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Hortus Universalis
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eBook335 Seiten4 Stunden

Hortus Universalis

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Über dieses E-Book

Ein Roman über das Wunder von Musik, Literatur, Malerei
und zwei Liebespaare, die der Welt abhandenkommen.

Drei Zeitebenen, zwei Liebesgeschichten und ein toter Komponist.
Elisabeth und Alois verbindet nach einer zufälligen Begegnung und einer gemeinsamen Nacht eine ferne Freundschaft und eine intensive E-Mail-Korrespondenz, in der sie sich ihre Sorgen und Hoffnungen anvertrauen. Als der Onkel von Alois - Ernst Hoffmann - sich überraschend das Leben nimmt, hinterlässt er ihm nicht nur eine Komposition für Violoncello und Klavier, sondern auch zahlreiche Fragen und Leerstellen aus seiner Vergangenheit, denen Elisabeth und Alois nun nachgehen. Mehr und mehr tauchen sie in eine entlegene und dennoch seltsam vertraute Welt ein, eine Vergangenheit voller Liebe und Zuneigung, aber auch voller Hass, Missbrauch, Tod und Verderben, die weniger vergangen ist, als es scheint. In immer vielstimmigeren Sprach- und Stilelementen schiebt sich das, was ist, mit dem, was war und einer imaginierten Zukunft ineinander, bis sich am Ende alle in einem finalen Tanz um Liebe und Tod wiederfinden.
SpracheDeutsch
HerausgeberHollitzer Verlag
Erscheinungsdatum18. Apr. 2023
ISBN9783990940754
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    Buchvorschau

    Hortus Universalis - Eva Maria Stöckler

    HORTUS UNIVERSALIS

    EVA MARIA STÖCKLER

    JOHANNES SIMETSBERGER

    HORTUS UNIVERSALIS

    Roman

    Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von

    Copy

    Eva Maria Stöckler, Johannes Simetsberger:

    Hortus Universalis, Roman

    Hollitzer Verlag, Wien 2023

    Coverabbildung: Garten op. 69, Acryl auf Leinwand,

    Johannes Simetsberger 2011

    Foto: Eva Maria Stöckler

    Bildbearbeitung: Radoslaw Celewicz

    Umschlaggestaltung und Satz: Daniela Seiler

    Hergestellt in der EU

    Alle Rechte vorbehalten

    © HOLLITZER Verlag, Wien

    www.hollitzer.at

    ISBN Druckausgabe: 978-3-99094-074-7

    ISBN epub: 978-3-99094-075-4

    I  SILLIANUM

    Sonntag, 20. März 2011, 11:21 Uhr

    Liebe Elisabeth!

    Wir sind nun in Sillian. Wirklich angekommen bin ich aber noch nicht. Es ist alles noch zu neu. Immerhin unterrichte ich seit Semesterbeginn an meiner neuen Volksschule. Heute Sonntagvormittag finde ich hoffentlich Zeit, wenigstens ein paar Zeilen zu schreiben. Ich sitze in der Café-Konditorei-Bäckerei-Pension Pichler und habe einen Platz gefunden, wo ich mich wenigstens für eine Stunde in einen Winkel zurückziehen kann. Das Café ist leer, die Einheimischen sind noch in der Kirche. Ich kann auch nicht allzu lange von zu Hause weg.

