesprochen. Und er weiß, dass die Familie ständig Geldsorgen hat. Er gibt ihr die Kindergeldbescheinigung und 80 Mark Kindergeld.
Zwei Tage zuvor hatte Hanna Birr 50 Mark Abschlag vom Lohn ihres Mannes haben wollen. „Der ist vom Saufen gekommen – ohne sein Fahrrad – ich muss jetzt eine neues kaufen", lautete ihre fadenscheinige Begründung. Doch Geld hatte sie nicht bekommen.
Am 13. Juni war sie mit einer Vollmacht ihres Mannes aufgetaucht und wollte 30 Mark haben. Als der Buchhalter nach den Gründen für die leere Kasse fragte, antwortete die Bittstellerin, dass sie ihr Ehemann zu knapp halte und sie sogar zu Leuten schicke, um Geld zu borgen. Stranitzky versprach ihr, mit der Betriebsgewerkschaftsleitung zu sprechen, damit ihr der Lohn ihres Mannes ausgezahlt wird.
Als die
24-Jährige
am Nachmittag des 14. Juni wieder nach Hause kommt, liegt Klaus im Sterben. Sie stellt sich vor das Bett und sieht zu, wie der erst drei Monate alte Junge noch einige Male nach Luft schnappt und dann mit weit aufgerissenen Augen an die Zimmerdecke starrt.
Die
24-Jährige
nimmt das tote Kind aus dem Bett, geht damit auf den Hausflur und ruft laut nach ihrer Schwiegermutter, die im selben Haus wohnt. Doch die ist nicht daheim. Nur eine Nachbarin öffnet ihre Wohnungstür. „Mein Kind ist gestorben, zeigt sie das kleine Bündel vor. „Dann musst du einen Arzt rufen, wegen des Totenscheins
, sagt die Frau.
Um 18.30 Uhr erscheint Dr. Herbert Frohse* in der Materlikstraße und stellt den Totenschein aus. Dem Arzt fällt nichts Besonderes an der kleinen Leiche auf. Doch der Sanitätsrat benutzt einen falschen Vordruck. Das bemerkt eine Standesbeamtin, die darauf umgehend Petra Dörries* von der Abteilung Mutter und Kind beim Rat der Stadt Magdeburg informiert. „Die Oma des Kindes hat uns den Totenschein gebracht, merkt die Mitarbeiterin des Standesamts noch an, „und dabei hat sie sich so komisch geäußert: Wir sollten uns das Kind mal genauer ansehen.
Dörries setzt sich sofort mit dem Arzt in Verbindung und veranlasst die Überführung der Leiche zur Pathologie der Medizinischen Akademie. An der Obduktion nimmt wegen des Anfangsverdachts auf Dystrophie (Ernährungsstörung) auf Grund von Kindesvernachlässigung ein Staatsanwalt teil. Im neuen Totenschein vom 17. Juni 1963 wird als Todesursache Dystrophie und Exsikkose (Austrocknung) angegeben. Gegen Hanna Birr wird ein Ermittlungsverfahren wegen Totschlags eröffnet.
Die
24-Jährige
stammt aus der Börde. Nach der 8. Klasse lernte sie ein Jahr lang das Nähen bei einer Schneidermeisterin in Eilsleben, Kreis Wanzleben. 1953 begann die junge Frau bei der Konsumgenossenschaft Wanzleben eine zweijährige Lehre als Verkäuferin.
Das erste Mal mit dem Gesetz in Konflikt kam Birr 1957. Sie leitete damals den kleinen Lebensmittelkonsum in Gehringsdorf im Kreis Wanzleben. Gleich bei der ersten Inventur wurde ein Fehlbetrag von 8.000 Mark festgestellt. Der Fall wurde angezeigt und das Kreisgericht Wanzleben verurteilte sie zu einer Haftstrafe von neun Monaten. Außerdem wurde sie in Höhe von 1.700 Mark in Regress genommen. Nach sieben Monaten öffneten sich für die Frau die Tore des Halberstädter Gefängnisses wieder.
Ihren Ehemann lernte sie 1958 bei einer Betriebsfeier kennen, 1959 heiratet das Paar. Im Dezember desselben Jahres wurde ihr erstes Kind geboren, die zweite Tochter 1961, das dritte Kind ein Jahr später, 14 Monate danach Klaus.
Am 24. Juni 1963 wird Hanna Birr von Kripo-Leutnant Kühnhardt verhört. Sie räumt ein, dass Klaus in der Nacht vom 11. zum 12. Juni hohes Fieber gehabt hat. „Der Junge hat geschrien, und ich habe knapp 40 Grad gemessen."
Was es mit der tiefen Einschnürung am Bauch des Kindes auf sich habe, will der Kriminalist wissen. „An der Gummihose, die im Bund zu knöpfen ist, sind die Knöpfe abgegangen. Weil ich keine Lust hatte, sie wieder anzunähen, hab ich die Hose mit einem Gummizug zugeschnürt. Der war wohl zu eng. Eine „schlechte Absicht
habe sie damit jedoch nicht verfolgt.
Hanna Birr räumt ein, nichts unternommen zu haben, als ihr Sohn mehr und mehr die Nahrung verweigerte – und sie gibt zu: „In vollem Bewusstsein, dass er sterben muss."
Noch am Tag des Verhörs wird die Tatverdächtige in Untersuchungshaft genommen. Beim Hafttermin vor dem Kreisgericht des Stadtbezirks Magdeburg-Mitte bekräftigt die Beschuldigte, dass sie ihr Kind „beseitigen wollte. „Ich wollte, dass mein Kind stirbt und unterließ bewusst, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen
, sagt sie Richter Wiedemann. „Klaus umzubringen, das war mein Entschluss – nur meiner allein."
Einen Tag später wird auch gegen den Ehemann, Joachim Birr, ein Ermittlungsverfahren eröffnet. Ihm wird „Vernachlässigung der