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Miriams Baby
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eBook294 Seiten3 Stunden

Miriams Baby

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Über dieses E-Book

Eigentlich soll es eine weihnachtliche Reportage werden, ein besinnlicher Beitrag für das Kreisblatt, ein Artikel zum Umgang mit einem Fest, das einmal christlich war ... Es kommt anders.
Der eigensinnige Provinzreporter Jens Jahnke steckt plötzlich mit beiden Beinen im braunen Sumpf. Undercover recherchiert er bei völkischen Siedlern und wird nicht nur mit einer überwunden geglaubten Ideologie konfrontiert, sondern mit brutaler Gewalt.
Begleiten Sie Jens Jahnke nach Himmelstal, einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide, das es in sich hat.
Begegnen Sie Miriam und Ihrem Baby. Bangen Sie mit um Mutter und Kind, um den Reporter und vielleicht auch um uns alle ...
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum30. Apr. 2020
ISBN9783750235137
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    Buchvorschau

    Miriams Baby - Hermann Brünjes

    Prolog

    Miriams

    Baby

    Gewidmet jenen Menschen,

    denen ich im »Tagungshaus mit Herz« begegnet bin.

    Ihr wart mir Inspiration und Freude.

    Danke.

    »Nie zuvor musste ich so etwas tun!«

    Dr. Christine Fuhrmann wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. Der Schutzhandschuh fühlte sich klebrig an. Das Skalpell schimmerte sanft im Kunstlicht, so als wolle es seine Unschuld beteuern.

    Als die Gerichtsmedizinerin den ersten Schnitt ansetzte, hielt Inspektor Georg Martens die Luft an. Er wollte wegschauen, konnte jedoch nicht. Wie gebannt starrte er auf den kleinen Körper, der nun gnadenlos obduziert werden sollte.

    Der Schnitt saß. Die Ärztin verstand ihren Job.

    Seltsamerweise trat kein Blut aus. Trotzdem musste Martens seinen Blick abwenden. Er schaute zum Nachbartisch. Unter dem grünen Laken hob sich die Kontur eines zweiten Körpers ab. Die Bahre aus Edelstahl war auf menschliche Größen ausgelegt, also über zwei Meter lang. Nur ein Viertel davon beanspruchte der kleine tote Mensch darauf.

    Hier lag das zweite Baby. Tot.

    Frau Dr. Fuhrmann begann ihren monotonen Singsang. Sie sprach in ein Mikrophon, das sie am Revers ihres Kittels befestigt hatte. Das Meiste verstand Martens nicht. Es war ihm fremd wie die Litanei einer lateinischen Messe.

    Auch der Inspektor musste noch niemals zuvor so etwas tun. Ein Jäger hatte vorgestern die erste Leiche entdeckt. Sie lag in einer Senke südlich der Kreisgrenze mitten im Wald. Man hatte das Baby mit starken Ästen und Laub zugedeckt, Tiere hatten sich jedoch Zugang verschafft. Einer der beiden zuerst eintreffenden Polizisten hatte sich übergeben müssen. Sie hatten den Fundort abgesperrt und bereits die Personalien des Jägers aufgenommen, als Martens eintraf. Der hatte daraufhin eine Hundestaffel aus Lüneburg angefordert und die Gegend durchsuchen lassen. Seine Hoffnung war, wenigstens noch die Kleidung des Kindes zu finden, schon allein um die Identifikation zu erleichtern. Fehlanzeige.

    Die Kleider wurden nicht gefunden, dafür das zweite tote Kind. Es lag nur etwa hundert Meter vom ersten entfernt in einem Fuchsbau. Jemand hatte es dort hineingesteckt, als sei es ein Stück Abfall. Vielleicht hatte man auch gehofft, das kleine Bündel Mensch würde schnell im Magen hungriger Tiere verschwinden.

    Nun aber lagen beide hier auf den kalten Edelstahltischen. Die Identifikation würde schwierig werden, ganz ohne Kleidung. Immerhin waren beide Gesichter noch halbwegs anschaulich. Es waren wirklich niedliche Babys. Martens musste an seine Neffen denken. Zwar konnte er nicht viel mit diesen kleinen Dingern anfangen – aber sie anschauen und über diese kleinen Wunderwerke staunen, das konnte auch er.

    Drei Stunden später war die Obduktion der beiden Babys abgeschlossen. Martens war noch einmal gegangen, nun jedoch verabredungsgemäß wieder zurück in der Gerichtsmedizin.

