Todesschreie an der Waisenhausmauer: Die spektakulärsten Kriminalfälle der DDR 1950–1973
Von Bernd Kaufholz
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Bernd Kaufholz
Bernd Kaufholz, geb. 1952 in Magdeburg, studierte Maschinenbau und später Journalistik. Seit 1976 ist er Reporter bei der „Volksstimme“ in Magdeburg und ab 1993 als Chefreporter in vielen Kriegs- und Krisengebieten der Welt unterwegs. Seine Bücher trugen ihm den Titel „Ehrenkommissar des Landes Sachsen-Anhalt“ (2002) und eine Beförderung zum „Oberkommissar ehrenhalber“ (2011) ein. Kaufholz lebt im Jerichower Land.
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Buchvorschau
Todesschreie an der Waisenhausmauer - Bernd Kaufholz
Mord für ein paar Stiegen Obst
Es sollte ein schöner Abend werden. So hatten es sich Emma Hoppenz und ihr Bekannter August H. jedenfalls vorgenommen. Der Spätsommer ist an diesem 2. September 1950 noch einmal warm und der Weg nahe einem Obstgarten in Gernrode ideal, um den Tag friedlich ausklingen zu lassen.
Völlig unerwartet peitschen plötzlich Schüsse. August H. sieht noch den ungläubigen Blick in den Augen seiner Partnerin, dann stürzt Emma Hoppenz zu Boden. Instinktiv wirft sich H. neben die Sterbende. Das rettet ihm wahrscheinlich das Leben. Denn die nächsten Schüsse, die ihm gelten, gehen über seinen Kopf hinweg.
Kaum 24 Stunden später kontrollieren Nachtwächter Erfurt und sein Kollege in Westerhausen bei Blankenburg eine Plantage. Dabei erwischen sie zwei Männer. Die Apfeldiebe greifen sofort zu den Waffen und schießen auf die Wächter. Erfurt wird von einem Explosivgeschoss der Oberschenkel zerfetzt. Er verblutet. Der zweite Wachmann kann fliehen. Für ein paar Stiegen Obst wurden Diebe zu Mördern.
Die beiden gehören zu einer Bande, die seit 1948 Harz und Vorharz unsicher macht. Auf ihr Konto gehen unzählige Einbrüche, acht Raubüberfälle, vier Mordversuche und die zwei Morde im September 1950. Die Verbrecher nehmen in den Landkreisen Wernigerode, Quedlinburg und Sangerhausen alles mit, was man nur irgendwie zu Geld machen kann: Fahrräder, Autos, Lastkraft- und Ackerwagen, einen 18 Zentner schweren Bullen, Kühe, Schweine, Ziegen und Nahrungsmittel. Wehe demjenigen, der die Bande beim Stehlen ertappt. Wer Glück hat, kommt mit Knüppelschlägen davon.
Hier wohnten Ende der 1940er-Jahre die Körner-Brüder. Das Gehöft in Döben bei Schönebeck wurde inzwischen saniert.
Die Kripo in Quedlinburg schafft es gar nicht mehr, die Anzeigen zu bearbeiten, von einem Ermittlungserfolg ganz zu schweigen. Die Wahlen stehen in der DDR bevor, und die Polizei des Kreises gerät immer mehr unter Druck. Die Volkspolizei-Landesbehörde Sachsen-Anhalts bildet eine Einsatzgruppe. Ihr Kern ist die Mordkommission. Chef der Sonderermittler wird der Leiter des Dezernats B, VP-Kommandeur Müller.
Zuerst werden die Spuren beider Mord-Tatorte ausgewertet. Die sichergestellten Patronenhülsen gehören zu einem deutschen Karabiner 98 und einer FN-Pistole belgischen Fabrikats.
Müller weist als Nächstes an, alle Wohnungen im Aktionsradius der Bande zu durchsuchen. Besonders gründlich werden mutmaßliche Wilderer und Leute, die verdächtigt werden, illegal Waffen zu besitzen, unter die Lupe genommen. Dabei werden zig schwarze Waffen beschlagnahmt und untersucht, viele Strafverfahren werden eingeleitet, aber auf die Mordwaffen stoßen die Ermittler nicht.
Obwohl die Sonderermittler beinahe 24 Stunden am Tag arbeiten, kommen sie nicht weiter. Es gibt keine heiße Spur. Die zuständige Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungsverfahren vorläufig ein. Die Untersuchung der eingezogenen Pistolen und Gewehre geht auf Anweisung der Landeskriminalpolizei allerdings weiter. Die Waffen werden zu Vergleichszwecken an die kriminaltechnische Untersuchungsstelle nach Halle geschickt. Doch vorerst können auch die Waffenexperten keinen Erfolg verbuchen, und selbst die größten Optimisten beginnen bereits zu resignieren.