    Antonia geht es von Tag zu Tag schlechter, zumindest empfinde ich das so. Seit wir in Osttirol sind, spricht sie nur mehr italienisch. Man könnte meinen, das kommt von der Nähe zur italienischen Grenze. Sicher war es auch der Umzug, der an unser aller Nerven gezehrt hat. Sie erkennt uns kaum noch, ihr Alzheimer deckt sie mehr und mehr zu. Im Jänner, kurz nach unserer Ankunft, hatten Franziska und ich eine hässliche Aufregung durchzumachen. Es war ein bitterkalter Tag, eine gebirgige Kälte, an die ich mich noch gewöhnen muss, wie an so vieles andere hier. Der Lastwagen mit unseren Möbeln war eben vorgefahren, wir hatten alle Hände voll zu tun, den Männern von der Spedition Anweisungen zu geben und die Kartons und Möbel so rasch als möglich ins Haus zu schaffen. In dieser allgemeinen Verwirrung war Antonia plötzlich verschwunden. Sie war nirgendwo zu finden. Die Speditionsleute waren gerade abgefahren, als die verzweifelte Sucherei begann. Im ersten Schock wussten wir nicht, was wir tun sollten. Wir kannten noch niemanden. Doch im richtigen Augenblick kam der Hutmacher vorbei, das ist einer unserer Nachbarn, um uns neugierig in Augenschein zu nehmen. Er war unsere Rettung und reagierte als Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr geistesgegenwärtig, trommelte die Kameraden zusammen und nicht einmal zwanzig Minuten später begaben sie sich auf die Suche nach Antonia. So klein der Ort auch ist, sie hätte überall sein können. Zudem war die Sonne längst hinter den Bergen verschwunden und es dunkelte. Antonia hatte keine passende Kleidung dabei, die Kälte wurde von Minute zu Minute grimmiger. Franziska weinte verzweifelt um ihre Mutter, ich versuchte sie zu beruhigen, was kaum möglich war. Aber wir hatten Glück. Jemand hatte den Bürgermeister angerufen und ihm mitgeteilt, dass eine offensichtlich verwirrte, alte Frau nahe der Ruine Heinfels gesehen worden war. Sofort wurden Franziska und ich mit dem Kommandowagen der Feuerwehr dorthin gebracht. Antonia war in der Tat bis in die Nachbarortschaft gelangt; hilfsbereiten Menschen war es gelungen, sie in ihr Haus zu bringen. Sie zitterte noch am ganzen Körper vor Angst und Kälte, als wir sie auf der Kachelofenbank sitzen sahen, im Haus der freundlichen Heinfelser. Ihre Augen waren weit aufgerissen, als wir sie sahen. Sie hatte uns offenbar erkannt. Nach einer Weile, als der Schreck ein wenig gewichen war, begann sie leise zu weinen. Franziska weinte auch. So saßen wir lange auf der Kachelofenbank eines uns unbekannten Hauses und ich glaube, dass Antonia ganz leise „Gondola, Gondola" murmelte. Meine Erleichterung, dass wir sie so schnell gefunden hatten, war groß. Nicht auszudenken, wenn die Dorfbewohner sich nicht derart hilfsbereit und aufmerksam gezeigt hätten. Ich merkte, wie diese Erleichterung sich mit der wohligen Wärme des Kachelofens verband, und ich erinnerte mich an die Worte, die ich wohl bei Goethe gelesen hatte: Der Schmerzen wären minder unter den Menschen, wenn sie nicht Gott weiß, warum sie so gemacht sind – mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraft sich beschäftigten, die Erinnerungen des vergangenen Übels zurückzurufen, eher als eine gleichgültige Gegenwart zu ertragen.

    Ach ja. Vor unserem Umzug hat sich mein Onkel Ernst in Frankenburg erschossen. Das war am 4. Dezember. Ich musste zu allem Überdruss auch noch zum Begräbnis fahren. Meine Abwesenheit für eine Nacht (er wurde am 13. Dezember begraben und ich blieb bis 14., ehe ich wieder nach Linz zurückkehrte) war für Franziska eine große Belastung und ich muss ihr nachsehen, dass sie, als ich wieder zu Hause war, sehr unfreundlich zu mir war. Meine Mutter will seinen Hof jetzt so schnell als möglich verkaufen. Mir überließ sie seinen „Nachlass", eine Holzkiste voller Papiere, Briefe und irgendwelcher Unterlagen, die ich nach Sillian mitgenommen habe. Ich bin aber – wie du dir denken kannst – noch nicht dazugekommen, sie genauer durchzusehen. Ich hatte andere Sorgen. Allerdings sind mir Briefe einer Nadja Auerbach aus Salzburg aufgefallen. Vielleicht eine Russin? Hast du nicht im Garten des Kardinal König Hauses in Wien erzählt, dass du in Salzburg Russisch gelernt hast? Es wird schon bald Mittag. Ich muss rasch nach Hause. Viel mehr kann ich dir heute nicht schreiben. Ich hoffe, dir geht es gut in Eisenstadt. Vielleicht möchtest du mir ja schreiben. Es würde mich sehr freuen. Ich bin dankbar über jede Nachricht von draußen.