    Dr. Fuhrmann zog die Gummihandschuhe von ihren Händen, warf sie in einen Beutel, tat das Gleiche mit dem grünen Kittel und wandte sich an den Inspektor.

    »Danke, dass sie wiedergekommen sind.«

    »Frau Doktor, dass ist nicht nur mein Job, ich will und muss wissen, was mit diesen Kindern passiert ist.«

    »Beide sind erstickt worden. Man hat ihren Kopf in eine Plastiktüte gesteckt und sie verrecken lassen.« Ihr Entsetzen über diese Tat war in jedem Wort spürbar. »Wann? Vermutlich vor drei Tagen. Beide Kinder sind gleich alt. Sie sind etwa Weihnachten letzten Jahres geboren worden.«

    »Sind es Geschwister?«

    Martens tippte auf Familiendrama.

    »Das wird der bereits eingeleitete DNA-Abgleich vermutlich ausschließen. Zähne, Gesichtsform und viele andere Details unterscheiden die Babys. Beides sind Jungen.«

    Es würde eine lange Ermittlung werden, das war Martens klar. Die eigene Mutter, Familie oder Angehörige – damit würde er nach der Identifizierung beginnen müssen.

    Montag, 2.12.

    »Jens, bei allem Respekt, du hast sie ja nicht mehr alle!«

    Die Meinung meines Chefs Florian Heitmann zu meiner Person ist mir bekannt. Respekt und Kopfschütteln zugleich. Jetzt offenbart er sie auch gegenüber dem Redaktionsteam. Na schön. Die Ressortchefs, unsere Mediensprecherin und zwei verdiente Journalisten sitzen zur regelmäßigen Konferenz zusammen. Einer der beiden Journalisten bin ich, wobei ich meiner Meinung nach nicht verdiene, was ich verdiene.

    »Chef, das habt ihr bei Oliver Bender auch gesagt.«

    Alle nicken. Ja, die letzte Story um den auferstandenen Bender hat großen Wirbel gemacht. Es war die Story – leider konnten wir sie nicht ganz zu Ende schreiben.

    »Jens, so etwas passiert nur einmal im Journalistenleben. Du kannst jetzt nicht plötzlich fromm werden und Jesusgeschichten schreiben. Das überlass mal schön den Kirchenfuzzies! Die haben ja auch eigene Medien – auch wenn die Nutzerzahlen vermutlich lächerlich niedrig sind.«

    Ich hätte natürlich ahnen müssen, das Florian Heitmann meinen Vorschlag ablehnen würde. Er ist manchmal geradezu ein Kirchenhasser. Vielleicht liegt das daran, dass er früher einmal selbst Theologie studiert hat. Im dritten Semester hat er abgebrochen. Warum, habe ich auf der betrieblichen Weihnachtsfeier am letzten Wochenende auch nach diversem Sekt-, Bier- und Whiskygenuss nicht herausgefunden. Er hat nur etwas davon gelallt, dass man ihn ausgenutzt und manipuliert habe. Jedenfalls ist er dann auf Journalismus umgestiegen und hat später sogar bei der Bildzeitung in Hamburg Karriere gemacht.

    »Aber lass ihn doch erst einmal ausreden!«

    Der Ressortleiter unserer Online-Redaktion und ich verstehen uns gut. Er ist stellvertretender Chef und hat auf die Kollegen großen Einfluss. Wäre er nicht hier, hätte unser Kreisblatt vermutlich längst sowohl Buchstabenformate, Schriftbild und Aufmachung der BILD, als auch das inhaltliche Niveau dieses schönen, bunten Bildungsblattes übernommen.

    »Okay, Jens. Rede weiter, aber mach es kurz!«

    »Viel gibt es da nicht mehr zu sagen.« Ich finde, meinen Vorschlag gut. »Es sind nur noch drei Wochen bis Weihnachten. Wir berichten über Adventsfeiern bei der Feuerwehr oder im Sozialverband. Wir drucken romantische Fotos von Weihnachtsmärkten und tollen Lichtinstallationen am Bahnhof und in der Stadt. Wir machen Live-Übertragungen vom alten Rathaus mit den Kunstfenstern als Adventskalender. Aber worum geht es Weihnachten wirklich?«

    Ich schaue mich um und sehe viele nicken.

    »Es geht um Schokolade, Licht, Frieden und Geschenke!«

    Florian grinst. Ich vermute, er meint es ernst und sagt es aus tiefster Überzeugung, auch wenn es sich wie eine ironische Provokation anhört. Der BILD-Reporter steckt eben noch tief in ihm drin.