Doch dann kommt der kaum noch erwartete Durchbruch. Nach 13 Monaten stoßen die Kriminaltechniker auf eine Pistole des Typs FN. Schussproben ergeben: Es ist die Waffe, mit der Emma Hoppenz am 2. September 1950 in Gernrode erschossen wurde. Die belgische FN war bei der Durchsuchung eines Bauernhofes in Döben bei Schönebeck sichergestellt worden. Das Gehöft gehört den Brüdern Walter und Willi Körner.
Die Kripo beißt sich in dieser vielversprechenden Spur fest. Denn die Döbener sind keine Unbekannten für die Polizei. Beide werden schon seit einiger Zeit verdächtigt, ihre Finger in Viehdiebstählen zu haben. Die neben der belgischen Pistole beschlagnahmten Bolzenschussgeräte und Schlachterwerkzeuge untermauern diesen Verdacht. Die Kripo greift zu. Walter Körner kommt in Untersuchungshaft. Doch Willi gelingt es, vor seiner Verhaftung zu fliehen.
Nun wird die Mordkommission in Halle aufgestockt. Sie nimmt die Ermittlungen wieder in die Hand. Der Einsatzleiter, ein VP-Oberkommissar, schreibt später: „Die vordringlichste Aufgabe bestand in der Ergreifung des flüchtigen und vermutlich bewaffneten Verbrechers Willi Körner und der Herstellung des Zusammenhanges zu weiteren, noch nicht aufgeklärten Verbrechen, insbesondere in den Kreisen Quedlinburg und Schönebeck."
Doch sowohl Walter Körner als auch seine Ehefrau und die Frau des Flüchtigen leugnen hartnäckig. Walter Körner schiebt alles seinem Bruder Willi in die Schuhe. Dass die Untersuchungen nicht vorankommen, liegt auch daran, dass es eine undichte Stelle beim Volkspolizeikreisamt Quedlinburg gibt; ein Verwandter der Körner-Brüder arbeitet dort als Kraftfahrer. Er kennt immer den neuesten Ermittlungsstand und weiß, was die Kripo plant. So lässt er die Schuhe neu besohlen, die einer der Brüder trug und von denen es einen Tatort-Gipsabdruck gibt. Die Fahrräder, die die Körners benutzten, werden zerlegt und die Einzelteile verscherbelt. Auch den Karabiner lässt er verschwinden. Bis Ende November 1951 kann der VP-Kraftfahrer seine Verschleierungstaktik anwenden, dann fliegt sein Verrat auf. Gegen ihn wird Haftbefehl erlassen. Insgesamt werden elf Bandenmitglieder ermittelt, zehn werden verhaftet. Nur Willi Körner ist noch auf der Flucht. Doch die Polizei vermutet, dass dessen Ehefrau nach wie vor Kontakt mit ihm hat. Sie wird deshalb überwacht. Bei einer Wohnungsdurchsuchung finden die Kriminalisten auf einem Abstellbord dann auch einen noch feuchten Rasierpinsel. Das Haus wird observiert, doch Willi Körner lässt sich nicht sehen. Die Kripo verhaftet daraufhin die Ehefrau. Nach einem stundenlangen Verhör verrät sie, dass sich Willi Körner bei einem Bauern in Breitenstein versteckt hat.
Ein 14-köpfige Festnahmegruppe stürmt in einer regnerischen Novembernacht das Anwesen. Es kommt zum Schusswechsel. Körner springt aus einem Giebelfenster in vier Metern Höhe. Dabei feuert er weiter und trifft einen Polizisten in den Oberschenkel. Er versucht, freies Gelände zu erreichen, und läuft genau in die Arme der VP-Posten, die dort absperren. Körner versucht auch dort wieder, sich den Weg freizuschießen. Dabei wird er selbst von einer Kugel getroffen. Er bricht tot zusammen.
Am 24. November 1952 beginnt die Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht Halle. Es geht um zwei Morde, drei Mordversuche, acht Raubüberfälle und rund 150 Diebstähle. Die Anklageschrift des Oberstaatsanwaltes umfasst 388 Blatt, einen 71 Seiten langen Schlussbericht sowie fünf Aktenbände mit Anlagen. Am 27. November wird der Hauptangeklagte Walter Körner zweimal zum Tode, zu 15 Jahren Zuchthaus und Ehrenverlust auf Lebzeiten verurteilt. Das Vermögen der Körners wird eingezogen.