    Liebe Grüße

    Alois

    Dienstag, 22. März 2011, 9:46 Uhr

    Lieber Alois!

    Es freut mich sehr von dir zu hören. Wie es scheint, hast du eine schwere Zeit hinter dir. Es tut mir leid, dass es deiner Schwiegermutter – ich nenne sie einmal so – schlecht geht. Damit habt ihr wohl zu eurer Eingewöhnung noch eine weitere Aufgabe zu bewältigen. Aber vielleicht ist sie ja diejenige, die, ohne es zu wissen und zu wollen, eure Integration in diesen Ort ermöglicht. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie du es schaffst, aus der Stadt in dieses Bergdorf zu gehen. Ich kenne Sillian nicht, aber allein die Vorstellung dieses Ortes inmitten der Osttiroler Berge lässt Kälte und Einsamkeit Gestalt werden. Ich hoffe, dass es dir zumindest in der Schule gut geht. Ich denke, dass das mit Linz nicht zu vergleichen ist und du dort wenigstens unterrichten kannst und nicht die ganze Zeit Kinder disziplinieren musst.

    Ja, das ist richtig. Ich habe in Salzburg Russisch gelernt, und meine Russischlehrerin hieß Nadeschda Auerbach. Aber das kann doch nicht dieselbe sein? Nadja ist längst schon wieder in Russland oder verstorben. Ich weiß es nicht. Sie hat Russisch unterrichtet, war aber Musikerin. Ich hab sie sehr gemocht, eine kluge, aber melancholische Frau. Ich muss nachsehen, aber ich denke, irgendetwas von ihr hab ich sicher noch in meinen Salzburger Unterlagen (die mittlerweile wohl auch in den Tiefen eines Umzugskartons verschwunden sind.) Mit welcher Beiläufigkeit du vom Tod deines Onkels sprichst, erstaunt mich. Ein „ach ja stellt einen gewaltsamen Freitod wohl auf die Stufe „sonstiger Probleme. Aber ich kenne eure Situation nicht und maße mir auch nicht an, darüber zu urteilen. Es scheint wohl eine schwierige Konstellation gewesen zu sein und er dürfte dir auch nicht sehr nahegestanden haben. Ich freue mich übrigens, dass unsere Begegnung in Wien auf diese Weise nachwirkt. Lass uns das behalten! Vielleicht macht es dir die Zeit in den Bergen etwas erträglicher, wenn du deine Tiroler Enge ein wenig in die Weite der pannonischen Ebene schicken kannst. Ich wünsche dir jedenfalls alles Gute! Ich bin schon neugierig darauf, wer DEINE Nadja ist. Und ich muss jetzt auch los. Unterricht!

    Liebe Grüße

    Elisabeth

    Dienstag, 22. März 2011, 17:06 Uhr

    Liebe Elisabeth!

    Die Berge kennen keine Gärten. Ich bin jetzt schon neugierig, ob das Feldchen hinter dem Haus wirklich das ist, was ich glaube, ein Gemüsebeet. Ein bisschen grünes Leben würde uns hier allen gut tun.

    Ich finde es wunderbar, dass du so rasch von dir hören hast lassen. Ist ja eine umtriebige Zeit in unserem „Geschäft". Bis Ostern haben wir alle Hände voll zu tun. Das wird wohl im Gymnasium auch nicht viel anders sein, oder? Bin schon gespannt, was du aus der pannonischen Ebene zu berichten hast.