    »Richtig Chef, und was ist das größte Geschenk zu Weihnachten?«

    Eine Kollegin kichert: »Die freien Tage!«

    Florian grinst: »Du meint, dein Jesus?«

    Ich merke zum Glück rechtzeitig, wie sich mir die Haare aufstellen und bemühe mich um freundliche Sachlichkeit.

    »Ja, Chef. Es ist natürlich nicht mein Jesus, sondern genauso auch dein Jesus. Ohne die Geburt Jesu würde es Weihnachten nicht geben. Folglich geht es um seinen Geburtstag!«

    »Den haben wir ja am Wochenende deftig gefeiert. Was meinst du, was mich das gekostet hat?«

    In den Gesichtern der Kolleginnen und Kollegen spiegeln sich Missbilligung und Widerspruch. Elefanten sind gleichzeitig sensible Geschöpfe, zumindest außerhalb von Porzellanläden. Unser Chef hat nicht nur die Statur jener sensiblen Tiere, er teilt auch ihre Klugheit. Also macht er schnell einen Rückzieher. »Oh sorry. Ich meine natürlich nicht mein Geld, sondern das der Redaktion. Und natürlich habt ihr alle diese üppige Weihnachtsfeier unbedingt verdient. Das habe ich ja auch am Samstag in meiner Dankesrede zum Ausdruck gebracht.«

    Die Kollegen schauen nun etwas wohlwollender. Florian entspannt sich.

    »Also Jens, du willst moderne Jesusgeschichten schreiben? So was wie die letzte Auferstehungsgeschichte?«

    »Vermutlich gibt es so etwas nicht noch einmal. Ansonsten stimmt es: Ich will schreiben, was Menschen hier und heute von Jesus halten, wie sie Weihnachten als seinen Geburtstag feiern und was ihr christlicher Glaube für ihr alltägliches Leben austrägt.«

    Alle nicken jetzt zustimmend, bis auf den Chef.

    »Und du meinst, das interessiert unsere Leser?«

    »Allerdings. Wir müssen den Hype um Jesus nach der Geschichte um Oliver Bender ausnutzen. Noch immer sind die Gerüchte um den Auferstandenen nicht abgeklungen.«

    Ich mache eine kleine Pause und trinke einen Schluck Wasser, bevor ich meine letzten Karten auf den Tisch lege. Vielleicht stechen ja die touristischen Trümpfe.

    »Chef, außerdem liegt in unserem Landkreis ein bisher verborgenes Juwel: Himmelstal. Die Dörfer Himmelstür und Himmelpforten kriegen massenhaft Post in diesen Wochen und sind allein wegen ihres Namens weltberühmt.«

    Florian grinst. »Ja, weil der Nikolaus und der Weihnachtsmann dort ein- und ausgehen. Und nun willst du deinen Jesus bei uns im Landkreis ansiedeln? Himmelstal statt Bethlehem.«

    »Noch mal Chef, es ist auch dein Jesus! Ja, warum denn nicht. Der Name des Dorfes hat enormes Potential, berühmt zu werden. Gott kommt vom Himmel ins Tal. Weihnachten in Himmelstal!«

    »Ich weiß nicht. Mir kommt das alles viel zu fromm und gleichzeitig zu alltäglich vor, langweilig und sensationsfrei. Ja, wenn es Tote gäbe! Wir haben ja gerade gesehen, wie die Lüneburger Konkurrenz die Geschichte von den zwei toten Babys ausgeschlachtet hat. So etwas wollen die Leute lesen, etwas mit schaurigem Gruselgefühl und der gleichzeitigen Freude, selbst nicht betroffen zu sein. Aber Jesus heute? Weihnachten und Gott in Himmelstal? Wen interessiert das schon?«

    »Mich zum Beispiel!«

    Unsere Medienbeauftragte sagt das erste Mal etwas und sofort sind alle Augen auf die hübsche Blondine aus Ostfriesland gerichtet. Elske ist erst zweiundzwanzig und seit wenigen Monaten beim Kreisblatt.

    »Chef, vergiss die vielen Frauen unter unseren Lesern nicht. An ermordeten Babys haben die mit Sicherheit keinen Gefallen. Das geht allemal den Müttern viel zu nahe. Aber wie es etwa in Himmelstal weitergeht, oder wie andere Familien Weihnachten feiern, oder ob Glaube, Beten und die religiöse Seite von Weihnachten für Menschen heute überhaupt noch eine Rolle spielen – das interessiert uns Frauen!«

    Die anderen drei Frauen in der Runde nicken zustimmend.