Der Knochenfund in Fermersleben
„Bei Bauarbeiten in der Straße Alt Fermersleben wurden am 30.05.00 um 8.50 Uhr menschliche Gebeine gefunden. Es handelt sich wahrscheinlich um zwei Oberschenkel-, zwei Arm- und einen Zehknochen sowie um einen Teil des Schädeldachs." Hinter dieser sachlichen Polizeimeldung könnte sich ein Vermisstenfall aus der Mitte der 1950er-Jahre verbergen.
Der Rosenmontag des Jahres 1955 ist bitterkalt. Das Quecksilber steht auf minus 21 Grad. Die Magdeburger quälen sich seit Tagen durch eine meterhohe Schneedecke.
In Fermersleben, unten am Elbweg, wo die Prellbergs unweit der alten Fähre Michaelis in einem an Land gezogenen Kettendampfer wohnen, verabschiedet sich Sohn Klaus-Werner abends von seiner Mutter. Der 19-Jährige hat extra mit einem Kollegen aus der Gießerei den Dienst getauscht, um Rosenmontag im „Schwarzen Adler" in Buckau zu feiern.
Ilse Prellberg ruft aus dem Bullauge ihrer Wohnung dem jungen Mann nach: „Willst du wirklich gehen – bei dem Nebel? Klaus-Werner ist schon fast in der milchigen Suppe verschwunden, als er antwortet: „Wir haben um einen Kasten Bier gewettet.
„Das waren die letzten Worte, die ich von Klaus gehört habe", erinnert sich Ilse Aschenberg (zuvor Prellberg) in ihrer Magdeburger Zehngeschosserwohnung. Im Büfett steht das gerahmte Foto des jungen Mannes. Das Einzige, was der heute 87-Jährigen außer den Erinnerungen von ihm geblieben ist.
„Als ich am nächsten Morgen von der Nachtschicht kam, habe ich überall herumgehorcht, wo Klaus sein kann. Dann bin ich zur Polizei, erzählt die Rentnerin. „Doch da haben sie die ganze Sache nicht ernst genommen. ‚Wer weiß, unter welchem Rock der steckt‘, haben sie gesagt.
Ilse Aschenberg glaubt nicht, dass sich die Polizei große Mühe gegeben hat. „‚Der ist bestimmt ertrunken oder in den Westen abgehauen‘, wurde mir in der Dienststelle Am Buckauer Tor gesagt. Sie habe zwar gehört, dass zwei Brüder mal in Verdacht geraten sein sollen, etwas mit dem Verschwinden ihres Sohnes zu tun zu haben. „Aber richtig gesagt, hat mir keiner was.
Die Jahre vergingen und immer wieder mal hatte die verzweifelte Frau einen Funken Hoffnung, etwas über ihren Sohn zu erfahren. „Einmal wurden am Kettendampfer Knochen gefunden, sagt sie. „Doch durch die Blechmarke wurde schnell geklärt, dass es ein toter Soldat ist.
Ilse Aschenberg ließ nichts unversucht, um Licht in das Verschwinden des jungen Mannes zu bringen. Selbst an Walter Ulbricht schrieb sie. „Der DDR-Generalstaatsanwalt in Berlin hat mir nur geantwortet, dass der Fall bei der Magdeburger Polizei in guten Händen liegt. Der Suchdienst vom Roten Kreuz fühlte sich ‚nicht zuständig‘, und auch ein Brief ans Komitee vom Roten Kreuz in Genf war umsonst."
1965 bekam sie dann noch einmal Besuch eines Kriminalisten. Der wollte, wie er sagte, „den Fall wieder aufrollen. „Aber ich habe nie wieder etwas von ihm gehört
, winkt die alte Frau ab.
Die Gerüchteküche kochte. Schließlich war die Familie des Magdeburger Urgesteins Paul Michaelis bekannt in der Bezirksstadt. „Klaus ist politischer Häftling, flüsterte der eine, „Weihnachten ist dein Junge wieder zu Haus
, ein anderer. Dass der Vermisste in Coswig im Gefängnis sitzt, wollte ein Dritter ganz genau wissen. „Aber schon im Zug dorthin hat man mir erzählt, dass das Gefängnis in Coswig gar nicht mehr in Betrieb ist", erzählt Ilse Aschenberg.
Nach der Wende ging die Rentnerin erneut zur Polizei. Doch dort machte man ihr keine großen Hoffnungen. Die Akten sind