    Warum dieses Bergdorf? Ich glaube, die Handlungsmöglichkeiten des Menschen sind oft sehr beschränkt. Manchmal muss man sich zurücknehmen und den Willen anderer geschehen lassen. Es ist wie es ist. Franziska hätte es keinen Tag länger in Linz ausgehalten. So sind wir eben da. Und so schlimm ist es auch nicht. Mit der Einsamkeit magst du recht haben. Dafür habe ich im Moment auch keine Lösung. Es gibt hier zwar eine Unzahl an Vereinen und Möglichkeiten, ich tue mir damit aber recht schwer. Schützen, Jäger, Feuerwehr, Männergesangsverein, was weiß ich. So recht konnte ich mir noch keine Gedanken machen, wie ich hier Anschluss finden soll. Was die Kälte betrifft, täuscht du dich. Das Wochenende war schon sehr warm und man kann bereits ohne Mantel vors Haus gehen. Gestern hatten wir den Montag nach Josefi. Ein schulfreier Tag und wir saßen zum Mittagessen auf der Terrasse. Auf der sonnigen Talseite ist es schon aper und drecksbraun. Das lässt hoffen, dass es die Wiesen hier auch in Grün gibt. Nur mehr ein zehn Meter breites, weißes Band hin zur Seilbahntalstation trotzt dem Frühling – und dort haben die Schneekanonen nachgeholfen.

    Und nun zu den Briefen: Der Absender der Briefe an meinen Onkel lautet Nadja Iwanowna Auerbach. Soweit ich das bisher überblicken konnte, sind die Briefe in der Holzkiste durchwegs von ihr (zumindest habe ich noch keinen anderen gefunden). Ich werde mich heute noch hinsetzen und mir die Sachen genauer anschauen. Im Anfang war der Zufall, und der Zufall war bei Gott, und Gott war der Zufall. Dieser war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch diesen gemacht, und ohne diesen ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Salzburg passt auch. Der Onkel studierte, eher er Bauer wurde, in Salzburg.

    Beiläufigkeit: Noch einmal muss ich dir recht geben. Vielleicht habe ich ihm Unrecht getan mit meiner Beiläufigkeit. Ich habe sicher zu sehr an den Rest der Familie gedacht. Das hat er sich nicht verdient. Ich möchte das jetzt nicht ausführen. So viel will ich aber doch sagen: Etwas hat mich zu ihm hingezogen, die paar Mal, als ich ihn erlebt habe. Seelenverwandtschaft? Lassen wir das!

    Und abschließend: Nicht die ganze Zeit disziplinieren. Nein, das ist nicht meine Sache. Ich habe allerdings die Vermutung, dass das andere statt mir machen. Schau dir nur die Schulordnung an:

    1. Beim Eintreffen in der Schule oder in der Klasse grüße ich meine Lehrer und Mitschüler.

    2. Ich bin höflich, rücksichtsvoll und hilfsbereit, damit sich alle in unserer Schule wohl fühlen können.

    3. Ich befolge die Anweisungen der Lehrer.

    4. Ich halte Ordnung in der Garderobe und in der Klasse. Meinen Müll sortiere ich gewissenhaft.

    5. Raufen – auch aus „Spaß" und unnötiges Lärmen ist im Schulhaus und im Pausenbereich verboten. Laufen darf ich nur in der Turnstunde.

    6. Bei Stundenbeginn warte ich ruhig auf meinem Platz.

    7. In den kleinen Pausen halte ich mich in der Klasse auf. Zum Essen bleibe ich auf meinem Platz.

    8. Fenster werden nur auf die Anweisung eines Lehrers geöffnet.

    9. Mit Einrichtungsgegenständen und Lehrmitteln gehe ich schonend um.

    10. Vor dem Heimgehen räume ich mein Bankfach aus und stelle den Stuhl hinein .

    Franziska ruft. Hochpustertaler Grüße!