    »Und wie hoch ist der Anteil der Frauen bei unserer Leserschaft?« Der Online-Chef unterstützt Elske und mich auf seine sachliche Art. »Bei den Zeitungen die Hälfte und Online sogar weit darüber!«

    Florian bleibt nichts anderes übrig, als mir den Auftrag zu geben. Gegen Frauenpower hast du als Mann keine Chance.

    »Also Jens, dann bringst du in den Adventswochen jeweils einen Artikel mit Fotos von deiner Jesus-in-Himmelstal-Serie. Du kriegst in den Dienstagsausgaben jeweils eine ganze Seite, natürlich inklusive Werbung. Heiligabend wäre dann dein letzter Beitrag dran. Beginnen kannst du meinetwegen schon morgen.«

    Wenn schon, denn schon! Unser Chef ist ein Mann der Tat. Allerdings ist mir das zu rasant.

    »Chef. Bis Morgen habe ich nichts. Sagen wir, meine Beiträge stehen immer an den Advent-Samstagen drin. Der letzte kommt dann am Heiligen Abend, pünktlich zum Geburtstag des Christkindes.«

    »Okay, berede das mit dem Setzer. Wir rechnen also mit dir! Aber untersteh dich und sülze zu viel frommes Zeug daher – und wehe, es wird eine kirchliche Werbekampagne!«

    Er wischt über den Tisch, als läge dort ein Blatt mit »Jesus lebt in Himmelstal« und er müsse es wegschieben, damit das Leben weitergeht. Dabei gibt es noch keine einzige Notiz – mal abgesehen von einigen Gedanken in meinem Kopf.

    Ich hatte mir bereits im Sommer vorgenommen, einmal etwas über die christliche Gemeinschaft im Tagungshaus von Himmelstal zu machen. Mit tausenden Gäste-Übernachtungen leisten sie dort einen spürbaren Beitrag zur touristischen Bedeutung unseres schönen Heide-Kreises. Durch den Gästebetrieb ist das kleine Dorf Himmelstal in Deutschland und darüber hinaus bekannt. In Indien unterstützt der Träger des Tagungshauses viele Bildungseinrichtungen seiner Partner dort. Um es kurz zu machen: Bei uns im Landkreis wissen die Leute gar nicht, welcher Schatz im kleinen Himmelstal greifbar neben ihnen liegt. Das sollte sich dringend ändern.

    Auf dem Weg von der Redaktion nach Hause, langsam vor mich hinradelnd, überlege ich noch, ob ein zweiter Grund mich ins kleine Dorf Himmelstal treibt. Maren Bender heißt sie. Seit ihr Mann wieder beerdigt wurde, habe ich sie weder gesehen noch mit ihr gesprochen. Vermutlich hat sie keinerlei Interesse an mir. Aber mir geht sie nicht aus dem Sinn.

    *

    Den Nachmittag verbringe ich mit Recherchen im Internet. Zwar habe ich einen Schreibtisch im Verlagshaus, muss jedoch nicht unbedingt anwesend sein. Zwei freie Mitarbeiterinnen nutzen meinen Arbeitsplatz ebenfalls. Je mehr ich zuhause arbeite, desto mehr Möglichkeiten der Präsenz im Verlag haben diese beiden Kolleginnen. So jedenfalls meine Ausrede ...

    Das »Tagungshaus mit Herz« hat eine gut aufgemachte Internetseite. Es gibt viel zu stöbern. Bei meinem letzten und ehr zufälligem Besuch dort, habe ich bereits verstanden, was mit dem Kürzel »HG« gemeint ist. Hausgemeinde. Das sind junge Menschen, die dort einen Freiwilligendienst leisten. Sie leben in Gemeinschaft zusammen, arbeiten im Gästebetrieb, halten Gebäude und Grundstück in Schuss und machen Andachten in der Kirche. Ich bin gespannt zu hören, was sie von Weihnachten halten ...

    Am späten Nachmittag rufe ich eine der angegebenen Nummern an. Nach mehrfachem Klingeln nimmt jemand ab. Im Hintergrund klappert Geschirr und scheppert ein Radio. Vielleicht bereiten sie das Abendessen vor und lassen Musik laufen. Eine junge Frauenstimme meldet sich.

    Ich bitte sie, mir ihren Chef ans Telefon zu holen.

    »Oh, welchen meinen Sie? Den vom Gästebetrieb oder unseren Pastor?«

    »Na, den Leiter vom Ganzen!«

    Ich bekomme eine andere Nummer, wähle erneut und habe Erfolg.

    »Theo Beyer.«

    Den Namen dieses Leiters höre ich das erste Mal. Aber ich bin richtig verbunden. Der Mann ist der Stimme nach Mitte oder Ende dreißig. Wir verabreden uns für morgen Vormittag gegen elf Uhr.

    Dienstag, 3.12.

    Als wären Landschaft und Orte mir fremd, so erscheint mir die Anfahrt. Nein, nicht fremd. Farblos, verlassen, triste und kahl trifft es eher. Diese Strecke bin ich oft gefahren, zuletzt Ende August. Der Wald, die Felder, Dörfer und Straßen sind mir bekannt – und doch tauche ich jetzt in eine Welt ein, die ich anders in Erinnerung habe, frischer, freundlicher, sommerlicher. Das gelbe Ortsschild ist der einzige Lichtpunkt, als ich hinab ins Bachtal mit der Wassermühle fahre. Knorrige Eichen und kahle Linden ragen schwarz in den Himmel. Ihre Äste wirken vor dem dunkelgrauen Hintergrund der Wolken irgendwie gespenstisch. Die Teiche und der zur Mühle gehörende Wasserlauf liegen neben der feuchten Asphaltstraße wie schwarze Löcher im Universum. Ein Hund streunt vor der Landbäckerei herum. Vielleicht sucht er nach Brotresten. Gleich zweimal kreuzen Katzen die Straße, eine schwarze und eine braun gefleckte. Ich muss bremsen. Abergläubisch bin ich nicht. Ich vergesse auch immer die Richtung, in der die schwarze Katze über die Straße laufen muss, damit es gefährlich wird. Außerdem beweisen diverse platt gefahrene Katzen auf unseren Straßen, dass vor allem wir gefährlich sind. Ob auch Katzen abergläubische Weisheiten tradieren? »Mensch von rechts bringt Schlecht’s, Mensch von links, Glück bringt’s.«

    Einige Autos kommen mir entgegen, alle mit Licht, obwohl es Vormittag ist. Kein Mensch ist auf der Straße. Die Feldsteinkirche wirkt inmitten der kahlen Eichen nicht mehr einladend und idyllisch wie im lichten Sommer, sondern abweisend wie eine Trutzburg im dunkelsten Mittelalter. Man kann sich jetzt gut vorstellen, dass der heutige Glockenturm damals als Wehrturm gute Dienste leistete.

    Ich parke meinen grauen Golf IV vor der Kirche. Das Hinweisschild für einen Besinnungsweg ist nach dem Ortsschild der zweite Farbklecks. An der Kirche beginnt der »Auferstehungsweg«, ein Angebot für Pilger, Natur- und Kunstfreunde, die sich mit den biblischen Ostergeschichten, sich selbst und der Natur auseinandersetzen wollen. Im nächsten Ort gibt es ein Kloster. Dort endet dieser meditative Weg mit Bildern des Künstlers Werner Steinbrecher nach vierzehn Stationen. Der durchsichtige Kasten am Pfosten der Station enthält keine Flyer mehr. Vermutlich ist die Saison für Pilger längst vorbei.

    Ob sie irgendwann auch noch einen »Weihnachtsweg« installieren? Das wäre doch mal eine Idee. Für meine Weihnachts-Recherche käme ein solches Projekt zwar zu spät, aber vielleicht wird sie ja zum Auslöser dafür.

    Auch am Tagungshaus gegenüber der Kirche sehe ich keinen Menschen. Der Fachwerkgiebel wirkt bei trübem Licht abgewetzt und reparaturbedürftig. Die mächtige Säuleneiche davor hält ihre braunen Blätter fest, als seien es Kinder, die sie nicht loslassen möchte, weil sie um ihr Sterben weiß.

    Wieder amüsiere ich mich über das kleine Schild neben dem Eingang. »Luther war hier!« steht dort. Schon im November gab es Minusgrade. Jetzt hat der Weinstock, dessen Reben an der Wand hochklettern, keine Blätter mehr. Deshalb erkennt man schneller das kleine Wörtchen unter dem dicken Text es Schildes: »Nie«. Luther war hier – nie.