    Alois

    Mittwoch, 23. März 2011, 20:33 Uhr

    Lieber Alois,

    also das klingt nach Schulalltag der 1950er Jahre. Und am Ende sitzen alle mit den Händen auf der Bank in der Klasse und der Lehrer zieht den schlimmen Schülern eine mit dem Rohrstock drüber.

    Dem Menschen ist die Freiheit geschenkt. Deshalb wird er verantwortlich und verbindlich handeln und leben. So klingt das im Leitbild des Wolfgartens. Mittlerweile bin ich richtig froh, dass ich keine Stelle in Wien oder Salzburg bekommen habe. Es ist schön hier und das wusste ich schon, als ich das erste Mal in Eisenstadt war. Sommer 1992 muss das gewesen sein. Ich hatte gerade mein erstes Jahr Russischunterricht bei Nadja hinter mir und sie meinte, ich könnte die besten Fortschritte machen, wenn ich im Sommer drei Wochen zum Intensivkurs nach Eisenstadt fahre. Der erste Eindruck war eine heiße Sommertrockenheit und nicht diese schwüle Feuchte, wie sie so oft über Salzburg hängt. Du siehst hinter dem Watzmann schon das Gewitter heraufziehen, aber anstatt Abkühlung zu bringen, lässt es Unwetter hageln und am Ende ist es so heiß wie zuvor.

    Und der zweite Eindruck: Die Menschen laufen hier nicht herum, als hätten sie links und rechts Scheuklappen, sie blicken dich an, sehen dir in die Augen, und nicht auf den Boden und durch dich hindurch. Sicher, die burgenländische Stumpfsinnigkeit gibt es wohl auch und diese seltsame „Landeshauptstadt ist ein größeres Dorf. Aber sie will auch gar nichts anderes sein, gibt nicht vor, Metropole zu sein, gibt nicht vor, Zentrale zu sein, gibt nicht vor, irgendetwas zu sein, außer das, was sie ist: ein westungarisches Dorf, das zufälliger Weise in Österreich zu liegen kam. Wie anders war Salzburg: ein zu groß geratenes bayrisches Dorf, das – welche Parallele – auch mehr oder weniger zufällig in Österreich zu liegen kam, glaubt heute noch, eine Weltkulturhauptstadt zu sein. Ist ja nicht einmal eine katholische Hauptstadt, auch wenn die Fürsterzbischöfe immer noch den Purpur und das Pallium tragen. Primas Germaniae. Deshalb bin ich froh, an diesem unaufgeregten Ort zu sein. Und wenn es mir zu eng und zu weit wird, fahre ich nach Wien. Gehe ins Kino, ins Konzert – gerade letzten Samstag war ich im Musikverein. Barenboim spielte KV 488 und dann Beethoven op. 15 und einen spätromantischen Schönberg. So bemüht aufrichtig auch musiziert wurde, aber Schönberg bleibt in allem, was er komponiert hat, akademisch und kühl. Wunderbar für den Unterricht, um zu zeigen, „wie es geht, aber in der unmittelbaren sinnlichen Auseinandersetzung mit der Musik im Konzert hat es immer den Anschein, er würde mit jeder Note eine gebührende Distanz einfordern. „Bleib zurück und das bei einem Stück wie „Pelleas und Melisande. Bleib zurück, war wohl auch die Botschaft Melisandes, als sie Pelleas’ Berührung zuließ. Und die Erkenntnis aus dem Brunnen der Blinden war nur die, dass sie am Ende den Tod finden würde. Ja, tief ist der Brunnen der Vergangenheit.