    Jens Jahnke dagegen war schon hier, wenn auch nur kurz. Ihm widmet allerdings niemand ein Schild. Ich drücke den runden Klingelknopf an der hölzernen Haustür. Hoffentlich ist jemand da.

    Durch die Scheiben der Tür sehe ich eine junge Frau aus einem Raum in den Flur und dann zur Haustür kommen. Sie ist schlank, hat lange dunkle Haare und trägt eine Brille mit braunem Rand.

    »Hallo, mein Name ist Jens Jahnke. Ich bin mit Ihrem Chef verabredet, mit Theo Beyer.«

    »Kommen Sie herein. Ich heiße Anna Lena und gehöre zur HG. Ich vermute, wir haben schon miteinander telefoniert.«

    Richtig, ich erkenne ihre Stimme. Sie öffnet die Eingangstür und ich folge ihr. Gut, dass ich inzwischen weiß, was »HG« bedeutet. Mir scheint, die Leute in diesem Tagungshaus verfallen der Versuchung vieler Gemeinschaften, sich über Abkürzungen und Insidersprache zu verständigen. Nichts dagegen – aber sobald jemand von außerhalb kommt, versteht man sich nicht mehr. Und ich komme von weit draußen! Jetzt wörtlich und was die christliche Szene angeht auch im übertragenen Sinn. Na, ich bin gespannt, was ich hier überhaupt verstehe ...

    Anna Lena bringt mich in eine Art Büro mit Esstisch. Dort sitzen mindestens zehn Personen. Vor dem Tisch auf dem Fußboden ist eine dicke Decke ausgebreitet. Dort liegt ein Baby auf dem Bauch und spielt mit einem bunten Clown. Eine junge Frau hockt daneben und hält das Kind bei Laune. Familienfreundlich, denke ich.

    Ein schlanker, dunkelhaariger Mann am Kopfende des Tisches steht auf und kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu. »Herr Jahnke, danke für Ihr Interesse! Ich bin Theo Beyer, der Leiter dieser Einrichtung.«

    Der Mann ist mir auf Anhieb sympathisch. Er ist schlicht in Jeans und Polohemd gekleidet, trägt einen kleinen Kinnbart und seine grüngrauen Augen leuchten im Licht der Deckenlampe. Er wendet sich nach unserer Begrüßung wieder der Runde am Tisch zu.

    »Herr Jahnke ist Journalist vom Kreisblatt. Er hat Interesse daran, unsere Arbeit einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen. Besonders interessiert ihn, was uns an Weihnachten wichtig ist.« Er wendet sich wieder an mich. »Und wir sind daran interessiert, Sie zu unterstützen und danken gleichzeitig, dass wir so die Chance bekommen, ein bisschen mehr von unserer ›Insel der Seligen‹ bekannt zu machen.«

    Allgemeines Schmunzeln und Nicken.

    »Wir sitzen gerade in unserer wöchentlichen DB, also der Dienstbesprechung«, informiert mich Theo Beyer, »aber ich bin jetzt entbehrlich und kann mit Ihnen nach nebenan gehen. Die Aufgabenverteilung kriegt ihr allein hin. Andy, übernimmst du die Leitung?«

    Der zuletzt angesprochene Andy, ein Mann mit Dreitagebart, der mir irgendwie bekannt vorkommt, und alle anderen nicken. Typisch Teamsitzung, denke ich. Papiere, zwei oder drei Smartphones, Kaffeetassen, O-Saft, Wasser und wichtige bis gelangweilte Minen. Das bedeutet Redaktionssitzung. Hier nennen sie es also DB. Gut, dass wenigstens der Chef gemerkt hat, dass er die Abkürzungen zumindest zu Beginn einem Nicht-Insulaner erklären muss.

    »Vielleicht ist es gut, wenn ich Ihnen unser Team vorstelle. Später sprechen Sie ja noch mit den Einzelnen.«

    Ich bin mehr als einverstanden. Genauso habe ich es mir gedacht: Zuerst ein Gespräch mit dem Leiter, dann sehen, was hier so läuft, einzelne Interviews, Fotos, vielleicht auch Interviews mit Gästen und ... mal sehn. Wahrscheinlich muss ich noch ein- bis zweimal wiederkommen.

    »Fangen wir mit dem Nachwuchs an. Das da unten ist unser aller Jeschu!« Beyer zeigt mit einem gewissen Stolz auf das Baby und schmunzelt. »Manchmal quakt er auch, aber wir freuen uns, dass

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