    Dennoch: Diese Zeit liegt jetzt auch hinter mir. Und ich bin sehr froh darum. Ich habe dir ja erzählt, dass ich die letzten zwei Jahre eine grafische Ausbildung in St. Pölten gemacht habe – letztlich der Grund für meine Anstellung in Eisenstadt – und diese Freitage und Samstage in St. Pölten waren ja auch mehr als nur Studienzeit. Manchmal kann man dem eigenen Leben nicht entkommen, auch wenn man es wollte und alles dafür tut.

    Am Ende sind die Grenzen, an die man stößt, jene Grenzen in uns, die wir als allerletzte oder nie überwinden können. Ich wünsche dir sehr, dass du mit dem Umzug deine Grenzen etwas weiter vorgeschoben hast, und dass es für euch alle dort, wo ihr nun seid, besser ist als zuvor.

    Ich werde mich die nächsten Tage daran machen, die alten Sachen aus Salzburg hervorzukramen. Bis Ostern habe ich mit meinen Schülern noch ein Projekt fertig zu stellen. Durch den Ausfall eines Kollegen musste ich seit Semesterbeginn auch eine Deutschklasse übernehmen, samt den dazugehörigen Schularbeiten für Siebtklässler.

    Liebe Grüße

    Elisabeth

    Mittwoch, 23. März 2011, 22:41 Uhr

    Liebe Elisabeth!

    Franziska schläft nebenan auf der Couch, also nutze ich die Gelegenheit, dir ein paar Zeilen zu schreiben. Antonia, die „Schwiegermutter", wie du sie wohl im Scherz nanntest, schaut Rai Uno. Wir stellen ihr, seit wir hier sind, gern diesen Sender ein. Es beruhigt sie. Sie kann oft sehr cholerisch sein. Das war sie früher nie, meint Franziska. Wie wir wissen, kommt es bei ihrer Krankheit mitunter zu sehr bedauerlichen Persönlichkeitsveränderungen. Man muss es hinnehmen. Es gibt ja doch keine Rettung. Keine Hoffnung. Es ist so friedlich im Hier und Jetzt. Sie schaut in den Fernseher und ist irgendwo. Das Programm beruhigt, tröstet sie vielleicht sogar. Dabei zeigen sie gerade eine geschmacklose Spielshow. Mich regen diese Shows ja eher auf. Zumal ich nur jedes 5. Wort verstehe, weil ich es bis dato nicht geschafft habe, diese Sprache zu erlernen. Trotz des Umstandes, dass ich seit fast vier Jahren mit eineinhalb Italienerinnen unter einem Dach wohne.

    Du hast diese sprachliche Begabung! Es gefällt mir auch, wie du über Musik schreibst. Man möchte dabei gewesen sein, so lebendig erzählst du. Ich bin über das Gitarren-Schrumm-Schrumm eines anständigen Volksschullehrers nicht hinausgekommen. Und das nahm ich auch nur auf mich, weil ich Kinder unterrichten wollte. Immer schon. Und weil sie mich sonst nicht durch die Pädagogische Akademie gelassen hätten, habe ich mich mit der Gitarre gequält. Das einfachste Instrument überhaupt. Und singen. Grässlich, wenngleich man mir eine schöne Bassstimme nachgesagt hat. Mit den Kindern ist das etwas anderes. Da kann sogar ich zum Musiker werden. Sie sind in ihrer Ungezwungenheit so ansteckend, dass ich gerne singe. Meine Kleinen, die Gitarre, schrumm, schrumm … Ja: ich und die Musik … Mit dem Turnen verhält es sich genau so. Die Kleinen und ich – du solltest uns sehen. Aber „freiwillig"? Nein danke! Ich kann dir jetzt schon sagen, dass die Berge Berge bleiben werden. Da sollen andere hinauflaufen und sich abmühen. Es hat schon seinen Grund, warum die Dörfer in den Tälern sind und nicht auf den Gipfeln. Aber ich will dir nicht auf die Nerven gehen. Natürlich hat alles seine Berechtigung, Musik machen, Bewegung, die Berge. Ich habe es halt noch nicht verstanden. Ich nehme mir vor, dahinter zu kommen. Spätestens, wenn ich meine Höhenangst überwunden habe.

    Du hast’s gut! Wien. Stadt. War schön in Wien. Frühling. Sonne. Garten. Ich will nicht schon wieder jammern, aber meine nächsten Städte sind in unerreichbarer Entfernung, Innsbruck, Salzburg und Klagenfurt. Was soll’s. Dafür kann man hier gut nachdenken. Keine Ablenkung. Beim Malen ging mir heute Nachmittag noch einmal durch den Kopf, was ich über Ernst gesagt habe. Und wie dumm es von mir war, so beiläufig von seinem selbst gewählten Tod zu schreiben. Weiß der Teufel, was mir da eingefallen ist. Ich schäme mich noch ein bisschen. Er ist doppelt tot. Totgeschwiegen und Totgeschossen. Eine Erinnerung an ihn möchte ich mit dir teilen, weil ich das Gefühl habe, etwas gut machen zu müssen. Schreib mir, wenn ich dich langweile. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir damit zur Last falle.

    Es war 1994, Frühsommer, um den 13. Juni herum. Kurz vor Abschluss der Pädagogischen Akademie in Linz war ich bei meinen Eltern, um für die Abschlussprüfung zu lernen. Ich beschloss, meinen Onkel zu besuchen. Ich nahm das Rad der Mutter – es war ja nicht weit. Nachdem ich ihn auf dem Hof nicht angetroffen hatte, nahm ich an, dass er bei den Fischteichen sein würde. Die drei Fischteiche gab es immer schon. Man musste zu Fuß einen Abhang hinunter in eine Senke, an drei Seiten der Hausruckwald. Mir war nie klar, ob es sich um einen Teich oder um drei Teiche handelte. Sie waren wesensgleich und unterschieden sich nur in der Farbe. Man konnte meinen, sie bezögen sich aufeinander und waren doch abgetrennt in ihrer Gestalt. Wenn die Sonne hoch am Himmel stand, sah es aus, als wäre der erste blau, während der mittlere grün schimmerte. Der dritte wirkte bräunlich. Der grüne Teich ging aus dem blauen Teich hervor, während der braune aus dem grünen hervorzugehen schien. Insgesamt waren sie eine Einheit. Ich sah Ernst auf seiner Bank sitzen, einer Bank, die er sich selbst aus einem Baum geschnitten hatte. Eine Form von Bänken, bei der man einen Baum der Länge nach durchschneidet – der eine Teil bildet dann die Lehne, der andere die Sitzfläche. Dort saß er nahe am Ufer, man konnte kaum zwischen der Bank und dem Teich durchgehen. Ich winkte ihm von weitem, aber er schien mich nicht wahrzunehmen. Ich ging auf ihn zu und verlangsamte allmählich meine Schritte. Etwas Feierliches schien da vor sich zu gehen. Ich hatte plötzlich das Gefühl – was weiß ich, was er da trieb – ihn nicht stören zu dürfen. Also schlich ich mich – auf Hörweite – an ihn heran. Obgleich ich in seiner Nähe war, unübersehbar, nahm er mich noch immer nicht wahr. Er starrte auf die Wasseroberfläche; dabei sprach er leise vor sich hin. Niemalen, g’fallen. Die Worte waren zu undeutlich, als dass ich den Sinn hätte erfassen können. Zum einen war ich verwirrt von der Szene, zum anderen erschien mir das Bild auf eine Weise erhaben, wie ich es mir bis heute nicht erklären konnte. So stand ich wie angewurzelt da und beobachtete ihn. Erst etwas später entdeckte ich, dass vor ihm, unter der Wasseroberfläche, ein Schwarm Fische schwamm. Es schien, als hätten sich alle Fische des Teiches vor ihm versammelt. Und das Seltsame daran war, dass er sie nicht fütterte. So saß er da, in dem alten abgetragenen Sakko. Die Fische vor ihm im Wasser. Ich weiß nicht, ob ich übertreibe, aber ich denke, dass ich dort mindestens zwanzig Minuten gestanden hatte und meinen Onkel beobachtete wie er … Ich schaffte es nicht, ihn anzusprechen und ihn aus seinem Zustand zu holen. Das wäre unpassend gewesen. Also ging ich wieder. Beim Zurückfahren kamen mir die Worte wunderlicher Alter in den Sinn. Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.

    Jetzt Nachrichten. Auch in italienischer Sprache klingen die Nachrichten grausam und beängstigend. Ich mag Nachrichten noch weniger als Spielshows. Egal ob in Italienisch oder Deutsch. Ich bin nachdenklich und will dich nicht anstecken. Gefühle sind ansteckend. Beim nächsten Mal will ich fröhlicher enden. Ich muss jetzt meine eineinhalb Italienerinnen ins Bett bringen …

    Gute Nacht und melde dich, wenn du deine Salzburgschachtel gefunden hast. Und melde dich auch, wenn du die Salzburgschachtel nicht gefunden hast. Es tut gut, von dir zu hören.

    Alois

    Samstag, 26. März 2011, 00:00 Uhr

    Lieber Alois!

    Gefühle sind ansteckend. Ja, da magst du recht haben. Im Moment fühle ich mich erschöpft und kraftlos. Ich denke, dass das letzte Jahr doch seine Spuren hinterlassen hat. Auch für mich ist ein Abschnitt meines Lebens zu Ende gegangen und mein Umzug nach Eisenstadt hatte nicht nur einen beruflichen Grund, es war auch der Versuch, einen Teil der Vergangenheit hinter mir zu lassen. Nur das lässt sich nicht so einfach bewerkstelligen. Die Vergangenheit wirkt ja doch noch weiter und so mancher Mensch, den man zurücklassen musste, bleibt dennoch da.

    Was du mir von Ernst erzählst, ist sehr berührend. Er scheint ein sehr einsamer Mensch gewesen zu sein, und dennoch auf eine Art und Weise fröhlich – verzeih den Ausdruck – fröhlich, weil er sich die Möglichkeit geschaffen hat, zu sprechen, sich zu vermitteln, auszudrücken, auch wenn dies wohl nur jemandem gegenüber gelang, der nicht antwortete. Ich denke daher auch, dass seine Worte – wenngleich ungehört – nicht ins Leere gegangen sind, sondern aufgefangen wurden vom Wasser und von diesen seltsamen stummen Wesen, die er gehegt hat.

    Mitten im Schimmer der spiegelnden Wellen

    Gleitet, wie Schwäne, der wankende Kahn;

    Ach, auf der Freude sanftschimmernden Wellen

    Gleitet die Seele dahin wie der Kahn;

    Denn von dem Himmel herab auf die Wellen

    Tanzet das Abendroth rund um den Kahn.

    Ueber den Wipfeln des westlichen Haines,

    Winket uns freundlich der röthliche Schein;

    Unter den Zweigen des östlichen Haines

    Säuselt der Kalmus im röthlichen Schein;

    Freude des Himmels und Ruhe des Haines

    Athmet die Seel’ im erröthenden Schein.

    Ach, es entschwindet mit thauigem Flügel

    Mir auf den wiegenden Wellen die Zeit.

    Morgen entschwindet mit schimmerndem Flügel

    Wieder wie gestern und heute die Zeit,

    Bis ich auf höherem strahlenden Flügel

    Selber entschwinde der wechselnden Zeit.

    Wir entschwinden einmal der wechselnden Zeit und bis dahin, so hoffe ich, fährt uns ein Kahn sicher von Ufer zu Ufer. Dafür bin ich Nadja sehr dankbar, dass sie mir die Welt der Musik erschlossen hat. Musik war Teil unserer Gespräche und mein Unterricht begann damit, dass wir gemeinsam ein russisches Gedicht gelesen haben. Ich – ohne ein Wort davon

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